Einleitung
[1] Dieser Blogeintrag könnte mit Berichten und Analysen über aktuelle aggressive Vorfälle im Zusammenhang der diversen sexuellen Orientierung der Menschen gefüllt werden. Nicht irgendwo in der Welt, sondern in der EU, z.B. in Polen, wo die Regierungspartei PiS hoffte, mit einer Anti-LGBTI-Kampagne Wähler*innenstimmen im Europawahlkampf 2019 zu gewinnen. Oder in Flüchtlingsunterkünften irgendwo in der EU, wo Homosexuelle, die vor der Verfolgung von Homosexualität in ihrem Land und ihrer Gesellschaft geflohen sind, von den Behörden nicht geschützt werden, sondern Aggression und Gewalt durch homophobe Flüchtlinge aus denselben Ländern und Gesellschaften oder Einheimische ausgesetzt bleiben.
[2] Ich möchte hier aber etwas weiter historisch ausgreifen – und immerhin kann dabei auch über Fortschritte geredet werden. Ob wir dabei über „historische Fortschritte“ reden, bleibt dennoch eine offene Frage, der Druck speziell von Rechts gegen alles, was eine Gesellschaft bunt und damit lebens- und liebenswert macht, ist groß und wächst wieder.
I Ab wann spielte die sexuelle Orientierung von Menschen im Zusammenhang von Menschenrechten eine Rolle?
[3] Ab wann spielte die sexuelle Orientierung von Menschen im Zusammenhang von Menschenrechten eine Rolle? Bei der Suche nach einer Antwort ist dabei zu unterscheiden zwischen gesellschaftlichen Debatten und Ansprüchen, einerseits, und gerichtsfesten Normierungen, andererseits, wie sie in Verfassungen, Gesetzen mit Verfassungsrang und verbindlichen Rechteerklärungen aufzufinden sind. Gesetzliche Normierungen sollten idealerweise den Stand gesellschaftlicher Debatten und Entwicklungen widerspiegeln, sie tun es aber häufig nicht, aufgrund ideologischer Konflikte oder widerstreitender politisch-sozialer Interessen. Menschen- und Grundrechte sind davon nicht ausgenommen.
[4] Die längere Entstehungsgeschichte der Menschenrechte lasse ich hier außen vor, es soll nur daran erinnert werden, dass ‚die‘ Menschenrechte nicht erst mit den nordamerikanischen und französischen Rechteerklärungen im Zeitalter der Atlantischen Revolution im späten 18. Jahrhundert entstanden. Sie reichen weiter zurück.
[5] Allerdings machten solche Rechteerklärungen Menschenrechte zu Verfassungsrecht und prägten die moderne Auffassung davon, dass eine Staatsverfassung Grund- und Menschenrechte enthalten und garantieren muss. Diese Auffassung trat zwar nach 1815 wieder in den Hintergrund, wurde aber ganz besonders in den Revolutionen von 1848 wiederbelebt.
[6] Bis heute haben die amerikanischen Erklärungen und die französische von 1789 den Status von Leuchttürmen, obwohl sie bei genauerer Lektüre ausgesprochene Diskriminierungen beinhalteten oder zumindest nicht ausschlossen. Sie diskriminierten aus Gründen des Geschlechts – sie waren überwiegend Männerrechtserklärungen; sie diskriminierten aus rassistischen Gründen. Freilich waren sie genau deshalb auch in ihrer eigenen Zeit von kontroversen Debatten begleitet gewesen, die Diskriminierungen sind nicht unbemerkt geblieben.
[7] Die unterschiedliche sexuelle Ausrichtung von Menschen wurde gleichwohl nicht im Zusammenhang der Menschenrechtserklärungen thematisiert. Dem öffentlichen Diskurs lag in der Regel das im 18. Jahrhundert entwickelte Modell weiblicher und männlicher Geschlechtsidentität zugrunde, für weitere gab es keinen Platz. Gleichgeschlechtliche Sexualität unter Männern wurde im revolutionären Frankreich zwar thematisiert, aber eher in der politischen Pornografie, um Revolutionsgegner als „Sodomiten“ zu diffamieren, nicht als rechtlich schützenswerte sexuelle Orientierung.
