Einleitung
[1] So vieles, das die Zukunft betrifft, wüssten wir so gerne! Was bringt die Zukunft in Sachen Terrorismus und politischem Extremismus? Wohin driftet der Nahe Osten? Hat die EU eine Zukunft? Kehrt Russland unter Putin endgültig zum Zarismus zurück? Zerschlägt Trump die nach dem Zweiten Weltkrieg gewachsene internationale Ordnung? Werden die europäischen Demokratien halten oder zunehmend zu autoritären Systemen umfunktioniert wie im Ungarn des V. Orbán? Geht die Epoche der Freiheit und der Menschenrechte zu Ende? Ist das „Ende der Geschichte“ nicht die Demokratie, sondern die Autokratie? Werden das „Netz der Dinge“, „künstliche Intelligenz“ und Roboter uns Menschen marginalisieren oder gar entmenschlichen?
[2] Zu all den angesprochenen Aspekten und vielen hier nicht genannten mehr sind unschwer Prognosen zu finden. Vieles davon im öffentlichen Diskurs mutet eher wie Kaffeesatzleserei an, denn streng wissenschaftliche Prognoseverfahren sind nach wie vor in erster Linie eine wirtschaftswissenschaftliche bzw. im Kern mathematische (Wahrscheinlichkeitsberechnungen) Methode der Zukunftserfassung. Schon Wahlvorhersagen sind trotz ihrer wissenschaftlichen Methodik unzuverlässiger als ökonomische Prognosen, die zwar regelmäßig geprüft und korrigiert werden, aber in der grundsätzlichen Tendenz, die sie vorhersagen, selten völlig daneben liegen. Wohin sich Staaten, Gesellschaften, Kulturen etc. entwickeln, ist schwer zu prognostizieren und nicht zu berechnen.
Zukunftsforschung
[3] Gleichwohl gibt es eine umfassende Zukunftsforschung, die sich aus mehreren Wissenschaften zusammensetzt, unter denen sich auch Humanwissenschaften befinden. Das in Frankfurt und Wien ansässige „zukunftsInstitut“ nennt in alphabetischer Reihenfolge mehrere Wissenschaftszweige als Teil von „Zukunftsforschung“: Probabilistik, Systemtheorie, Spieltheorie, Erweiterte Evolutionstheorie, Evolutionäre Kulturanthropologie, Kognitionspsychologie, Kultursoziologie, Netzwerk Theorie, Universalistische Kosmologie.
[4] Geschichtswissenschaft kommt in diesen Überschriften nicht vor, wird aber zur Definition der „Evolutionären Kulturanthropologie“ gebraucht: „Ein wichtiger Beitrag zur Frage, wie und wohin sich Kulturen und Zivilisationen entwickeln, ist die Komplexitätsorientierte (oder ganzheitliche) Geschichtswissenschaft, wie sie von Daniel Landes, Jared Diamond, Fernand Braudel, Castells und Steve Olson vertreten wird. Hier geht es um eine multifaktorielle Betrachtung sozialer, ökonomischer und historischer Faktoren im Kontext historischer Adaptions- und Selektionsprozesse.“
Geschichtswissenschaftliche Prognostik
[5] HistorikerInnen stehen im Allgemeinen einer geschichtswissenschaftlichen Prognostik reserviert gegenüber. Das Argument, dass man es mit der Vergangenheit zu tun habe, deren Erforschung gewiss etwas zur Erklärung der Gegenwart beitragen könne, aber keine Zukunftsprognose begründen könne, ist verbreitet, aber stellt nicht zwangsläufig den Haupteinwand dar.
[6] Die Geschichtswissenschaft weiß zu sehr – das bringt die Erforschung der Vergangenheit halt mit sich – um die Relativität von Allem. Daher erforscht sie unter anderem die Geschichte der Befassung mit der Zukunft, wie sie frühere Generationen und Gesellschaften praktiziert haben (z.B. Lucian Hölscher et al.). Diese Befassung ändert sich fortlaufend, so dass dem Historiker mindestens der Glaube fehlt, dass die heutigen Prognosemethoden einen langsameren Zerfallswert haben als frühere.
[7] Geschichtswissenschaft als prognostische Wissenschaft spielte im historischen Materialismus eine Rolle, überhaupt scheint es naheliegend, dies mit dem Typus des teleologischen Geschichtsverständnisses – christliche Heilsgeschichte; Hegel u.a. – in Zusammenhang zu bringen.
