Die sogenannte Ampelkoalition hat nicht einmal drei Jahre gehalten, vom 8. Dezember 2021 bis 6. November 2024. Angela Merkels Koalitionsregierungen hielten jeweils die gesamte Legislaturperiode, sie war vom 22. November 2005 bis 8. Dezember 2021 Bundeskanzlerin. 2005 löste sie eine Koalition unter Gerhard Schröder ab, die wie die jüngste nur rund drei Jahre überdauert hatte.
Regierungsstabilität muss man können, zumal die sechzehn Jahre von A. Merkel durch aufeinanderfolgende Krisen gekennzeichnet waren, die sie und ihre Regierung nicht verursacht hatten, aber erfolgreich bekämpften. Sechzehn Jahre sind eine durchaus lange Zeit, A. Merkel wurde vier Mal demokratisch gewählt – es gab keine Kaperung der Medien wie in Ungarn unter Orbán und anderswo, keine Aushöhlung des Rechtsstaats, um die eigene Macht möglichst lange nicht abgeben zu müssen, kein Türenknallen gegenüber schwierigen ‚Partnern‘ in der Politik, kein Aufgeben gegenüber Autokraten und Diktatoren.
Zusammen mit Beate Baumann, ihrer engsten Mitarbeiterin nicht nur während der sechzehn Jahre Kanzlerinnenschaft, sondern schon vorher, hat Angela Merkel ihre Erinnerungen geschrieben. Beate Baumann ist als Ko-Autorin auf dem Titelblatt vermerkt, was, wie sich beim Lesen schnell herausstellt, eine Linie vorgibt: Es sind keine egozentrischen Erinnerungen, in denen kein Platz für die Verdienste und Leistungen Anderer wäre, im Gegenteil.
Das Buch beginnt mit der Geburt in Hamburg, aber Kindheit, Jugend, Studium und erste Berufsstellung als Wissenschaftlerin spielten sich in der DDR ab, da Merkels Vater dort eine Pastorenstelle angenommen hatte. Im medialen Diskurs über Ostdeutschland haben sich längst Stereotype eingenistet. Wer diese einmal hinter sich lassen möchte, hat einen guten Grund, dieses Buch zu lesen, da es zum Leben in der DDR und seit 1990 die Differenzierungen bietet, deren man sich bewusst sein sollte, wenn man über die DDR und die Zeit seit 1989/1990 spricht.
Die Erinnerungen machen deutlich, wie wichtig diese Herkunftsgeschichte und ihre Fortsetzung in einem demokratischen Land, das Freiheit garantiert, für A. Merkel geblieben ist. Es gibt immer wieder Medienzitate, die kontextualisiert, aber nicht weiter kommentiert werden – umso deutlicher tritt deren gelegentliche Gehässigkeit zutage, wie in einem Artikel in der „Welt am Sonntag“ ungefähr ein Jahr vor dem Ende der vierten Amtszeit: „Da blitzte einen Moment lang durch, dass sie [= Angela Merkel; Anm. W.S.] keine geborene, sondern eine angelernte Bundesdeutsche und Europäerin ist.“ (zitiert S. 520) Gehässiger und unzutreffender geht es kaum.
„Ich wurde nicht als Kanzlerin geboren“, sagte A. Merkel in einem Werbespot zur Bundestagswahl 27.9.2009 (zitiert S. 117), aber das Buch lässt nachvollziehen, wie sie es wurde. Sie war alles andere als eine in einer Partei hochgediente Berufspolitikerin, entscheidend waren menschliche Eigenschaften, Neugierde, methodisches Vorgehen (was man in der Wissenschaft lernt), ein Ruhen in sich selbst, die Bereitschaft, persönliche Risiken einzugehen und aus jedem Fehler zu lernen, was damit beginnt, vor sich selber zuzugeben, dass man Fehler macht und dazulernen muss. Politiker*innen müssen meistens, wenn sie Fehler gemacht haben, das Daraus-Lernen öffentlich vollziehen, was nicht selten in ein mediales Spießrutenlaufen ausartet. Merkel gibt davon etliche Beispiele, die den meisten Leser*innen sicher noch gut in Erinnerung sind. Merkel enthält sich der Kritik an medialen Reaktionen, sie stellt dar, was sie in diesen Augenblicken empfand und wie sie mit der Situation umging.