[8] Lange Zeit wurde die mental map der Menschenrechte durch die Erklärungen des späten 18. Jahrhunderts bestimmt. Als der Menschenrechtsbegriff im späten 19. Jahrhundert wieder stärker in den Fokus geriet, gab es unter den denkbaren historischen Bezügen keine Alternative zu den Erklärungen hundert Jahre zuvor. Worauf sonst hätte man sich beziehen sollen? Was gab es Fortschrittlicheres als die Revolution von 1789 zu Ende zu führen?
[9] Zudem: Im Deutschen lautete der Begriff schon im 18. Jahrhundert „Menschenrecht“, das heißt, er konnte umstandslos den Zeitläuften entsprechend breiter interpretiert werden und bspw. Frauenrechte einschließen. Wenn man im späten 18. Jahrhundert im Deutschen beim Wort „Mensch“ womöglich „Mann“ als dem eigentlichen Menschsein verstand, konnte hundert Jahre später ohne äußerliche Änderung des Wortes die Bedeutung „Mensch“ umfassender gemeint sein. Dasselbe galt für das Französische, da „homme“ eben nicht nur „Mann“, sondern auch Mensch bedeutete. Ohne Änderung des historischen Wortlauts war die Erklärung von 1789 schnell passfähig für eine ganz andere Zeit und Gesellschaft.
[10] Ich erwähne das deshalb, weil 1898 in Frankreich aus Anlass der Dreyfus-Affäre die „Ligue des droits de l’homme et du citoyen“ gegründet wurde und sich diese ausdrücklich – wie andere nach diesem Vorbild gegründete Menschenrechtsligen – auf die Erklärung von 1789 bezog. Die französische Liga setzte sich im Zuge der Erweiterung ihres Tätigkeitsfeldes nach der Dreyfus-Affäre bald für Frauenrechte inkl. des Abtreibungsrechts ein, etwa in der Zwischenkriegszeit.
[11] Die 1926 gegründete Österreichische Liga für Menschenrechte, die eng mit der französischen verbunden war, war dann eine der wenigen, die sich ausdrücklich für die Menschenrechte von Homosexuellen einsetzte. Trotzdem war dies noch weit entfernt von einer umfassenden Anerkennung eines Rechts bzw. Menschenrechts auf unterschiedliche sexuelle Orientierungen über vorwiegend männliche Homosexualität hinaus.
[12] Der rechtliche Schutz verschiedener sexueller Orientierungen und von Gender Identity wird heute meistens unter der Überschrift „Diskriminierung“ – bzw. genauer Verbot von Diskriminierung – ausgeführt. Unter das Diskriminierungsverbot fallen Diskriminierungen aus folgenden Gründen: Geschlecht, Hautfarbe, ethnische Herkunft, soziale Herkunft, genetische Merkmale, Sprache, Religion, Weltanschauung, politische Anschauung, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, Vermögen, Geburt, Behinderung, Alter, sexuelle Ausrichtung/Orientierung (s. EU-Grundrechte-Charta, Art. 21(1). In den meisten einschlägigen Dokumenten wird außerdem „Rasse“ aufgezählt. Die Intention ist klar, rassistische Diskriminierung soll verboten sein, aber es wäre wohl sinnvoller, das entsprechend zu formulieren, statt den Eindruck zu erwecken, es werde an der Kategorie „Rasse“ festgehalten.
II Wann entstand ein Bewusstsein dafür, dass „Diskriminierungen Diskriminierungen sind“?
[13] Wenn man nun in einem nächsten Schritt die Frage stellt, wann eigentlich ein Bewusstsein dafür entstand, dass Diskriminierungen Diskriminierungen sind, gestaltet sich die Antwort schwierig. Geht man von der Häufigkeit des Begriffs „Diskriminierung“ bspw. im Deutschen, Englischen und Französischen aus (Ngram Viewer – praktischer Hinweis: Die Ngram-Viewer Links funktionieren tw. nicht sofort, in dem Fall in der Linkzeile einfach nochmals Return drücken), so steigt die Häufigkeit im Englischen seit ca. 1770, im Französischen ab 1900, im Deutschen ab 1930. Besonders deutlich erhöht sich der Gebrauch nach dem Zweiten Weltkrieg. Natürlich kommt es immer auf den konkreten Zusammenhang an: Der besteht in der Ökonomie, im Völkerrecht, aber auch in Bezug auf den einzelnen Menschen.
