Skandinavist und Hobbyepidemiologe Georg Bauer über die schlecht informierte und verfehlte Debatte zur „schwedischen Strategie“ und worüber wir eigentlich diskutieren sollten.
[1] Eines vorweg: Ich bin weder Epidemiologe, Virologe, Statistiker, noch sonst Angehöriger einer der für die Covid-19-Krise relevantesten Expertenberufen, womit ich mich also nicht sonderlich vom Gros des Standardforums und anderer Tummelplätze der hobbyepidemiologischen Ideologieschlacht unterscheide. Dies sollte man beim Lesen dieses Beitrags – aber eigentlich ganz grundsätzlich bei den meisten zur Covid-19-Krise erscheinenden Artikel – bedenken. Das sollte uns nicht per se davon abhalten zu diskutieren, schließlich sind sich ja selbst die Fachexperten uneinig, aber es sollte uns doch einer gewissen Demut an die Sache herangehen lassen.
[2] Womit ich mich aber durchaus vom Standardforum und von den meisten Journalisten unterscheide, ist, dass ich neben Geschichte und Menschenrechte auch Skandinavistik studiert und einige Zeit in Schweden gelebt habe. Dadurch kann ich schwedische Quellen und Artikel im Original konsumieren und laufe weniger Gefahr über mehrere Quellenketten eingeschlichene Fehler zu übernehmen, wie das auch der schwedische Politikwissenschaftler Michal Smrek beklagt, und bin grundsätzlich näher an der schwedischen Debatte dran.
[3] Und noch eines: Welcher Weg der geeignetste war/ist, wird sich wohl erst in vielen Monaten erweisen; warum die Pandemie in manchen Ländern anders abläuft als in anderen, hat eine Vielzahl an Gründen, von denen wir viele noch nicht verstehen. Ein endgültiges Urteil über den „schwedischen Weg“ ist daher zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, höchstens eine Zwischenbilanz und gekonntes Raten, was noch kommen könnte. Selbst schwanke ich oft zwischen komplettem Unverständnis für die schwedische Vorgangsweise einerseits, und Zweifel, ob sie es nicht doch besser machen; meist überwiegt allerdings ein eher negativ-kritisches Bild.
[4] Am wichtigsten ist mir bei der Debatte jedoch, dass sie im Moment eigentlich nicht besonders relevant ist und dazu beiträgt, dass wichtigere Diskussionen zu wenig geführt werden – doch dazu später.
Was machen die schwedischen Behörden?
[5] Mittlerweile scheint sich ja zumindest schon rumgesprochen zu haben, dass die schwedischen Behörden nicht nichts tun. Gerade zu Beginn der Berichterstattung zu Schweden hätte man ja meinen können, das Land feiere eine einzige große Coronaparty in der Villa Kunterbunt. Doch bevor wir uns die Maßnahmen ansehen, ist es wichtig zu verstehen, wer über die Maßnahmen entscheidet.
[6] Während in den meisten Ländern Regierungen und Parlamente entscheiden, was für Maßnahmen letztlich ergriffen werden, hat die schwedische Politik dies, wie auch vorgesehen, größtenteils den Behörden überlassen, allen voran der Behörde für Public Health (folkhälsomyndigheten, FHM). Diese hat „die übergreifende, nationale Verantwortung, die Bevölkerung vor ansteckenden Krankheiten zu schützen und den Schutz vor Ansteckung landesweit zu organisieren.“ Dabei erlässt die FHM „Vorschriften, Empfehlungen und Anleitungen für das Gesundheits- und Pflegepersonal, um eine effektive Ansteckungspräventionsarbeit sicherzustellen.“ Dies beinhaltet auch die Bereitschaftsplanung vor dem Ausbruch ansteckender Krankheiten.
[7] Die FHM hat die Möglichkeit, drei verschiedene Arten von Bestimmungen zu erlassen:
- Vorschriften (föreskrifter); diese sind rechtlich bindend, Verstöße werden geahndet;
- Allgemeine Ratschläge (allmänna råd); diese sind Empfehlungen, wie ein Ziel zu erreichen ist, müssen aber nicht eins-zu-eins umgesetzt werden, wenn man zeigen kann, dass man das Ziel auch anders erreichen kann (z.B. Ziel: Verhinderung der Ausbreitung von Covid-19 am Arbeitsplatz; allgemeiner Rat: von zu Hause arbeiten);
- Empfehlungen (rekommendationer); diese sind unverbindlich.