Kategorie der ‚longue durée‘
[8] Die aktuelle Geschichtswissenschaft hat sich inzwischen wieder vom Strukturalismus und der Systemtheorie entfernt. Man könnte auch sagen, sie hat diese beiden theoretischen Zugänge durch einen soften, den der longue durée (Fernand Braudel), ersetzt. Interessanterweise hat sich „courte durée“, das es im Französischen natürlich gibt, nicht als geschichtswissenschaftlicher Gegenbegriff etabliert, vermutlich, weil die damit adressierbaren historischen Phänomene Aufstände, Revolten und Revolutionen sind, für die es die eigenen historischen Begriffe gibt. Zudem spielt der „Zufall“ (Kontingenz) eine ebenso große Rolle wie der „Eigensinn“ von Menschen, sozialen Gruppen usw., beides Phänomene, die sich per definitionem einer Prognostik entziehen.
[9] Die longue durée spielt darauf an, dass sich historische Phänomene oftmals nur sehr langsam und allmählich wandeln und, dies wird gewissermaßen implizit mitgesagt, häufiger auftreten als Phänomene kurzer Dauer. Die Rede von der longue durée beinhaltet die Grundannahme, dass die Geschichtsmächtigkeit dieser Phänomene höher ist als die von kurzer Dauer. Ein plötzliches Ereignis wäre für sich genommen ein Phänomen der courte durée, stünde aber unter Umständen am Beginn eines Phänomens der Kategorie longue durée. Als Beispiel passt hierzu „Merkels 4. September 2015“, das ich in einem früheren Blogeintrag untersucht habe.
Kategorie des Wandels
[10] Geschichtswissenschaft hat es mit dem Wandel zu tun. Wandel kann vieles bedeuten: Veränderung, Modifikation, Entwicklung, Transformation. Er kann sehr, sehr langsam, sehr langsam, langsam, schnell etc. sein (man könnte die Tempi-Angaben in einer Partitur anwenden). Er kann umfassend (eine ganze Gesellschaft, eine ganze Zivilisation, eine ganze Epoche, global) sein, er kann sich auch auf nur ein historisches Individuum beziehen.
[11] Die Kategorie des Wandels ist so mächtig, dass der Drang, Revolutionen sozusagen ex post vorherzusagen, enorm groß ist. Paradigmatisch wurde das 1933 von Daniel Mornet veröffentlichte Buch über die „Les Origines intellectuelles de la Révolution française 1715-1787“. Dass eine große Revolution in Frankreich kommen werde, findet sich als Gedanke schon Jahrzehnte vorher. Dutzende von ForscherInnen haben seitdem die langfristigen Ursachen und Ursprünge von Revolutionen erforscht und diese somit zu einem Element von Phänomenen der longue durée gemacht. Den Umbruch und das Ende der DDR arbeiteten Rainer Land und Ralf Possekel 1994 in einem sehr schönen Buch auf: „Namenlose Stimmen waren uns voraus. Politische Diskurse von Intellektuellen aus der DDR“. Und so ließen sich viele weitere nennen.
[12] Im Grunde erweist sich die Definition des „zukunftsInstituts“ unter der Überschrift „Evolutionäre Kulturanthropologie“ als gute Zusammenfassung dieses geschichtswissenschaftlichen Charakteristikums namens longue durée: „Komplexitätsorientierte (oder ganzheitliche) Geschichtswissenschaft“: „Hier geht es um eine multifaktorielle Betrachtung sozialer, ökonomischer und historischer Faktoren im Kontext historischer Adaptions- und Selektionsprozesse.“
[13] Das lässt sich als Beschreibung dessen, was eine geschichtswissenschaftliche Prognostik kann und macht, gut verwenden. Die Geschichtswissenschaft bietet einen großen Vorrat an Analysen an, die sich mit dem Verhältnis von longue-durée-Phänomenen und (scheinbar) plötzlichen Einbrüchen wie Revolutionen, bestimmten Ereignissen und individuellen Entscheidungen (eines Herrschers z.B.) befassen. Wie plötzlich und unvorhersehbar ist das scheinbar Plötzliche? Oder ist in Wirklichkeit das Meiste vorhersehbar, wenn denn nur genau genug analysiert wird? Wenn man in der Lage ist, die richtigen Fragen zu stellen? Auf Letzteres kommt es ganz besonders an.