[14] Erhebt man zum Vergleich die Häufigkeit von „sexuelle Orientierung“ in den drei Sprachen, nimmt diese zuerst im Englischen ab 1970 zu, im Deutschen und Französischen erst rund 20 Jahre später. Im Englischen fällt Amerika (USA) ins Gewicht.
[15] Was sich nach der ersten Draufsicht schlussfolgern lässt, ist, dass ein breiteres Bewusstsein für Diskriminierungen aller Art durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs bedingt ist, und dass „sexuelle Orientierung“ erst in den letzten drei bis fünf Jahrzehnten zu einem breiteren Thema geworden ist. Die relative Häufigkeit ist im Ngram Viewer auf der y-Achse ablesbar, die dort angezeigten Werte lassen die Bewertung als „breiter“ zu (Erfahrungswert aufgrund zahlreicher Recherchen mittels Ngram Viewer).
[16] Vergleicht man die Häufigkeit von „Diskriminierung“ und „sexuelle Orientierung“ (bzw. „Ausrichtung“ inkl. der Kasusflexionen) im Deutschen, im Französischen und Englischen zeigt sich der große Unterschied zwischen beiden Begriffen. „Diskriminierung“ ist ein großes allgemeines Thema, „sexuelle Orientierung“ ist es sehr viel weniger, mehr im Englischen als im Deutschen und Französischen.
[17] Letztlich sind diese Erhebungen mittels Ngram Viewer nur Anhaltspunkte, da die Sprachen ja nur bedingt bestimmten Räumen und schon gar nicht einfach Ländern entsprechen. Der Zugriff auf Texte im Google Korpus erleichtert natürlich die Hypothesenbildung und Interpretation der Kurven.
[18] Um die quantitativen Ergebnisse etwas genauer beurteilen zu können, empfiehlt es sich, „Diskriminierung“ mit einer Wildcard-Suche zu kombinieren („Diskriminierung *_NOUN“). Dabei werden die zehn häufigsten Kombinationen angezeigt. Im Deutschen gehört „Diskriminierung Homosexueller“ zur Gruppe der zehn häufigsten Verwendungen. Im Englischen zählen „discrimination of race“ bzw. „of color“ zu den zehn häufigsten Anwendungen, nicht aber (im Vergleich mit dem deutschen Befund) „discrimination of homosexuals“. Im Französischen ergibt „discrimination *_NOUN“ für „discrimination raciale“ den höchsten Wert. Sucht man nach „discrimination de *_NOUN“, fallen „discrimination de sexe“ sowie „de race“ unter die zehn häufigsten Verwendungen, die Kurven entwickeln sich aber gegenläufig. Schaut man auf die y-Achse (Häufigkeit im Verhältnis zum Sprachgebrauch insgesamt), erkennt man, dass es sich um niedrige Werte handelt.
[19] Da der Ngram Viewer nur bis 2008 reicht, lassen sich ergänzende Hinweise mittels Google Trends erheben, wobei immer vergegenwärtigt werden muss, dass Google Trends keine absoluten Zahlen liefert, sondern Relationen errechnet. Das heißt in der Praxis, dass eine tatsächlich höhere Zahl von Suchanfragen zu einem Begriff im Vergleich zu einem anderen nicht zwingend zu einer höheren Kurve in der Visualisierung führt. Errechnet wird steigendes oder fallendes Interesse in Relation zu allen Suchinteressen.
[20] Zwischen Januar 2004 und März 2019 hat sich die weltweite Suchfrequenz (praktischer Hinweis: Die Google-Trends Links funktionieren tw. nicht sofort, in dem Fall in der Linkzeile einfach nochmals Return drücken) nach „discrimination“ halbiert. Das geringste Interesse herrscht eher in europäischen Ländern, lediglich im Vereinigten Königreich ist es recht hoch und in Frankreich relativ hoch. Google Trends führt als weitere übliche Suchanfragen „lgbt discrimination“ an. Hier steigt die Häufigkeit deutlich an, wobei der höchste Wert im April 2016 erreicht wurde. Vergleicht man „lgbt discrimination“ und „discrimination“, zeigt sich ein riesiger Unterschied auf Grundlage der Suchanfragen. Das bleibt so, wenn man nach „lgbtiq discrimination“ im Vergleich zu „discrimination“ sucht.