[8] Von allen drei Möglichkeiten hat die FHM Gebrauch gemacht, zusätzlich hat die Regierung weitere Maßnahmen auf Empfehlung der FHM beschlossen. Folgende Maßnahmen wurden so beschlossen:
- Versammlungen (sammankomster) wurden zunächst (11.3.) auf 500 Personen beschränkt, später auf 50 (27.3.);
- Gymnasien (entspricht bei uns ca. der Oberstufe), Hochschulen und Erwachsenenbildungseinrichtungen wurde am 17.3. empfohlen, auf Fernunterricht/E-Learning umzusteigen, was auch befolgt wird; Grundschulen (Jahre 1-9) blieben allerdings weiterhin geöffnet;
- Am 24.3. erließ die FHM neue Vorschriften für den Gastronomiebereich ähnlich denen, die nun auch in Österreich gelten; theoretisch würde das allen Gastronomiebetrieben weiterhin erlauben, offen zu halten, praktisch allerdings hat das dazu geführt, dass die meisten Nachtclubs und viele Bars zusperrten, was kein unwichtiges Detail ist;
- Am 31.3. beschloss die Regierung ein landesweites Besuchsverbot in Altersheimen, wovon vorher nur „scharf abgeraten“ wurde;
- Mitte März gab die FHM zunächst einige Empfehlungen aus, wie, dass Ältere ihre sozialen Kontakte begrenzen sollten, oder dass man nur reisen sollte, wenn unbedingt notwendig;
- Am 1. April wurden dann genauere allgemeine Ratschläge herausgegeben; diese empfehlen, unter anderem, Menschen über 70 und anderen Risikogruppen, soziale Kontakte zu vermeiden; grundsätzlich Abstand zu halten und sich die Hände zu waschen; wenn möglich, von zu Hause aus zu arbeiten; wenn man sich auch nur ein bisschen krank fühlt, zu Hause zu bleiben; die Anzahl an Fahrgästen in öffentlichen Verkehrsmitteln gering zu halten; Geschäften Maßnahmen zu ergreifen, dass Kunden Abstand halten können, bzw. die Maximalanzahl an Kunden im Geschäft zu begrenzen.
[9] Auch in der täglichen Kommunikation betont die FHM unermüdlich sechs Punkte: 1) bleib zuhause, wenn du dich krank fühlst; 2) 70+ und andere Risikogruppen sollen soziale Kontakte vermeiden; 3) Hände waschen; 4) Abstand halten, drinnen und draußen; 5) größere soziale Events vermeiden; 6) unnötige Reisen vermeiden.
[10] Zwangsmaßnahmen will man aus Prinzip eher gering halten, man baut auf die Kooperationsbereitschaft, Vernunft und Eigenverantwortung der Bevölkerung.
[11] Getestet wird in Schweden vergleichsweise wenig, mit 27.5. wurden insgesamt 238.800 Personen auf Covid-19 getestet, in Österreich 418.706. Tendenz in Schweden steigend, aber immer noch geringer als in Österreich (in Kalenderwoche 21: S: 28.000, Ö: 39.348).
Was wollen die schwedischen Behörden erreichen?
[12] Der globale Grundtenor von „Flatten the Curve“ ist auch in Schweden das erklärte Ziel (plana ut kurvan). Risikogruppen sollen speziell geschützt werden, während die Verbreitung der Krankheit auf einem Niveau gehalten werden soll, welches das Gesundheitssystem nicht überlastet.
[13] So weit, so ähnlich scheinend. Jedoch, auch wenn die Maßnahmen ähnlich derer in anderen Ländern sind und auf physische Distanzierung zwischen Menschen abzielen, so gibt es doch wichtige, gravierende Unterschiede. Wie das auch fünf Forscherinnen und Forscher in einem Artikel kritisieren, hat Schweden eine „Bremsstrategie“ (Mitigation) gewählt, anstatt des „Hammer und Tanz“ (Suppression).
