[1] Vor 20 Jahren, 1994, suchten mein Kollege Reinhard Stauber (heute Uni Klagenfurt) und ich die Haustechnik der LMU München auf, liehen uns einen Schlagbohrer mit einem Bohrgestänge von 40 cm Länge und einem Durchmesser von 1 Zoll aus – und … ja, was taten wir mit solch schwerem Gerät? Nein, wir montierten keine Bücherregale, sondern montierten ein Computernetzwerk. Es gab ein Förderprogramm für die Vernetzung aller an einem Lehrstuhl aufgestellten Computer mittels zu verlegender Kabel. Es handelte sich ausschließlich um ein offline-Netzwerk, ein Intranet, das an den Wänden und Türen der Schwabinger Altbauwohnung, in der unsere Büros untergebracht waren, zwangsweise enden musste. Einen Internetzugang inklusive dreier Mail-Adressen für den gesamten Lehrstuhl gab es erst ein Jahr später. Dieses Intranet wurde wenig genutzt und war, kaum dass wir uns den Bohrstaub von den Schuhen gebürstet hatten, eigentlich schon veraltet: Primär- und Sekundärquellen, OPACs, Linksammlungen, Metadaten-Datenbanken, Archivinventare usw. wurden bereits digitalisiert und für den online-Zugang hergerichtet.
[2] Obwohl im Rückblick deutlich ist, dass solche von echter handwerklicher Arbeit hergeleitete Netzerrichtungen den Anfang dessen bildeten, was heute gerne Social Humanities genannt wird, rüttelten sie noch nicht am Festungsbau einer Universität mit akademischen Hierarchien. Sie rüttelten auch nicht daran, dass es nur ein Ziel wissenschaftlichen Schreibens geben konnte, die Monografie der Einzelautorin oder des Einzelautors, in der ein Forschungsproblem monografischen Umfangs mit dem Anspruch auf Autoritätsbildung ausgeleuchtet und gelöst wurde. Dahinter steht ein performativer Mechanismus, der im 21. Jahrhundert allerdings eine museale Anmutung besitzt. Wir leben in einer post-performativen Zeit.
[3] Das mit der Monografie gilt zwar immer noch, aber es ist ein „auch“ dazwischen zu schieben. 20 Jahre Wegstrecke in die Social Humanities haben akademische Traditionen stärker in Frage gestellt als es vielen bewusst ist, obwohl nirgendwo ein revolutionärer oder wenigstens umstürzlerischer Habitus zu erkennen ist. Den gab es im Wissenschaftssystem 1968, aber nicht in der Biografie der Social Humanities. Es ist die flüssige Moderne Zygmunt Baumans, die die Geisteswissenschaften erreicht hat – ziemlich spät eigentlich. Der Umstand, dass alles, was mit digitalen Kommunikationsnetzwerken zu tun hat, nicht in den Geisteswissenschaften erfunden wurde, sondern in der militärischen kriegsbedingten Forschung bzw. in Forschungsgroßprojekten wie dem CERN, spielt dabei eine Rolle, aber erklärt nicht alles, zumal man frühe Beispiele wie Roberto Busa mit seinem Index Thomisticus auf Lochkarten schon in den 1940er-Jahren findet. Der Grund für die generelle Verspätung liegt darin, dass die Figur, die in anderen Zusammenhängen der politische, soziale, militärische oder sonstwas Held bzw. Heldin ist, die erforderlichenfalls den Gordischen Knoten zerschlagen kann und die Situation löst, in den Geisteswissenschaften durch den Autor oder die Autorin einer Monografie verkörpert wird.
[4] Wir sehen aber überall, dass die Sache mit den Helden und Heldinnen nicht mehr funktioniert – im Film durchaus noch, weil die heldische Dramatik simpel, aber wirksam ist, auch noch eventuell im Roman, aber nicht mehr in der Politik oder sonstwo. An die große eine Idee, die etwas löst, an die eine Person, die Genie und Charisma verbindet und dadurch handlungsmächtig wird, glauben wir nicht mehr, weil es nicht mehr funktioniert. In den Geisteswissenschaften ist es ähnlich: Die Zeiten, in denen ein Fritz Fischer mit einem Buch die gesamte Debatte um Deutschland und den Ersten Weltkrieg in eine neue Bahn lenkte und alle, die nach ihm kamen, sozusagen dazu verpflichtete, sich mit seinen Thesen auseinanderzusetzen, sind vorbei.