[21] Erhebt man allgemeiner „sexual orientation“, wird der Höchstwert mit März 2019 erreicht. Unter 62 Ländern kommt erst auf Platz 19 ein europäisches, das Vereinigte Königreich. Österreich folgt an 45. Stelle, wobei alle Länder von 42 bis 62 ein gleich geringes Suchinteresse dokumentieren.
[22] Vergleicht man wieder „discrimination“ und „sexual orientation“, ist der Abstand zwischen beiden Kurven immer noch überaus deutlich, aber geringer als zwischen „lgbt discrimination“ und „discrimination“.
[23] Um wissenschaftlich zufriedenstellende und belastbare Ergebnisse zu erzielen, müssten weitere Vergleichserhebungen durchgeführt werden. Immerhin lassen sich Relativierungen vornehmen, was die europäischen Länder im globalen Vergleich angeht. Die Häufigkeitsunterschiede sind außerdem so prägnant, dass Rückschlüsse darauf möglich sind, wie breit jeweils das gesellschaftliche Interesse ist. Danach dürfte das Bewusstsein für Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung in Europa am höchsten im Vereinigten Königreich und in Frankreich sein.
[24] Interessant sind die Verteilungen bei der kombinierten Suche nach „discrimination“, „lgbt discrimination“ und „sexual orientation“. Ohne die Ergebnisse, die Google Trends liefert, überinterpretieren zu wollen, dürfte der Rückschluss richtig sein, dass „sexual orientation“ und „lgbt discrimination“ am ehesten dann gesucht wird, wenn man ein konkretes persönliches Interesse hat; der Anteil der Suchanfragen, der mit einem gesellschaftlichen Interesse jenseits persönlicher Betroffenheit zusammenhängt, dürfte klein sein. Warum „discrimination“ weniger intensiv als früher gesucht wird, kann nicht ohne weitere Recherchen beantwortet werden. Dass weniger diskriminiert wird, sodass weniger Anlass zu Suchanfragen bestünde, trifft höchstwahrscheinlich nicht zu. Eine stärkere Antidiskriminierungsgesetzgebung und bessere Durchsetzung im Alltag würde vermutlich eher zu mehr Aufmerksamkeit als weniger führen.
III Entwicklung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung im Rahmen der UN
[25] Bevor ich mich der EU zuwende, ein paar Hinweise zur Entwicklung im Rahmen der UN. Zu nennen sind in dem Zusammenhang die „Erklärung über die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität“ vom Dezember 2008, die Erklärung des UN-Menschenrechtsrats vom März 2011 „zur Beendigung von Gewaltakten und damit zusammenhängenden Menschenrechtsverstößen aufgrund von sexueller Orientierung und Geschlechteridentität“, die Resolution des UN-Menschenrechtsrats zu „Menschenrechten, sexueller Orientierung und sexueller Identität“ (17. Juni 2011).
[26] Desweiteren ist zu nennen die „Mandatierung eines unabhängigen Experten der Vereinten Nationen im Juli 2016, der sich international für den Schutz vor Diskriminierung und Gewalt aufgrund von sexueller Orientierung und Geschlechteridentität (SOGI) einsetzt.“ [Alles nach der Seite des Auswärtigen Amts]
[27] Wichtig für die internationale Diskussion wurden die „Yogyakarta Prinzipien“ („Principles on the Application of International Human Rights Law in Relation to Sexual Orientation and Gender Identity“) von 2007, die 2017 ergänzt wurden: „Additional Principles and State Obligations on the Application of International Human Rights in Relation to Sexual Orientation, Gender Identity, Gender Expression and Sex Characteristics to Complement the Yogyakarta Principles“.
IV Nichtdiskriminierung sexueller Orientierungen in der EU
[28] Wenden wir uns konkreter den Verhältnissen in der EU zu. Die EU ist der breit angelegte Versuch, die Beziehungen zwischen Staaten verbindlich durch Recht zu regeln. Sowohl die Verrechtlichung der Beziehungen wie die Verbindlichkeit des Rechts als wesentliche Grundlage der Beziehungen bedeuten eine radikale Abkehr davon, was jahrhundertelang die Beziehungen bestimmt hatte und kontinuierlich in Gewalt und Krieg einmündete.