[14] Sehr kurz gefasst hat Schweden, wie auch der Rest Europas, es nicht geschafft zu verhindern, dass Covid-19 ins Land kommt und sich verbreitet, wie das zum Beispiel Taiwan gelungen ist. Daher musste auf die bereits bestehende Verbreitung reagiert werden; der „Hammer“, also umfassende, zeitlich begrenzte „Lockdowns“ wie in den meisten europäischen Ländern, zielen darauf ab, die Verbreitung des Virus auf ein sehr niedriges Niveau zu drücken, um dann neue regionale Cluster und Ansteckungsketten schnell entdecken und unterdrücken zu können. Dies wird im „Tanz“ dann fortgeführt, bis eine erfolgreiche Behandlungsmethode und/oder eine Impfung vorhanden ist.
[15] Die FHM hingegen wählte eine Mitigationsstrategie, bei der man die Verbreitung des Virus zwar nicht vollständig zu unterdrücken versucht, sie allerdings verlangsamt, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern (und zusätzlich Risikogruppen speziell zu schützen versucht).
[16] Inwiefern dahinter das Ziel steht, eine Herdenimmunität durch Durchseuchung zu erreichen, ist eine umstrittene Frage. Die FHM und die schwedische Regierung werden nicht müde zu betonen, dass Herdenimmunität nicht das Ziel sei. Jedoch kann man schwer ignorieren, wie oft sich der Chefepidemiologe der FHM, Anders Tegnell, oder auch seine beiden Vorgänger, positiv gegenüber dem Erreichen einer Herdenimmunität geäußert haben. Die ständigen und optimistischen Berechnungen der FHM, wie weit man mit der Herdenimmunität schon sei, deuten auch darauf hin, dass diese, wenn schon nicht erklärtes Ziel, dann zumindest ein „Nebenprodukt“ der schwedischen Mitigationsstrategie sein sollte.
[17] Eine weitere Überlegung der schwedischen Strategie scheint auch zu sein, dass der gewählte Weg die Wirtschaft weniger stark belaste, da man keinen vollständigen Lockdown verordnete. Die getroffenen Maßnahmen sind so gestaltet, dass man sie möglichst lange beibehalten kann, auch mit einem Blick auf die Wirtschaft. Und schließlich sollen die Maßnahmen auch breiter gesehen werden, die Risiken und gesundheitlichen Auswirkungen von beispielsweise Schulschließungen werden einberechnet – weshalb man davon für Grundschulen eben absah.
Bisherige Resultate
[18] Was sind nun die bisherigen Resultate der schwedischen Strategie?
[19] Dass das Vorhaben, ältere Personen besonders zu schützen, nicht gelungen ist, leugnet nicht einmal die FHM selbst. Covid-19 hat seinen Weg in über 75% aller Altersheime in Stockholm gefunden, Anfang Mai waren in ganz Schweden in über 500 Altersheimen zumindest zu einem gewissen Zeitpunkt Bewohner infiziert. Zu diesem Zeitpunkt waren auch die Hälfte der damaligen Covid-19-Toten in Stockholm in Altersheimen zu beklagen.
[20] Das zweite Ziel, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, scheint hingegen zumindest bisher gelungen. Allerdings sehr knapp – die Belastung war in den letzten Wochen „extrem“ und ist, auch wenn sie etwas zurückgegangen ist, weiterhin „sehr hoch“, wie Taha Alexandersson, stellvertretende Krisenbereitschaftschefin in der obersten Sozialbehörde (socialstyrelsen), nicht müde wird, zu betonen. Besonders Stockholm ist, wie im Allgemeinen was die Auswirkungen der Pandemie betrifft, hier am stärksten betroffen.
[21] Schweden hat es innerhalb kürzester Zeit geschafft, seine Anzahl an Intensivbetten stark auszubauen; seit Beginn der Pandemie waren auch immer noch Kapazitäten vorhanden. Nach einem starken Anstieg bis Mitte April lag die Anzahl an Intensivpatienten einige Wochen auf einem Plateau von über 500, Mitte Mai ist die Zahl erstmals auf unter 400 zurückgegangen, im Moment (27.5.) liegen 331 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 1726 in normalen Spitalsbetten (in Ö: 32, bzw. 84). Allerdings gibt es auch Berichte von Ärzten, dass bei weitem nicht alle, die Intensivbehandlung benötigen würden, diese auch bekommen und daher oft Menschen unnötig sterben würden.
[22] Trotz der erhöten Kapazitäten zehrt die Pandemie an den Kräften des Gesundheitspersonals, denn während man mehr Intensivbetten aufstellen konnte, blieb das Personal fast auf dem selben Niveau, was zur Folge hatte, dass sich das selbe Personal um viermal mehr Patientinnen und Patienten kümmern muss. Gleichzeitig bildet sich ein starker Rückstau an behandlungsbedürftigen Patienten mit „normalen“ Krankheiten.