Auf dem Weg zu einem geschichtswissenschaftlich-prognostischen Analyse-Setting
[14] Die Kategorie der longue durée meint nicht zwangsläufig dasselbe wie „Trend“ und „Muster“, zwei Kategorien, die in der Gegenwart nicht nur, aber auch auf der Grundlage von „Big Data“ eine zentrale Rolle spielen. Andererseits ist „Trend“, vor allem, wenn es um langfristige Trends geht, mit longue durée sehr kompatibel. Dasselbe gilt für „Muster“ – Verhaltensmuster oder z. B. „Kulturmuster“.
[15] Die Grundlage einer „multifaktoriellen Betrachtung“ besteht folglich in einer Kombination von in der Geschichtswissenschaft erprobten Analyse-Settings: Relationalität von longue durée und antonymen Situationen (Plötzlichkeit, courte durée, Revolution etc.) + Ausmaß und Geschwindigkeit von Wandel + Relationalität von Kontingenz und Eigensinn einerseits und strukturelle Beharrlichkeit, Netzwerk, Hypertext, Muster, Trend u. ä. andererseits. Die Listen können jeweils um Kategorien erweitert werden. Eine „geschichtswissenschaftliche Prognostik“ führt auf dieser analytischen Grundlage die multifaktorielle Betrachtung durch.
Beispiel „Zukunft der Europäischen Identität“
[16] In meinem Buch „Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität“ bin ich im Prinzip so vorgegangen. Ich habe dabei versucht, im Ergebnis des genannten Analysesettings, „nicht hintergehbare Rahmenbedingungen“ zu ermitteln, die mitbestimmen, was „Europäische Identität“ ist bzw. sein wird, und was sie nicht ist und nicht sein wird. Ich habe das in einer Tabelle zusammengefasst (S. 182 im Buch):
[17] Das Buch befasst sich in erster Linie mit europäischer Identität als kollektiver Identität. Für eine „europäische Identität“ bedarf es der Existenz eines „europäischen Kollektivs“. Lässt sich das historisch überhaupt nachweisen, und wenn ja, seit wann? Eine kollektive Identität Eine kollektive Identität lässt sich in einer Art Emblem visualisieren; gibt es das nicht, gibt es diese kollektive Identität nicht. Jede Zeit hat ihren Denkrahmen, über den sie nicht hinauskommt und hinter den sie nicht mehr zurück kann. Jede Zeit hat ihren Zeitbegriff, an dem sie nicht vorbeikommt, jede Zeit hat einen allerletzten Bezug, der nicht weiter hintergehbar ist. Diese sechs Parameter selber sind ein Phänomen der très longue durée, aber ihre Semantik ändert sich.
[18] Wenn man analysieren kann, wie sich kollektive europäische Identität im Lauf der Jahrhunderte verändert hat, kann man prognostizieren, dass sie nicht der aktuellen Krise Europas zum Opfer fallen wird. Sie ist – immer – mit der Zeit gegangen. Das schließt Phasen der Regression nicht aus, diese lassen sich aber als vorrübergehend vorhersagen.
[19] Die geschichtswissenschaftliche Prognostik kann für sich in Anspruch nehmen, sagen zu können, was sich nicht so schnell fundamental ändern wird. Sie kann das natürlich nur, wenn sie die Gegenwart genauso umfassend in die Analyse einbezieht wie die Vergangenheit. Und sie muss tatsächlich beides tun. Spezialisierte ZeithistorikerInnen sind dabei im Nachteil, während NeuzeithistorikerInnen, die sich mit den letzten 500/600 Jahren befassen, im Vorteil sind.
[20] Für viele, auch in den USA selber, war Trumps Wahl unerwartet, erst recht in Europa, wo man diesen Mann in den ganzen Jahren, in denen er sich politisch-populistisch in den USA schon betätigte, nicht auf dem Bildschirm hatte. Man muss frühzeitig genau hinschauen und sich die Mühe multifaktorieller Analysen machen. Auch das Brexit-Votum kam unerwartet, es ist eindeutig, dass nur ungenau hingeschaut wurde. Man kann hier einen Reformbedarf in Bezug auch auf die Geschichtswissenschaft sehen: Sie muss mehr umfassendes Sammeln tagesaktueller Informationen mit den gewohnten geschichtlichen Analysen verbinden und sich bewusst und selbstgewählt mehr als bisher als prognostische Wissenschaft verstehen.
Dokumentation:
Marian Nebelin: Die Geschichtswissenschaften und die Kunst der Prognose
zukunftsInstitut: Grundlagen der Zukunftsforschung
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Geschichtswissenschaftliche Prognostik und Zukunftsforschung. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/ geschichtswissenschaftliche-prognostik-und-zukunftsforschung, Eintrag 26.11.2017 [Absatz Nr.].