[28] Bereits im EGKS-Vertrag von 1951 findet sich ein Diskriminierungsverbot. In Art. 4 heißt es: „Als unvereinbar mit dem gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl werden innerhalb der Gemeinschaft gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags aufgehoben und untersagt: (…) Maßnahmen oder Praktiken, die eine Diskriminierung zwischen Erzeugern oder Käufern oder Verbrauchern herbeiführen, insbesondere hinsichtlich der Preis- und Lieferbedingungen und der Beförderungstarife, sowie Maßnahmen oder Praktiken, die den Käufer an der freien Wahl seines Lieferanten hindern; (…).“
[29] Im EWG-Vertrag vom März 1957 findet sich eine neue Bestimmung zum Verbot von Diskriminierung, nämlich aufgrund der Staatsangehörigkeit, in Art. 7. Satz 2 von Art. 7 regelt den Weg zum europäischen Recht im Zusammenhang dieses ersten noch sehr begrenzt gedachten Diskriminierungsverbots: „Der Rat kann mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der Versammlung Regelungen für das Verbot solcher Diskriminierungen treffen.“ Art. 132 dehnt die Niederlassungsfreiheit innerhalb der EG auf die überseeischen Gebiete der Mitgliedstaaten aus, die im Vertrag namentlich aufgezählt werden und untersagt Diskriminierung.
[30] Die Verrechtlichung der Beziehungen reicht bis zu den Bürger*innen. Die Europäische Kommission informiert auf einer ihrer Seiten die EU-Bürger*innen über ihre Rechte. Im Abschnitt „Equality“ findet sich das Unterkapitel „Non-Discrimination“. Den Text gibt es auf der Seite nur auf Englisch. Da es sich aber um den Artikel 21(1) der EU-Grundrechte-Charta handelt, zitiere ich hier die deutsche Fassung: „Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.“
[31] Es folgt der Hinweis, dass man sich im Fall einer Verletzung des Nichtdiskriminierungsgebots an die nationalen Gerichte bzw. Institutionen zu wenden habe, denn: „Fundamental rights are protected by your country‘s constitution.“ Unten auf der Seite steht eine schematische Darstellung zur Verfügung, wer wofür zuständig ist.
[32] In einem nächsten Informationsschritt wird auf die einschlägigen EU-Richtlinien sowie Titel III der EU-Grundrechtecharta verlinkt. Dort steht der oben in der Seite auf Englisch zitierte Satz gemäß Artikel 21(1). In den deutschen Fassungen der grundlegenden europäischen und internationalen Rechtstexte heißt es offenbar ohne Bedeutungsunterschied „sexuelle Ausrichtung“ und „sexuelle Orientierung“.
[33] Die Seite gibt eine listenartige Aufstellung von Rechten, die im Titel III der Grundrechtecharta enthalten sind, wobei das Diskriminierungsverbot aufgrund der „sexuellen Ausrichtung“, wie es in der Charta im Deutschen lautet, in der Aufstellung nicht vorkommt.
[34] Geschickt gemacht ist die Seite nicht, was insofern kritikwürdig ist, als ihre Funktion ja die ist, uns, die EU-Bürger*innen, möglichst unkompliziert im riesigen Bestand des über Jahrzehnte gewachsenen EU-Rechts zu orientieren.
[35] Kritikwürdig ist außerdem, dass auf der Bürger*innenseite kein Wort darüber verloren wird, dass das umfassende Diskriminierungsverbot nicht zuletzt dem jahrelangen Einsatz des EU-Parlaments und von NGOs wie dem Europa-Ableger der International Lesbian and Gay Association (ILGA) zu verdanken ist. Hier wäre eine gute Gelegenheit, zu zeigen, dass die EU durchaus eine EU der Bürger*innen ist – nicht nur in dem Sinne, dass etwas für die EU-Bürger*innen getan wird, sondern in dem Sinne, dass es eine effektive Partizipation gibt.
