III – Ein Rotweinglas aus dem La Samaritaine
[1] Sechs Uhr morgens, Paris, Gare du Nord, 1988: Endstation für den Paris-Warschau Express. Wieder eine Nachtfahrt in einem dieser DR-Wagons (Deutsche Reichsbahn, DDR), rotes Kunststoffleder, aufrechtes Sitzen, intensiver Geruch des Kunststoffs.
[2] Unausgeschlafen strebe ich in eine Bar in der Gare du Nord. Laut, nicht wirklich sauber. An der Bar nehme ich einen kleinen Kaffee. Neben mir mehrere Männer, Hemd offen, Ärmel hochgekrempelt. Un rouge, s.v.p.! ruft einer, kräftig gebaut, ordentlicher Bauch, rundliches Gesicht, leicht gerötet. Kurz danach vor ihm dieses kleine Weinglas mit 100cl Rotwein. Um sechs Uhr morgens.
[3] Aha, das geht also auch als Frühstück, denke ich mir, beende den Kaffee, lasse das Geld auf dem Tresen liegen und nehme die Metro zur Gare d’Austerlitz, wo der Schnellzug nach Tours abfahren wird. 1987/88 war ich maître de conférences associé an der Universität Tours.
[4] Die Szene wiederholte sich fast wöchentlich. Das kleine Rotweinfrühstück hatte mich beeindruckt. Eines Tages, als ich auf dem Rückweg nach Hause, beim Umsteigen in Paris vor dem Nachtexpress nach Warschau, den ich jedes Mal am nächsten Morgen in Hamm verließ, etwas Zeit hatte, ging ich zum Kaufhaus La Samaritaine, im Herzen von Paris am Pont-Neuf.
[5] Das La Samaritaine wurde 2005 geschlossen, alle bisherigen Konzepte für eine neue Nutzung wurden nicht umgesetzt. 1869 gegründet, gehörte es jahrzehntelang zum Pflichtprogramm eines jeden Paris-Touristen.
[6] Der Ort des Einkaufs jedenfalls war ausreichend historisch aufgeladen. Unter dem Dach, bei den Haushaltswaren wurde ich fündig. Diese kleinen Weingläser wurden damals nicht nur in Bars, sondern, landauf, landab, auch in kleinen Restaurants benutzt. Für mich gehörten sie inzwischen zu Frankreich wie die Sprache und der Franc.
[7] Der Vorrat im Regal war ziemlich zusammengeschmolzen. Eine ebenso freundliche wie engagierte und sachkundige Verkäuferin kam zu mir, und fragte mich, ob ich diese Gläser oder andere haben wollte. Nein, exakt diese. Wie viele? Ich hätte gerne sechs. Ich gehe nachsehen, ich glaube, ich habe noch so viele, und einen Originalkarton habe ich sicher auch noch.
[8] Nach ein paar Minuten kam sie, gute Laune verbreitend, mit einem länglichen Sechserkarton zurück. Kostbar waren die Gläser nun nicht gerade, sie haben nur ein paar Francs gekostet.
[9] Ich schlenderte zu Fuß zur Gare du Nord und ließ mich und die Gläser mit dem Paris-Warschau Express gen Osten ins östliche Westfalen fahren. Nun wohnen die Gläser in Wien. Wenn ich eines benutze, erinnert es mich an das Jahr in Tours und Paris, an das La Samaritaine, an den Rouge morgens um Sechs, an die alte Gare du Nord, an den Paris-Warschau Express.
[10] Eine vergangene Zeit, vor dem „Fall des Eisernen Vorhangs“. Der Kauf eines Bahntickets für die Strecke Tours in Frankreich, Hamm in Deutschland und retour war – wir befinden uns in jener fernen Zeit VOR dem Internet – eine ordentliche Zeitinvestition.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Mein Haushalt voller europäischer Geschichte – Geschichte Europas anhand privater Gegenstände. III: Ein Rotweinglas aus dem La Samaritaine. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/mein-haushalt-voller-europäischer-geschichte-3, Eintrag 16.06.2018 [Absatz Nr.].
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