[23] Das Ziel, die Wirtschaft zu schützen, scheint bisher nicht gelungen. Zwar hat das Ausbleiben eines Lockdowns zu weniger starkem Einbrechen der Wirtschaft im ersten Quartal 2020 geführt, allerdings sieht es nicht danach aus, als ob Schweden auf lange Sicht wirtschaftlich besser aus der Covid-19-Krise herauskommt, nicht zuletzt, da auch die schwedische Wirtschaft stark auf Export beruht. Der Internationale Währungsfonds rechnet für 2020 mit einem Verfall des BIP um -6,8% (für Österreich -7,0%), es gibt neue Rekorde an Kurzarbeit (korttidsarbete/permittering), zu Kündigung angemeldeter (varsel) und die Regierung rechnet mit 9-13,5% Arbeitslosigkeit dieses Jahr.
[24] Heftig diskutiert ist schließlich auch die Frage, wie weit es denn mit der Herdenimmunität sei. Eine kürzlich veröffentlichte Studie der FHM zeigt, dass Ende April ca. 7,3% der Bevölkerung Stockholms Antikörper gegen SARS-cov-2 gebildet hatten, also zu diesem Zeitpunkt bereits mit dem Virus angesteckt (gewesen) waren. Dies widerspricht mehreren früheren Prognosen der FHM und mit ihr arbeitender Experten wie der Mathematiker Tom Britton; so ging Britton Anfang April davon aus, dass Ende April bereits die Hälfte des Landes angesteckt sein könnte; am 20. April rechnet er mit 30% Infizierten in Stockholm zu diesem Zeitpunkt; ein paar Tage später rechnet die FHM mit ca. 26% für Stockholm. Als am 20. Mai die oben erwähnte Studie präsentiert wird, gibt sich immerhin Britton etwas verwundert; Anders Tegnell von der FHM hingegen erklärt etwas fragwürdig mit Extremwerten, dass das den eigenen Prognosen nicht widerspricht und diese daher auch nicht angepasst werden müssten. Fest steht, dass man den für die allgemein für Herdenimmunität genannten nötigen 60-70% Immunen landesweit noch weit entfernt ist.
Vergleiche
[25] Der – zumindest von Kritikern – meistgenannte Unterschied zwischen Schweden und Österreich, ist die Anzahl an Covid-19-Toten. Mit 27.5. sind 4220 Menschen in Schweden an, beziehungsweise mit Covid-19 gestorben, in Österreich 638 – also gut über 6 Mal so viele Tote in Schweden wie in Österreich in absoluten Zahlen. Auf 100.000 Einwohner kommen in Schweden 40,51 Covid-19-Tote, in Österreich 7,27. Ähnlich stark sind Schwedens Unterschiede zu ihren Nachbarn Dänemark, Norwegen und Finnland, die wohl kulturell und strukturell am besten mit Schweden zu vergleichen sind, allerdings einen Lockdown durchgeführt haben.
[26] Grundsätzlich sind alle Daten- und Zahlenvergleiche aufgrund unterschiedlicher Zähl- und Testungsmethoden, aber auch vieler anderer Faktoren, natürlich immer mit Vorsicht zu genießen. Die Unterschiede zu den anderen nordischen Ländern sind allerdings eklatant, worauf kritische Stimmen in Schweden auch immer wieder hinweisen. Anders Tegnell von der FHM verweist dann immer auf andere Länder, die zwar einen Lockdown durchgeführt haben, aber noch mehr Tote haben als in Schweden, wie zum Beispiel Belgien oder die Niederlande.
[27] Beim Betrachten der schwedischen „Todeskurve“ ist es wichtig zu wissen, dass es eine starke Verzögerung der Todesmeldungen gibt, im Schnitt dauert es laut Tegnell neun Tage bis 90% aller Todesfälle eines Tages gemeldet wurden. Das heißt, dass es bei einem Blick auf die offiziellen Grafiken immer so wirkt, als ob die Kurve stark nach unten gehen würde, doch das täuscht.