[36] Schließlich fehlt auf der Seite der Hinweis auf die EU-Grundrechteagentur (FRA), die die Qualität der Umsetzung des umfassenden Diskriminierungsverbots in den Mitgliedstaaten beobachtend begleitet, eigene Berichte und Berichte der Mitgliedstaaten veröffentlicht bzw. durch Verlinkung bekannt und zugänglich macht. So gibt es in der Rubrik „Themen“ die Seite „LGBT-Personen“.
[37] Die Formulierungen in der EU-Grundrechtecharta erweitern den paradigmatischen und damals noch kürzeren Kanon an Diskriminierungsverboten aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948, wo die sexuelle Orientierung noch nicht genannt wird und ganz offensichtlich auch außerhalb des damaligen Vorstellungshorizontes der Autor*innen der Erklärung lag, obwohl die sexuelle Orientierung als rechtliche Frage im gesellschaftlichen Diskurs längst ihren Platz hatte.
[38] In der EU hat sich das umfassende Diskriminierungsverbot aus einem historischen Kern heraus entwickelt, der Gleichstellung und Gleichbehandlung von Frauen und Männern sowie aus der Kritik der Diskriminierung von Homosexuellen und Transsexuellen. Anfangs – Gleichstellung und Gleichbehandlung von Frauen und Männern – folgte dies dem Rechtsbestand der UN und des Europarats, wobei die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die EMRK eine tragende Rolle neben weiteren Dokumenten und Pakten spielten.
[39] Die meisten Aktionen gegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung hat das Europäische Parlament gesetzt. Eine Recherche in der Datenbank zum Europarecht der EU führt zu einer Anfrage aus den Reihen des Parlaments an die EG-Kommission vom 13. Jänner 1977, ob es sich bei ihren Stellenausschreibungen und den „Fragen zur Person“ auch um Fragen zur „sexuellen Integrität“ handele. Die Kommission antwortete am 24. März 1977, dass es um die „für die Ausübung des Amtes zu stellenden sittlichen Anforderungen“ ginge, das heißt um „rechtskräftige Verurteilungen“. [Amtsblatt EG C148/11, schriftliche Anfrage 789/76]
[40] Wichtig ist die Entschließung des Ausschusses des EP für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten zur sexuellen Diskriminierung am Arbeitsplatz vom 13. März 1984. Darin wurde „betont, daß bei der Bekämpfung jeder Art von Diskriminierung die faktische oder rechtliche Diskriminierung der Homosexuellen nicht übersehen oder passiv hingenommen werden darf“. Von den Mitgliedstaaten der EG wurde u.a. verlangt, „die Einstufung der Homosexualität als geistige Störung abzuschaffen“, die Kommission wurde aufgefordert, „Vorschläge zu unterbreiten, die vermeiden sollen, daß in den Mitgliedstaaten eine Diskriminierung von Homosexuellen hinsichtlich des Zugangs zum Beruf und der Arbeitsbedingungen erfolgt“.
[41] Die Entschließung enthält eine Vielzahl weiterer Vorschläge und Forderungen, bezieht sich im wesentlichen auf Homosexualität und (noch) nicht umfassend auf Diskriminierungen wegen der sexuellen Orientierung. Die Entschließung bezieht sich auf einen Diskussionsvorlauf im EP seit 1982 und eine Entschließung des Europarats von 1981 zur Diskriminierung von Homosexuellen (756/1981). [Amtsblatt EG C 104, 16. April 1984]
[42] Machen wir einen zeitlichen Sprung: Seit dem Vertrag von Amsterdam (1997, in Kraft 1. Mai 1999), der vom Vertrag von Nizza (in Kraft 2003) und dann dem Lissabonner Vertrag abgelöst wurde, baut die EU das Diskriminierungsverbot systematisch aus. Da die bereits zitierte EU-Grundrechte-Charta zwar auf dem Gipfel von Nizza am 7. Dezember 2000 proklamiert wurde, aber Rechtsverbindlichkeit erst in Verbindung mit dem Vertrag von Lissabon und seiner Inkraftsetzung 2009 erhielt, verabschiedete die Union in der Zwischenzeit entsprechende Richtlinien, die allerdings nicht die gesamte Lebenswelt erfassten. Letzteres ist erst seit 2009 mit der Grundrechtecharta der Fall.
