„Mein“ und „Mein Europa“ – Eine kurze semantische Geschichte
[1] Das Possessivpronomen „mein“ drückt eine enge Beziehung zwischen, einerseits, mir selber und, andererseits, einem anderen Menschen, einem Objekt (auch: Ding, Sache, Gegenstand) oder einem immateriellen Gut wie einem Gedankengut aus. Selbst wenn das „mein“ einen juristischen Grund hat (Besitz, Eigentum, Copyright), schwingt eigentlich immer auch eine emotionale Komponente mit. Mal schwingt sie nur mit, mal ist sie die wichtigste Bedeutungskomponente.
[2] In der Regel wird das „mein“ aus einer subjektiven Perspektive heraus verwendet oder gesagt. Es ist mein Haus, meine Vase, mein Buch, mein Rezept usw. Das, was ich „mein“ nenne, ist schon „mein“. Wenn ich sage „meine Frau“, „mein Bruder“, „meine Tante“ usw. drücke ich – wenigstens heutzutage, eine irgendwie (Verwandtschaft, selbstgewählte Beziehung usw.) begründete Zu- oder Zusammengehörigkeit aus.
[3] In der gegenwärtigen Konsumgesellschaft hat sich jedoch eine interessante Verschiebung ereignet. Aus der Werbung kennt man Markennamen, die mit „mein“ anfangen. Man kann das auch auf der Seite des EUIPO (European Union Intellectual Property Office) nachschauen. Allein im Deutschen finden sich 175 eingetragene Trade Marks, die überwiegend aus den letzten fünf Jahren stammen. Dazu kommen 38 registrierte Designs (Motive), die überwiegend aus den letzten fünf bis zehn Jahren stammen sowie ein paar Firmennamen, die das „mein“ im Namen tragen. Hier wird, das ist das Interessante, etwas zu „meinem“ gemacht, was in Wirklichkeit nicht „meines“ ist und was ich im Prinzip nicht kaufen kann, ich kann es also nicht durch Kauf zu „meinem“ machen. Ich kann lediglich einzelne Produkte kaufen, die unter dem registrierten Namen firmieren. Das „mein“ signalisiert in diesen Fällen eine „Teilhabe“ an einer virtuellen oder abstrakten Gemeinschaft.
[4] Zugleich soll es eine Geschäftsbeziehung zwischen mir und einer Firma personalisieren und emotionalisieren, sozusagen vergessen machen, dass es sich um eine schnöde Geschäftsbeziehung und nichts anderes handelt. Es wird suggeriert, dass ich mich dabei wohler oder glücklicher fühle, als ohne einen solchen mein-Bezug, sodass ich mich idealerweise an die Marke und ihre Produkte binden lasse.
[5] Emotionalisierung und Personalisierung liegt im Trend des digitalen Zeitalters, gleichwohl muss ein mit dem Ngram Viewer erzielter Häufigkeitsbefund zum Possessivpronomen „mein“ irritieren. Dem zufolge war im Deutschen die Verwendung von „mein“ am höchsten im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, sie fiel um 1890 auf einen Tiefststand, stieg und fiel danach phasenweise, erreichte 1974 den bisher absoluten Tiefststand, stieg danach etwas an, um nun (bis 2008 als letztem erfassten Jahr) halb so häufig wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu sein.
[6] Eine Ausdeutung dieser statistischen Befunde ist langwierig, zumal sie zunächst auch für andere Sprachen erstellt werden müssten, aber es können ein paar Anhaltspunkte gegeben werden. Lässt man den Ngram Viewer nach <mein *,meine *,meiner *> suchen, werden die jeweils zehn häufigsten Wortkombinationen mit „mein“ oder „meine“ oder „meiner“ (hier also insgesamt 30) angezeigt. Die Gesamtübersicht für den Zeitraum von 1800 bis 2008 illustriert, dass bis ca. 1920 die Kombination „meine Herren“ die häufigste ist, und zwar mit Abstand. Eine Männerwelt, und zwar eine öffentliche, da es sich um eine typische Anrede an ein Publikum (Rede, Parlament usw.) handelt. „Meine Damen“ rückt erst im Jahrzehnt ab 1950 in die Gruppe der häufigsten Wortkombinationen auf. „Meine“ kann außer Possessivpronomen auch die erste Person Singular des Verbs „meinen“ sein – und „meine ich“ kommt in dieser Statistik der Top Dreißig auch vor und verfälscht sie dadurch ein wenig.
