Olga Katsiardi-Hering (Athen): Gedanken über die Ausstellung „Idee Europa: 200 Jahre Wiener Kongress“ und das Kongress-Erbe
[1] Wien, Europa – und wir alle feiern dieses Jahr das Jubiläum des Wiener Kongresses (1814-1815). Dieser Kongress ist das Thema der reichen, interessanten und sehr gut ausgestatteten Ausstellung, die unter dem Titel Idee Europa: 200 Jahre Wiener Kongress im Bundeskanzleramt und in der Hofburg am Ballhausplatz, Wien, gezeigt wird (noch bis 31. Oktober 2015).
[2] Die Ausstellung betrifft den kriegerischen, politischen und ideologischen Raum am Vorabend des Kongresses sowie seine direkten und indirekten Ergebnisse und sein Erbe/Legacy für die beteiligten Imperien sowie für das gesamte Europa. Die Idee des modernen Europa ist gebürtig als Folge dieses Kongresses, obwohl seine Wurzeln in der gesamten europäischen Vergangenheit gewachsen sind.
[3] Meine folgenden Gedanken betreffen genau diese gesamte Vergangenheit und das allgemeine Erbe des Kongresses und der Idee Europa. Ursache für meine Überlegungen ist die Abwesenheit der griechischen Revolution bzw. des Unabhängigkeitskrieges der Griechen (1821-1830/32) als Folge des Kongresses. Sie wäre als Teil und Teilthema der Ausstellung in dem, dem Thema „Revolution“ gewidmeten, Raum zu erwarten gewesen.
[4] Der Besucher wird kurz über die Revolution von Neapel (1820) und, im Folgenden, über die Revolutionen in Zentraleuropa aus den Jahren 1830, 1833, 1848 usw., informiert. Die griechische Revolution war jedoch die erste moderne Revolution nach dem Wiener Kongress. Sie war eines der Hauptthemen auf den Kongressen in Verona, Laibach und Troppau (1821-1822), wo sich die Vertreter der europäischen Mächte versammelten als Folge des Wiener Kongresses. Die europäische Diplomatie hat sich während des ganzen Jahrzehnts stark mit der griechischen Revolution beschäftigt. Das beweist die reiche Literatur darüber, die auf der Basis des umfangreichen Materials in den europäischen Archiven sowie in den österreichischen Staatsarchiven verfasst wurde.
[5] Die „Idee Europa“ war bei den Griechen der Zeit sehr präsent gewesen. (s.u. Dokumentation). Während der Revolution haben alle Vertreter der griechischen Gesellschaft an der „Idee Europa“ teilgenommen: Vertreter der Selbtsverwaltung/Notablen der Gemeinden, Kirchenvertreter, Fanarioten (=Vertreter der griechischen Elite des Konstantinopolitanischen Milieus), Banditen und Armatoli als Kämpfer, Diaspora-Händler, vor allem als Gründer der geheimen Revolutionären ‘Filiki Hetaireia’ (Gesellschaft der Freunde), Studenten und Intellektuelle und besonders die starken Schifffahrtsleute, welche den gesamten Seekrieg im Ägäischen Meer geführt und die europäischen Handelsverhältnisse stark bedroht haben. Das war auch die Ursache für die frühe Anerkennung der Revoltierenden (1823) in der englischen Politik.
[6] Die Revolution verbreitete sich in den ersten Jahren in Epirus, Sterea Hellas, Makedonia, Samothraki Insel, Euboia, Kreta, und vor allem auf der Peloponnes und auf dem Meer. Diesen breiten Aspekt bekommt der Besucher/Leser der kleinen Tafel im Innenhof des Amalientraktes kaum dargestellt, wenn man liest: „Vor allem auf der peloponnesischen Halbinsel verband sich der Jahrhunderte alte Kampf von Briganten, Banditen und Clan-Chefs gegen jede Form von staatlicher Autorität mit den Ideen der Französischen Revolution und mündete in einen tatsächlichen Volksaufstand“. Er wird überhaupt nicht über die drei Verfassungen der Revolution (1821,1823, 1827) informiert, die zu einem modernen bürgerlichen Staat führen sollten.
[7] Komplizierte Situationen – wie es in den meisten der Revolutionen der Fall ist – haben den Rahmen und die Hoffnungen der Revoltierenden enttäuscht, und statt eines demokratischen Staates ist am Ende, als Folge der europäischen Rivalitäten und des Finanzierungsmangels, ein kleines Königtum etabliert unter einem jungen bayerischen Monarchen worden! Trotzdem gilt die griechische Revolution als jene, die zu dem ersten Nationalstaat in Südosteuropa geführt hat.
[8] Wir als Historiker/innen haben die Verpflichtung, die historische Vielfältigkeit unserer Geschichte und Gesellschaft unseren Völkern zu zeigen, damit wir Europäer/innen uns nicht erst dann übereinander informieren, wenn eine Finanzkrise herrscht, oder dies nur zufällig und gelegentlich wegen temporärer Zusammenhänge und Ereignisse tun. Wir haben die Pflicht, unsere gemeinsame europäische Geschichte mit Genauigkeit und im Geiste der Pluralität zu verbreiten.Dokumentation
Autorin des Beitrages: Olga Katsiardi-Hering, Professorin für Moderne Griechische Geschichte, Universität Athen
Literatur zum Nachlesen: Olga Katsiardi-Hering, «Von den Aufständen zu den Revolutionen christlicher Untertanen des osmanischen Reiches in Südosteuropa (ca. 1530-1821). Ein Typologisierungsversuch», Südost-Forschungen, 68 (2009), 96-137; Harald Heppner, Olga Katsiardi (Hrsg.), Die Griechen und Europa. Außen- und Innensichten im Wandel der Zeit, Böhlau Verlag, Wien et al. 1998; Oliver Schulz, Ein Sieg der zivilisierten Welt? Die Intervention der europäischen Großmächte im griechischen Unabhängigkeitskrieg (1826-1832), Münster 2011.
Foto: Das Gebäude war das erste griechische Parlament und beherbergt heute das Ethnologische Historische Museum, das sich überwiegend, aber nicht ausschließlich, der Griechischen Revolution, dem Thema des Beitrages von Olga Katsiardi-Hering, widmet. Foto: Wolfgang Schmale, 30.1.2010.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Olga Katsiardi-Hering: Gedanken über die Ausstellung „Idee Europa: 200 Jahre Wiener Kongress“ und das Kongress-Erbe. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/olga-katsiardi-hering-griechische-revolution, Eintrag 26.10.2015 [Absatz Nr.].