[43] In den Vertrag von Amsterdam wurde gegenüber dem Vertrag von Maastricht (1992) der Artikel 13 eingefügt: „Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Vertrags kann der Rat im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.“ (Vgl. die Dokumentation von ILGA „Nach Amsterdam, 1999)
[44] Der Begriff „sexuelle Ausrichtung“ findet sich im Vertrag von Maastricht noch nicht, der Begriff der Diskriminierung kommt vor, allerdings nur in sehr eingeschränkter Bedeutung. Das heißt, dass zwischen den Beratungen zum Maastrichter Vertrag und denen zum Amsterdamer Vertrag ein merklicher Wandel stattgefunden hat, sprich innerhalb von ca. 7 Jahren. Im Amsterdamer Vertrag geht es auch noch nicht um hartes direkt anzuwendendes Recht, sondern um das rechtliche Projekt, Diskriminierungen durch eine in Angriff zu nehmende künftige Gesetzgebung möglichst umfassend auszuschließen. Wichtig war an diesem Schritt, dass ein künftiges Antidiskriminierungsrecht in die Zuständigkeit der EU hereingenommen wurde.
[45] Der Vertrag von Nizza (2001) brachte noch keine weiteren Fortschritte, so dass diese vorerst über die EU-Gesetzgebung erfolgen mussten. Diese traten auch in Form verschiedener Richtlinien ein, die auf Vorschlag der EU-Kommission von Parlament und Rat verabschiedet wurden. Richtlinien geben die Ziele für alle Mitgliedstaaten verbindlich vor, die genaue Umsetzung erfolgt in der nationalen Gesetzgebung, das heißt, bei Richtlinien gibt es zwischen den Mitgliedern im Detail Abweichungen, während dies bei Verordnungen, den eigentlichen Gesetzen der EU, nicht möglich ist.
[46] Bezüglich des Amsterdamer Vertrags wurde in den damaligen Diskussionen darauf hingewiesen, dass Artikel 6(1) ausdrücklich feststellte: „Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam.“ Artikel 6(2) – wir sind zeitlich vor der EU-Grundrechtecharta – führte dies weiter aus: „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.“
[47] Das galt und gilt natürlich auch in Bezug auf Länder, die der EU beitreten wollen. Zusätzlich wurde mit Artikel 7 ein Sanktionsmechanismus gegen Mitgliedstaaten implementiert, die Artikel 6(1) „schwerwiegend“ und „anhaltend“ verletzten. Daran knüpfte sich seinerzeit die Hoffnung, „daß die Menschenrechtslage in den beitrittswilligen Staaten überprüft wird, und zwar auch hinsichtlich der Situation von Lesben und Schwulen.“ (ILGA, S. 26)
[48] Die Eröffnung der Möglichkeit einer Ausweitung des Diskriminierungsverbots im Vertrag vom Amsterdam hat der Debatte um rechtliche Vorkehrungen gegen Diskriminierungen, auch wegen einer sexuellen Orientierung, insgesamt Auftrieb gegeben. Zugleich nahm die Umsetzung der Möglichkeit zu einer EU-Gesetzgebung Fahrt auf.
[49] Die Richtlinie 2000/78/EG vom 27. November 2000 „zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf“ spricht das Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung explizit an. In Satz (11) der Begründung der Richtlinie (solche Begründungen sind der eigentlichen Richtlinie immer vorangestellt) lautet es: „Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung können die Verwirklichung der im EG-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Solidarität sowie die Freizügigkeit.“ Satz (12) bestärkt Satz (11).
[50] Satz (29) stellt fest: „Opfer von Diskriminierungen wegen der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sollten über einen angemessenen Rechtsschutz verfügen. Um einen effektiveren Schutz zu gewährleisten, sollte auch die Möglichkeit bestehen, dass sich Verbände oder andere juristische Personen unbeschadet der nationalen Verfahrensordnung bezüglich der Vertretung und Verteidigung vor Gericht bei einem entsprechenden Beschluss der Mitgliedstaaten im Namen eines Opfers oder zu seiner Unterstützung an einem Verfahren beteiligen.“
[51] Am 2. Juli 2008 legte die EU-Kommission die Endfassung eines weiterreichenden Richtlinienvorschlags vor, um das die sexuelle Ausrichtung einschließende umfassende Diskriminierungsverbot über den Berufs- und Arbeitsbereich hinaus auszuweiten. Hier ist es bei dem Vorschlag geblieben, vermutlich, weil durch die Grundrechtecharta, die 2009 verbindlich wurde, nunmehr ein hartes EU-Primärrecht die Frage regelte – allerdings nur im Geltungsbereich der Charta. Der wichtige Artikel 21 findet sich im übrigen bereits in der Fassung der Charta vom 18. Dezember 2000.