[5] Geisteswissenschaftsgeschichtlich ist das nur ein beliebiges Beispiel, aber plastisch, weil wir 2014 Zeitzeugen sind, dass man mit Büchern zum Ersten Weltkrieg zwar Auflage erzielt, aber nicht den Ansatz einer Deutungshoheit. Die Geisteswissenschaften mussten ihre monografischen Türme verlassen und finden sich plötzlich als Produzenten von Narrativen unter Tausenden anderen Narrativen in einem riesigen Hypertext wieder, durch den sich die Nutzerinnen und Nutzer nach Maßgabe pluraler Motive bewegen. Übersicht zu gewinnen, ist schwer, die Such- und Denkbewegungen als Autor oder Autorin zu steuern, ist erst recht schwer oder unmöglich, Versuche, wieder monografische Türme zu errichten, sind ephemer. Dies zeigt sich an dem Paradoxon, dass ein Wissenschaftsbestseller den anderen jagt und sofort in dem riesigen Hypertext der Narrationen schrumpft, bevor er Standfestigkeit erreicht hat. Wir wissen dank Big Data Analysen, dass alle diese Bestseller zwar gekauft und in Feuilletons besprochen werden, es auch in Talkshows schaffen, aber so gut wie nicht tatsächlich gelesen werden. Jeder solide Aufsatz in einer führenden Fachzeitschrift mit einer vierstelligen Auflage hat sehr wahrscheinlich mehr tatsächliche Leser/innen als diese Ephemeriden.
[6] Die Versuche der Gegensteuerung, nämlich von Leuchtturmeinrichtungen in den Forschungsinstitutionen, von Exzellenzuniversitäten zu reden, oder hochdotierte und weniger hochdotierte Preise an WissenschaftlerInnen zu vergeben, ändern daran nichts, jedenfalls bei nüchterner und emotionsloser Betrachtung.
[7] Der Weg in die Social Humanities setzt viel früher als vor 20 Jahren an. Schon die geisteswissenschaftlichen Monografen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mussten von der Höhe ihrer Leuchttürme aus mit ansehen, wie der Spiegel des Meeres von wissenschaftlichen Zeitschriften und Aufsätzen unaufhaltsam höher stieg. Was uns heute der Blogeintrag, ist in der Zeit der Zeitschriftenaufsatz. Er beschleunigte die Wissensfindung und die Kritik an den Forschungsergebnissen ungemein. Salvatorische Sätze wie, dass die Literatur zum behandelten Thema unüberschaubar geworden sei, findet man schon früh. Es folgte eine Zunahme an Kongressen, internationalen Kongressen – und dieser Wissenschaftsbetrieb gebar etwas, was man bald Sammelband nannte. Obwohl dies alles nach den Regeln der Gutenberggesellschaft ablief, können sich die Geisteswissenschaften schon seit langem nicht mehr, und zwar objektiv, nicht nur in salvatorischer Subjektivität, vor der Publikationsflut retten. Die meisten Beiträge in den meisten Sammelbänden haben höchstwahrscheinlich weniger Leserinnen und Leser als viele wissenschaftliche Blogs. Den Blogs wird es nicht anders gehen; in den letzten 5 Jahren sind diese exponentiell angestiegen, der Moment, wo es unüberschaubar geworden ist, wird schnell erreicht.
[8] Gleichwohl haben Blogs derzeit Vorteile: Im Wissenschaftsjournalismus und in den Wissenschaftsfeuilletons wird zwar weiterhin ebenso tapfer wie brav über Tagungen und Printpublikationen berichtet, aber die Hürdenlosigkeit eines wissenschaftlichen Blogs führt dazu, dass der Blog als zitierfähige Informationsquelle verschiedenste Qualitätsmedien erobert und sich rühmen darf, in der Gunst des Wissenschaftsjournalismus mit Wikipedia gleichzuziehen.
[9] Der – oder das – Blog treibt den Prozesscharakter von Wissenschaft voran. Tweets tun das noch mehr, aber diese können trotz Archivierung ihren Ephemeridencharakter nicht ablegen. Sie beschleunigen konkrete Prozesse etwa im Kontext eines Forschungsprojektes oder einer Tagung, aber sie sind nicht das Medium sich stabilisierender wissenschaftlicher Erkenntnis. Das sind Blogs hingegen schon. Ich sehe geisteswissenschaftliche Forschung und Geisteswissenschaft als hypertextuellen Prozess. Dies ist auch etwas anderes als Teamwork in den Geisteswissenschaften: Das eingangs erwähnte Lehrstuhlcomputervernetzungsprogramm sollte mehr Teamarbeit etablieren helfen. Echte Teamarbeit haben wir in den Geisteswissenschaften aber nie gehabt; jetzt brauchen wir sie auch nicht mehr wollen, weil wir uns jetzt im prozessualen Wissenschaftszeitalter befinden.
