[1] Die Rede von den „christlichen Wurzeln Europas“ ist allgemein bekannt und weit verbreitet. Meist wird von den jüdischen und christlichen, manchmal auch jüdisch-christlichen, von den griechischen und den römischen Wurzeln gemeinsam gesprochen. In der Regel steht dahinter ein positiver Bezug, der allerdings die tatsächliche Ambivalenz dieser Redeweise verbirgt.
[2] Philippe Buc macht sich in seinem neuen Buch über „Christianity, Violence, and the West“ [s.u. Dokumentation] den Begriff der Wurzel nicht zu eigen. Seine Analysen drehen sich um Verhaltensweisen, Interpretationen, Rhetoriken etc., im Grunde um Denkmuster (kein Buc’scher Begriff), die im Christentum entwickelt wurden und die bis heute in die „post-christliche“ Gegenwart hineinwirken.
[3] Unter dem „Westen“ versteht Buc das Christentum der katholischen Kirche bzw. der Protestantismen, die sich seit dem 14./15. Jahrhundert im (geografischen) Raum der katholischen Kirche entwickelten. Das schließt Nordamerika (USA) ein, die orthodoxen Kirchen hingegen aus.
[4] Sein großes Thema ist die Beziehung zwischen Christentum und Gewalt, für die die Schlüsselworte des Haupttitels des Buches – ich habe oben bewusst zuerst den Untertitel zitiert – stehen: Holy War, Martyrdom, Terror. Mit dieser Themenwahl distanziert sich Philippe Buc mindestens implizit von der einseitigen Bevorzugung (vermeintlich) positiver christlicher Grundlagen wie sie etwa die europäischen christdemokratischen Parteien meinen.
[5] Es geht ihm aber nicht um eine Verurteilung des Christentums und dessen Wirkungen, sondern um die wissenschaftliche Analyse dessen, was war und weiterwirkt. Sein Schlussabsatz kann genauso gut am Beginn des Buches stehen: „In the future of this Western past, therefore, martyrdom, terror, and holy war are likely to occur and likely to surprise both observers and agents. As long as the West is culturally post-Christian, fights to the death and deaths for the cause will suddenly erupt, at unexpected times and in unexpected places.” [295]
[6] Das bedeutet, dass man derzeit nicht nur auf islamistische Gewalt und Terror blicken sollte, sondern auch die westliche post-christliche Kultur in Beobachtung halten muss. „Post-christlich“ ist eine analoge Wortbildung zu post-kolonial, meint also nicht die Zeit nach einem Ende des Christentums – so wie post-kolonial oft fälschlicherweise als Zeit nach Überwindung des Kolonialismus missverstanden wird –, sondern „a zone in which, while religious institutions and beliefs no longer seem to organize culture, the inheritance of these institutions and beliefs still shapes culture substantially.“ [1] Dies ist eine treffende Formulierung, die besser als der Begriff „Wurzel“ bezeichnet, worum es geht.
[7] Philippe Buc verwebt bestimmte Makrophasen, die er genauer untersucht: Den ‚Jüdischen Krieg‘ (66-73 n. Chr.), die Kreuzzüge, die Reformationen, die Französische Revolution, den amerikanischen Bürgerkrieg, Terrorgruppen wie die Baader-Meinhof-Bande und andere im 20. Jahrhundert, die in ‚gut‘ amerikanischer Tradition religiöse Rhetorik George W. Bush’s nach 9/11 und zum zweiten Irakkrieg und vieles mehr.
[8] Es handelt sich nicht einfach um Kontinuitäten bei der Begründung von Gewalt, sondern um Transpositionen in immer neue Zusammenhänge wie etwa in der Französischen Revolution. Etliche auch heute noch allenthalben benutzte und vertraute Gegensatzpaare wie „neu versus alt“, „Krieg versus Frieden“, „Auserwähltheit versus Universalismus“, „Zwang versus Freiheit“ stammen aus den christlichen Begründungen des Gewaltgebrauchs. Schlüsselworte wie „Regeneration“, „Reinigung“ etc. durch Gewalt und Krieg kommen daher und sind uns in ihrem aktuellen Gebrauch im Sinne der Buc’schen „inheritance“ bewusst.
[9] Jedoch: Ist Christentum als Ursache dieser Denk- und Verhaltensmuster nicht hintergehbar oder doch hintergehbar? Diese entwickeln sich im Zusammenhang der in der Gesellschaft dominant gemachten Männlichkeit bis hin zu hegemonialer Männlichkeit und lassen sich durchaus als Instrument dieses Hegemonialisierungsprozesses verstehen.