[7] Von den 30 häufigsten Kombinationen entfallen 7 auf Familienangehörige, dazu kommen „Freunde“ (keine „Freundinnen“), „mein Herz“, „meine Seele“, „mein Gott“. Außerdem „Absicht“, „Ansicht“, „Auffassung“ und „Meinung“ sowie „Arbeit“. Alles in allem spiegelt der Befund metaphorisch ausgedrückt Ego-Netzwerke wider. Vermutet werden kann außerdem ein Gendergap zuungunsten von Frauen, aber das müsste erst durch Rückgriff auf die durchsuchten Texte im Korpus von Google Books bewiesen werden. Als Hypothese sei trotzdem in aller Vorsicht, gewissermaßen verdachtsmäßig, angenommen, dass das Possessivpronomen „mein“ im Ego-Netzwerk die längste Zeit im Erhebungszeitraum, gemessen an den Top-Dreißig, mit Männern zu tun hat.
[8] Für eine Feinanalyse könnte man dieselbe Suchkombination auf jeweils zehn Jahre beschränken oder besonderen historischen Abschnitten wie Weltkriege, Zwischen- und Nachkriegszeiten etc. folgen, die Ergebnisse nebeneinander halten und analysieren, ob das metaphorisch gesprochen Ego-Netzwerk von Anfang da ist oder nicht oder sich signifikant verändert. Hier können die jeweiligen Zehnjahresschritte angesehen werden: 1800-1810; 1811-1820; 1821-1830; 1831-1840; 1841-1850; 1851-1860; 1861-1870; 1871-1880; 1881-1890; 1891-1900; 1901-1910; 1911-1920; 1921-1930; 1931-1940; 1941-1950; 1951-1960; 1961-1970; 1971-1980; 1981-1990; 1991-2000; 2001-2008.
[9] Im Prinzip bleibt es beim Ego-Netzwerk, in dem kaum Objekte vorkommen (jedoch „Buch“ und „Zimmer“ z. B.). Bezeichnungen für Frauen wie Mutter, (Ehe-)Frau, Schwester rücken in der Häufigkeitsstatistik langsam nach oben. In einzelnen Zehnjahresabschnitten finden sich „mein Vaterland“ und „meine Pflicht“ in der Top-Gruppe.
[10] So etwas wie „mein Europa“ findet sich hingegen nicht, man muss die Kombination ausdrücklich eingeben. Zunächst mag erstaunen, dass „mein Europa“ schon im 19. Jahrhundert wenigstens vereinzelt vorkommt. Dem steht gegenüber, dass selbst der Spitzenwert, der 1990 erreicht wird, bei lediglich 0,000009% im Textvorkommen liegt, während Kombinationen aus den Top-Dreißig in Einzelfällen immerhin an 0,001% heranreichen. Das ist in puncto Häufigkeit ein himmelweiter Unterschied. Insoweit ist es unerheblich, dass die unmittelbare Aufeinanderfolge von „mein“ und „Europa“ in einem Satz nicht zwingend bedeutet, dass beide Worte ein „mein Europa“ bezeichnen. Der Ngram Viewer findet z. B. „mein Europa-Relief“ und bezieht solche Funde in die Statistik mit ein und verfälscht sie damit ein wenig.
[11] Das heißt jedenfalls, dass wir es im Bedeutungsfeld von „mein“ bei „mein Europa“ mit einer marginalen Erscheinung zu tun haben. Dazu kommt, dass der Höchstwert von 1990 einen absoluten Ausreißer bedeutet. Die relative Seltenheit liegt natürlich daran, dass es sich um keine im alltäglichen Sprachgebrauch häufig genutzte Verbindung handelt, gleichwohl ist sie sprachlich völlig korrekt und ‚glatt‘ und wird nur ausnahmsweise in einfache oder doppelte Anführungszeichen gesetzt. Das eher seltene Auftreten weist auf einen sozial bedingten Gebrauch hin, also womöglich auf eine soziale Elite.