[10] Der Blog ist dessen genuiner Ausdruck, weil er nicht nur dazu beisteuert, die vielen Erkenntnisschritte, aus denen der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt besteht, zeitnah zu publizieren, zu einem Gemeinschaftsgut zu machen und bis zu einem gewissen Grade schon so etwas wie Schwarmintelligenz einzufordern, die der Lohn des Teilhabenlassens ist, sondern weil er mit anderen nicht-wissenschaftlichen Blogs in derselben Wolke schwebt. Blogs sind zumeist eingebunden in weitere Social Media, also vollgültige Teile von Web 2.0, und tragen zur aktiven Dissemination von Forschungsprozessen im weitesten Wortsinn bei. Diese Dissemination erfordert zugleich Reziprozität. Es handelt sich um eine andere Qualität als die Veröffentlichung wissenschaftlicher Ergebnisse auf Seiten, die auf dem einen oder dem anderen Weg gefunden werden können und die eine Kommentarfunktion besitzen. Zugleich erobert der Blog diese Standseiten und remedialisiert sie. Erst jetzt kommen wir in den Geisteswissenschaften zu so etwas wie einem tatsächlich partizipativem Web.
[11] Es ist ein Streit, ob Wissenschaft und Schwarmintelligenz zusammengehen können, wie auch die Existenz von Schwarmintelligenz bestritten werden kann. Gleichwohl bedeutet das Bestreiten, die Augen vor der seit Jahrzehnten vorangetriebenen Verwissenschaftlichung der Lebenswelt zu verschließen.
[12] Auf das Resultat dieser Verwissenschaftlichung spielt der Begriff der Schwarmintelligenz aber in unserem Zusammenhang an. Der oben angesprochene teilweise Funktionsverlust des heldischen Autors oder der heldischen Autorin hat mit diesen Schwärmen zu tun. Diese existieren zudem bereits im rein wissenschaftlichen Raum. Zu denken ist dabei an den Hype des peer-reviewing nicht nur bei Aufsätzen, sondern bei Zeitschriftenartikeln, Buchbeiträgen, Büchern und Anträgen aller Art, vom kleinen Reisestipendium bis zum Forschungsprojekt. Das funktioniert allein deshalb, weil den Angehörigen des Wissenschaftssystems beigebracht wurde, an Schwarmintelligenz zu glauben. Den Schwarm gibt es wirklich, er ist riesig, er reagiert vorwiegend auf Tags. Das Schwarmgehirn ist also einfach: Du sprichst bestimmte Tags an, und schon bewegt sich der Reviewer-Schwarm in die von Dir gewünschte Richtung. Du musst Dich lediglich der Norm beugen, denn die Tags sind normiert. Die Normierung selber ist eine quantitative: die Häufigkeit des Vorkommens. Wissenschaftliche Kreativität, die Risiko in sich birgt, die nicht dem Kriterium der Häufigkeit entspricht, irritiert den Schwarm und sein Gehirn.
[13] Zurück zum Blog selber und seinen Funktionalitäten: Wir alle sind natürlich nicht naiv; wir wissen, dass der Blog den Wickeltisch gegen den Laufstall, und den Laufstall gegen die freie Flur eingetauscht hat. Will heißen, der Blog ist längst ein Instrument, doch wieder als Alleinautorin oder -autor die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Zumindest ist er ein Instrument im „Kampf um die Ressource Aufmerksamkeit“. Die Nutzung von Medien in den Wissenschaften folgt keiner linearen Entwicklung zu immer mehr und immer mehr verschiedenen Medien, sondern zeitigt einen Zickzackkurs. Es wird immer ein neuer Haken geschlagen, sobald aus der anfänglichen Freiheit und Kreativität ein Muss, ein Zwang, ein Standard wird. Der Haken, den das Medium Blog schlägt, hat das Ziel, die Autorin oder den Autor im Schwarm größer zu machen. Man kann sich den Tags nicht entziehen, aber man kann solche Tags setzen, die die anderen ansprechen müssen. Das ist bescheidener, als als Autor oder Autorin das Licht oben im Leuchtturm sein zu wollen, aber vielleicht derzeit erfolgversprechender. Und machen wir uns nichts vor: wir alle fahren Erfolgsstrategien.