[52] Am 28. September 2008 verabschiedete das Europäische Parlament eine Entschließung zu „Menschenrechten, sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität im Rahmen der Vereinten Nationen“, in der nicht nur eine Chronologie wichtiger Resolutionen und anderer Dokumente im Rahmen der UN, des Europarats und der EU gegeben wird, sondern auch auf Grundprobleme bei der Umsetzung des Diskriminierungsverbots aufgrund der sexuellen Orientierung deutlich hingewiesen wird.
[53] U.a. heißt es dort: „9. (Das Europäische Parlament) legt den Mitgliedstaaten nahe, sich in Partnerschaft mit Drittländern konstruktiv an der allgemeinen, regelmäßigen Überprüfung und den Verfahren der Menschenrechtsgremien zu beteiligen, sodass die Menschenrechte im Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität in der Europäischen Union und in Drittstaaten umfassend geachtet werden; legt den Mitgliedstaaten und der Hohen Vertreterin in diesem Zusammenhang nahe, die Kohärenz zwischen dem innen- und außenpolitischen Handeln der EU im Bereich der Menschenrechte zu gewährleisten, so wie dies in Artikel 21 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union verankert ist; […]; 11. bedauert, dass die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen in der Europäischen Union nicht immer umfassend gewahrt werden (…); 13. verurteilt aufs Schärfste die Tatsache, dass Homosexualität, Bisexualität oder Transsexualität von manchen Staaten, auch in der EU, noch immer als psychische Krankheit angesehen werden, und fordert diese Staaten auf, dem ein Ende zu bereiten; fordert insbesondere, dass Transsexuelle und Transgender-Personen nicht in der Psychiatrie behandelt werden und das Pflegepersonal frei wählen können sowie dass die Änderung der Identität vereinfacht wird und die Sozialversicherungen die Kosten übernehmen.“
V Schluss
[54] Eine von der EU-Agentur für Grundrechte 2012 durchgeführte Erhebung – bei Beteiligung von 93.079 Personen – unter Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen in der EU dokumentiert, dass in der gesellschaftlichen Praxis Diskriminierungen wegen der sexuellen Orientierung von Menschen auch nach diesen gesetzgeberischen und weiteren Maßnahmen wie Parlamentsentschließungen weit verbreitet waren. Auch wenn seit der Erhebung sieben Jahre vergangen sind, scheint genau diese gesellschaftlich anhaltend praktizierte Diskriminierung der Ansatzpunkt für die rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien für deren anti-LGBTIQ-Aggressivität zu sein.
[55] Die hier skizzierte Entwicklung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung zeigt, wie wichtig die EU und das Zusammenwirken zwischen EU-Institutionen und Bürger*innen hierfür war und ist. Trotz der Stärkung der rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien im EU-Parlament ist zu hoffen, dass die anderen Parteien, die die numerische Mehrheit ausmachen, die Fortentwicklung von Nichtdiskriminierung vorantreiben und sich von der Aggressivität jener Parteien nicht einschüchtern lassen.
Dokumentation: Dem Blogbeitrag liegt der Festvortrag von Wolfgang Schmale auf dem Queer History Day an der Universität Wien, 31. Mai 2019, zugrunde. Die Veranstaltung wurde von QWIEN – Zentrum für queere Geschichte in Zusammenarbeit mit dem Institut für Geschichte durchgeführt. Christopher Treiblmayr, QWIEN, sei für kritische Kommentare zur ursprünglichen Fassung gedankt.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Entwicklung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“,
https://wolfgangschmale.eu/menschenrechte-und-sexuelle-orientierung/, Eintrag 31.05.2019 [Absatz Nr.].