[12] Unschwer lassen sich eine Reihe von Buchtiteln identifizieren (die folgende Liste beinhaltet keinerlei Bewertung des Inhalts, es geht nur um den Gebrauch der Kombination im Buchtitel, also an prominenter Stelle): „Mein Europa“ (1999); „Mein Europa: Auf der Suche nach Sicherheit und Freiheit“ (1999); „»Mein Europa«. Texte der amerikanischen Schriftsteller Louis Begley, Stewart O’Nan, Robert Coover und Scott Bradfield“ (2001); „Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa“ (2004); „Mein Europa ist überall: wie haben Spanier, Franzosen und Briten die Welt geprägt?“ (2008); „Mein Europa: wissen, verstehen, mitreden; mit Informationen zum Vertrag von Lissabon“ (2010, auch 2013); „Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers“ (2013); „Mein Europa. Reden und Aufsätze [Helmut Schmid]. Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer“ (2013); „Mein Europa: Werte, Überzeugungen, Ziele in Zitaten“ (2015); „Mein Europa: Sechzig biografische Streifzüge 1955-2015“ (2015); „Mein Europa – quo vadis?“ (2015). Die Süddeutsche Zeitung (SZ) brachte 2014-2015 zusammen mit der Körber-Stiftung einer Serie von Gastbeiträgen junger Leute unter der Rubriküberschrift „Mein Europa“.
[13] Ähnlich wie bei den oben erwähnten registrierten Trade Marks sind Buchtitel mit „Mein Europa“ in den letzten fünf Jahren etwas häufiger geworden. Bevor „mein Europa“ prominent in die Buchtitel wanderte, existierte „mein Europa“ als Kapitel- oder Buchteilüberschrift in Inhaltsverzeichnissen. Der dritte Teil von Paul Cohen-Portheims Buch „Die Entdeckung Europas“ (1933) ist mit „Mein Europa“ betitelt. Es gibt weitere Vorläufer wie Peter Härtlings Essay „Mein Europa“, den er zu einem von Thilo Koch 1973 herausgegebenen Essayband beisteuerte. Der Band trägt den Haupttitel „Europa persönlich“ (Untertitel: Erlebnisse und Betrachtungen deutscher P.E.N.-Autoren [siebzehn Schriftsteller fragen, schildern und bekennen]). Im Jahrgang 1982 der Zeitschrift „Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“ wurde der Essay „Mein Europa“ von Léopold Sédar Senghor abgedruckt. Noch ein Essay „Mein Europa“ stammt von Zafer Şenocak (2001) und Hans-Christian Riechers trug mit einem kurzen „Mein Europa der Grenzen“ zu einem Essay-Sammelband (2008) bei.
[14] Hintergrund bei diesen Büchern, Sammlungen und Essays ist mehrheitlich ein Beruf (Schriftsteller, Journalist, Politiker, Unternehmer, Wissenschaftler), der Mobilität, speziell auch im europäischen Raum mit sich bringt und insoweit für ein gelebtes oder erfahrenes „mein Europa“ sorgt. Der oben geäußerte „Verdacht“ bezüglich eines impliziten Gendergaps in „mein“ bestätigt sich im Übrigen, da die meisten Autoren eben Autoren und keine Autorinnen sind, die hier und bisher nur eine kleine Minderheit ausmachen.
[15] Die Wortkombination „mein Europa“ innerhalb von Texten deutet (willkürlich durchgeführten Stichproben zufolge) kaum auf ausgearbeitete Konzepte, sondern mehr auf eine emotionale Sprachgeste hin. Am weitesten geht Wolfgang Schmale, der Verfasser dieses Blogs und des oben genannten Reisetagebuchs „Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers“. So gesehen, ist der Weg zu einer theoretisch-methodischen Ausarbeitung des Konzepts „Mein Europa“ weitgehend frei.
Entscheidend bleiben dabei einige Grundkomponenten aus dem Bedeutungsfeld von „mein“:
- Das Ego-Netzwerk, also der unmittelbare persönliche Bezug zu Menschen, Räumen und Objekten.
- Die „aneignende Teilhabe“ an Europa als Zu- und/oder Zusammengehörigkeit von mir selber und Europa
- Die emotionale Unterlegung des „mein“.
- Außer bei Objekten z. B. aus dem eigenen Haushalt geht es nicht um das Besitzen oder um Eigentumsrechte.
Entscheidend bleibt auch der Befund, dass die Haltung des „Mein Europa“ als Projekt vorerst ein in der Gesellschaft marginales Phänomen darstellt, obwohl sich viele Menschen für Europa durch kulturelles und soziales Handeln engagieren. Und es bleibt die Aufgabe, „Mein Europa“ genderunabhängig zu denken und ggf. zu praktizieren.