Merkel stellt sich niemals als Politikerin dar, die nur ihrer Nase folgen musste, um das Richtige zu tun. Die Entscheidungskonflikte werden greifbar – und dass Politiker*innen in Demokratien wie Du und Ich fühlende Menschen sind. Merkel schildert einige der insgesamt unzähligen Kennenlernprozesse anderer Politiker*innen; wie sie versuchte, ihre Kenntnis der Gegenüber zu vertiefen, Brücken zu bauen, über die in Krisenlagen, wo schnelle Entscheidungen gefordert waren, gegangen werden konnte. Die Covid-19-Pandemie verhinderte dann persönliche Begegnungen, die Besprechungen per Videokonferenz am Bildschirm eben nicht ersetzen können. Dass das in der Politik im Innern wie international ein nachhaltiges Manko war (und ist), erhellt sich aus den Seiten zu dieser Pandemiezeit.
Das Buch lässt die gesamte deutsche Nachkriegsgeschichte bis 2021 und durch einige auf die Aktualität bezogene Absätze bis 2024 autobiografisch aufleben. Seit 1989/90 war A. Merkel praktisch in alle historisch wichtigen Situationen involviert, die Deutschland betrafen. Sie erzählt dies nüchtern und ohne Schnörkel, aber so präzise und konzis, dass es oft spannend wie ein Thriller zu lesen ist. Nur, dass es darum ging, reale Bedrohungen von der Finanz- und Eurokrise bis zur sogenannten Flüchtlingskrise zu bewältigen und eine imperiale Kriegsmacht, die Russländische Föderation unter Putin, einzudämmen.
Das Jahr 2015 mit den vielen Flüchtlingen war auch in den Augen von A. Merkel einschneidend und hat ihre Kanzlerinnenschaft verändert. Es war vor allem menschlich eine außergewöhnliche Situation, es handelte sich um eine „Beschleunigung der Gegenwartsgeschichte“. Menschlichkeit zur Grundlage politischer Entscheidungen zu machen, so lehren die Reaktionen auf die Entscheidung vom 4.9.2015, die Flüchtlinge, die in sehr großer Zahl über Ungarn und Österreich kamen, nach Deutschland hinein zu lassen, ist für viele nicht akzeptabel. Wie tief das verankert ist, zeigen die Reaktionen in Deutschland und anderen europäischen Ländern auf den Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad Anfang Dezember 2024: Sofort hieß es aus der Politik (Regierung und Opposition): Bearbeitung der Asylanträge aus Syrien aussetzen, Abschieben, Rückführen, zur Beschleunigung ein Handgeld. Der Mensch wird nicht gesehen, eine Gefühlskälte, die erschreckend ist.
Umso bedeutender war die Entscheidung der Bundeskanzlerin, es war und ist ein Lehrstück, was mit Menschlichkeit in der Politik geschafft werden kann. Und es wurde geschafft. Dass Merkel der Satz „wir schaffen das“ bis heute vorgehalten wird, ist symptomatisch für die BRD, die immer mehr die Eigenschaften eines „Loosers“ aufweist. Das sagt Merkel nicht und deutet das auch nicht an, das ist meine eigene Meinung, die ich hier äußere. Auszunehmen sind die bis heute vielen Menschen, die sich um Flüchtlinge kümmern und den Sinn für Menschlichkeit bewahrt haben.
Die CDU, und noch mehr die CSU, hatte ihre Schwierigkeiten mit A. Merkel. Und sie mit dieser Partei, auch wenn sie am Schluss des Buches eine Lanze für die CDU bricht. No Na, würde man sagen wollen, schließlich war sie deren oftmals wiedergewählte Vorsitzende, aber sie war in vielem der Partei voraus – was Parteivorsitzende ja eigentlich sein sollten, aber selten sind… – und dachte ‚moderner‘. Merkel hält sich bei ihren Schilderungen einfach an die nüchternen Fakten. Das reicht, um diese Partei in ihrer zeitweiligen Jämmerlichkeit (meine Wertung, nicht Merkels) erscheinen zu lassen.
Entgegen den klischeehaften Bewertungen, die deutsche Medien schon am Tag des Erscheinens des Buches parat hielten, sind diese Erinnerungen ein kritisches Werk. Man muss sie halt genau und vollständig lesen. Wo, wie in meinem Fall, die Lebenszeiten altersmäßig parallel – seit Mitte der 1950er Jahre – abliefen, bedeutet das Buch, den längsten Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte noch einmal zu durchleben – eingebettet in den autobiografischen Blick A. Merkels und jederzeit mit dem eigenen Erleben konfrontierbar.