[14] Es wäre zu einfach, Blogs als Symptome des Prekariats und der Unterwerfung unter die Bedingungen des Neoliberalismus zu interpretieren, das ergäbe ein falsches Bild, aber eine unkritische Sichtweise wäre unwissenschaftlich. Wir müssen versuchen, die Zusammenhänge zu sehen: Ich habe den Schwarm, den die peer-reviewers bilden, ebenso angesprochen wie das Funktionieren des Schwarmgehirns. Die Attraktivität des Bloggens könnte eine doppelte Ausweichstrategie anzeigen: einerseits sich dem peer-reviewing-Schwarm entziehen, andererseits mittels dieser Selbsttechnologie ein erkennbarer Autor, eine erkennbare Autorin zu sein oder zu werden, die oder der im Schwarm größer als andere ist.
[15] Was wir ebenfalls sehen müssen, ist die open access Strategie, die gerade auch von Organisationen, die die Forschung fördern, vorangetrieben wird. Forschungsergebnisse sind gratis, open access, nicht nur der scientific community, sondern der Allgemeinheit und Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Das System etabliert sich allmählich, es ist absehbar, dass es bald ein Zwangssystem sein wird. Gemessen an den traditionellen performativen Praktiken der Geisteswissenschaften, die an der Stellung der Monografie pars pro toto festgemacht werden können, handelt es sich um eine Enteignung wissenschaftlichen Eigentums und seine Übertragung von den ForscherInnen als individuellen Wissenschaftspersönlichkeiten an den, der das notwendige Kapital für die wissenschaftlichen Produktionsmittel hat und zur Verfügung stellt.
[16] Ob ich meine Daten bei einer beliebigen Webaktivität ungefragt hergeben muss, die schon an die nächste Firma verkauft sind, bevor ich überhaupt ein Rechercheergebnis angezeigt bekomme, oder ob ich im genannten Wege meiner wissenschaftlichen Erkenntnis enteignet werde – es handelt sich um einen einzigen Zusammenhang, um ein und denselben Kontext, in dem wir auch das Bloggen spiegeln müssen. Das vielzitierte „enhancing“ wissenschaftlicher Prozesse u.a. durch das Bloggen beschleunigt nicht nur, im Idealfall, den Forschungsfortschritt, sondern beschleunigt auch die neuen Abhängigkeiten und eingeforderten Unterwerfungen. Der monografische Habitus der Geisteswissenschaften hatte und hat durchaus etwas mit individueller Unabhängigkeit zu tun, die der Schwarm aber allmählich auflöst. Sind Bloggerinnen und Blogger so gesehen auch und vielleicht wider Willen schwarmbildend?
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Potentiale und Auswirkungen von wissenschaftlichen Blogs. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/potentiale-und-auswirkungen-von-wissenschaftlichen-blogs, Eintrag 31.05.2015 [Absatz Nr.].
Ich weiß nicht, ob es zu kurz greift, Peer-Reviewing als Symptom des Schwarmhaften zu interpretieren. Letztlich lässt sich m.E. nämlich jeder wissenschaftliche „Konsens“ als Ausdruck von einer gewissen Schwarmintelligenz deuten. Klassische „Denkschulen“ erzeugten somit gewisse Strukturen und besaßen Anziehungskraft; für eine Revolution ist nach Kuhn ebenfalls eine kritische Masse an Konsenswilligen nötig, um sie herbeizuführen. Den Vorteil des Web 2.0 sehe ich darin, dass es Schwarzbewegungen visualisieren kann, sie transparent macht. Aber natürlich letztlich ist wissenschaftliches Bloggen keine Erlösung für den Publikationsprozess, sondern nur eine Modifikation, die vor neue Herausforderungen stellt.
Die Menschen wollen Helden, können wir sie einfach wegwünschen?
Die Sehnsucht der Menschen nach „Expertise mit Gesicht und Namen“ ist so
tief, warum nicht auch damit spielen?
Ich würde den Helden der Wissenschaft nicht verabschieden, sondern mit dem
„Narren“ der Wissenschaft austauschen. Der Narr ist ein Held zweiter
Ordnung, daher entlarvt er seinen mit allen am Diskurs Beteiligten
geteilten Personenkult, ohne Inhaltliches einzubüßen. Egon Friedells
„Kulturgeschichte der Neuzeit“ wurde in der akademischen
Kulturgeschichtsschreibung nicht akzeptiert, weil er in der Vorrede
zugibt, abzuschreiben, nach eigenem Geschmack auszuwählen, dem
Anekdotischen den Vorrang zu geben und dem wissenschaftlichen Narzissmus
einen Spiegel vorzuhalten.