[10] Diese Feststellung ändert nicht die tatsächlichen Analysen von Philippe Buc, sie ändert aber die Schlussfolgerungen: Der Schlüssel liegt in der Dehegemonialisierung der Gesellschaft in Bezug auf die Funktionen von Männlichkeit, um nicht der „inheritance“ ausgeliefert zu sein, wie Buc es ganz am Schluss andeutet.
[11] Den drei Schlüsselwörtern des Titels müsste man daher wohl ein viertes, nämlich „Männlichkeit“ (Masculinity) oder gleich „hegemoniale Männlichkeit“ hinzugefügt werden, da die kirchlichen Institutionen diese entweder wesentlich befördert haben oder im weiteren historischen Verlauf deren Instrument und Folge gewesen sind. Für die Gegenwartsanalyse wäre der Zusammenhang zwischen post-christlichem Erbe (inheritance) und hegemonialer Männlichkeit herauszuheben.
Dokumentation:
Philippe Buc: Holy War, Martyrdom, and Terror. Christianity, Violence, and the West, ca. 70 C.E. to the Iraq War. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2015. ISBN: 978-0-8122-4685-8.
Titelfoto: Rom, Petersdom in der Dämmerung, verzerrt: Die Lichter mutieren zu Fragezeichen… Foto: Wolfgang Schmale, 28.10.2004.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Grundlagen Europas: Christentum und Gewalt. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/grundlagen-europas-christentum-und-gewalt, Eintrag 03.07.2015 [Absatz Nr.].
Dieser Abstract aus Wien ist klar und fair… Jedoch zur grundlegenden Auseinandersetzung (Zitat):
„Diese [Denk- und Verhaltensmuster] entwickeln sich im Zusammenhang der in der Gesellschaft dominant gemachten Männlichkeit bis hin zu hegemonialer Männlichkeit und lassen sich durchaus als Instrument dieses Hegemonialisierungsprozesses verstehen.“
Der Vorschlag, eine vierte Dimension, Männlichkeit, einzuführen, um die Formen der Gewalt im Abendland besser im Griff zu bekommen, irritiert. Dennoch möchte ich mehr Konzeptionelles wissen, um abzustimmen oder zuzustimmen. Was bedeuten hier „Männlichkeit“ beziehungsweise „hegemoniale Männlichkeit“? Welche Beziehungen hätten die 2 zu der theologischen Grammatik, die ich in meinem Essay thematisierte? Denkt Herr Schmale an irgendeine Disziplinierung oder Formierung der Gender-Identitäten zunächst durch Kirchen und Konfessionen, und danach durch post-christliche Institutionen wie Staat, Nation, und andere Gruppen?
Der Begriff „theologische Grammatik“ ist sehr gut: Sie ist mindestens „zugleich“ auch die Grammatik der sich seit der Antike in der Gesellschaft hegemonialisierenden Männlichkeit. Meine Hypothese geht im Prinzip noch weiter: Die „theologische Grammatik“, die Philippe Buc untersucht, ist genuiner Teil der sich hegemonialisierenden Männlichkeit. Diese steht hinter dem Christentum, der Theologie.
Wir sollten näher wissen, was „hegemonialisierende Männlichkeit“ bedeutet, und wie die „hinter dem Christentum, der Theologie“ steht!
Die bestimmende Rolle von Männern in der Gesellschaft – ich meine jetzt nur ‚Europa‘ – seit der Antike versteht sich nicht von selbst. „Männlichkeit“ bedeutet eine Identitätskonstruktion bzw. im Plural -konstruktionen, die diese Stellung begründen soll/en. Hegemonial bedeutet, dass diese Rolle eine beherrschende ist, im Grunde in allen Lebensbereichen, nicht nur in der Politik oder Ökonomie. Hegemonial bedeutet auch, dass ein Modell von Männlichkeit absolut gesetzt wird, es zwingt daher nicht nur Frauen in abhängige Rollen, sondern auch Männer, die nicht dem Modell entsprechen wollen.
Wenn ich an „Geschichte Europas“ denke, sehe ich als langfristigen Prozess die Durchsetzung männlicher Hegemonie in den Gesellschaften. Dieser Prozess beginnt lange vor dem Christentum, mobilisiert aber viele Ressourcen, so auch mE dann später das Christentum. Der grundlegende Prozess in der europäischen Geschichte ist dieser. Vielleicht wird dieser Prozess seit ein paar Jahrzehnten aufgelöst und die gegenwärtigen Gesellschaften sind weniger männlich-hegemonial.