[28] Die Anzahl der täglichen Toten stieg von 11. März stark an, bis ca. zur ersten Aprilwoche, hielt sich auf ihrem bisher höchsten Niveau von fast 100 Toten täglich (5.-20.4.), sank dann um auf einem Plateau von 81/Tag zu bleiben; von 21.4.-11.5. lag sie bei 74/Tag. Seither ist die Tendenz weiter leicht fallend, allerdings aufgrund der zahlreichen „Nachmeldungen“ noch unsicher zu berechnen.
[29] Das Sterben ist also leider wohl noch nicht zu Ende. Dazu muss man bedenken, dass man in Schweden eigentlich einige Voraussetzungen vorfindet, die einer starken Verbreitung des Virus zumindest etwas entgegenwirken müssten, im Gegensatz zu vielen südlichen, härter getroffenen Ländern; dabei ist die grundsätzliche Distanziertheit der Schweden zu nennen, aber auch die Wohnverhältnisse; zwar hat Schweden einen hohen Urbanisierungsgrad, allerdings hat es auch die niedrigste durchschnittliche Haushaltsgröße der EU, mit nur 1,8 Personen pro Haushalt im Jahr 2018 (Belgien 2,3, Österreich 2,2).
[30] Problematisch wird sicher auch der Rückstau im Gesundheitssystem, denn währen man in Österreich seit Mitte April beginnen konnte, verschobene Operationen wieder aufzunehmen, wird dies angesichts der noch immer sehr hohen Belastung in Schweden sicher noch einige Zeit dauern. Außerdem wartet die nächste Herausforderung für das Gesundheitswesen, nämlich Reha für eine hohe Anzahl grundsätzlich genesener Covid-19-Patienten, vor allem für diejenigen, die einen schweren Krankheitsverlauf hatten.
[31] Fraglich ist auch, ob die psychische Belastung der Bevölkerung durch die Maßnahmen in Schweden tatsächlich niedriger sei als in anderen Ländern, wie das Anders Tegnell gerne behauptet. Gerade für Risikogruppen könnte dies sogar umgekehrt sein, wird diesen doch weiterhin empfohlen, zu Hause zu bleiben – also quasi im Lockdownmodus zu operieren. Und das wird wohl noch länger so bleiben müssen, wenn man den allgemeinen Verbreitungsgrad der Krankheit in Schweden bedenkt. In Österreich ist das Ansteckungsrisiko aufgrund der geringegn Verbreitungsrate um einiges niedriger, Risikogruppen haben also weniger zu befürchten und können sich freier bewegen. Wann dies in Schweden wieder möglich ist, ist unklar; positiv auf deren psychische Gesundheit dürfte sich das kaum auswirken.
[32] Durch die weite Verbreitung des Virus durch Mitigation statt Suppression hat auch Schweden einen weiteren entscheidenden Nachteil: Kontakpersonennachverfolgung (contact tracing, smittspårning) ist so gut wie unmöglich und auch nicht geplant. Das Ziel in Ländern mit Suppressionsstrategie, beziehungsweise einem zeitlich begrenzten Lockdown, ist es, bei der schrittweisen Wiedereröffnung der Gesellschaft, neue Ansteckungsketten und Cluster frühzeitig zu erkennen, und durch Kontaktpersonennachverfolgung zu druchbrechen, was weitere landesweite Lockdowns verhindern und ein halbwegs normales Leben ermöglichen soll. Davon ist Schweden weit entfernt.
[33] Durch das Ausbleiben einer Herdenimmunität und der derzeit kaum möglichen Kontaktpersonennachverfolgung, wird Schweden daher auch kaum seine Maßnahmen lockern können; es könnte also sein, dass Länder mit stärkeren Einschnitten schon bald „freier“ sein werden, als Schweden es bisher ist. Eine weitere Konsequenz: Während im Norden, beziehungsweise auch EU-weit, über Grenzöffnungen nachgedacht wird, gibt es viele Stimmen, die Schweden von solchen Grenzöffnungen ausnehmen wollen. Selbst innerhalb der Nordischen Passunion (SE, FI, DK, NO, FO), in der schon seit den 1950ern Personenfreizügigkeit herrscht, äußern viele Bedenken, Schweden in anstehende Grenzöffnungen einzubeziehen.
[34] Es fallen also die meisten Argumente, mit denen versucht wird, die vergleichsweise vielen Toten und schwer Erkrankten in Schweden zu rechtfertigen. Zusammenfassend kann man konstatieren:
- Der Schutz der älteren Bevölkerung ist misslungen;
- die Wirtschaft wird voraussichtlich genauso stark betroffen sein, wie in anderen Ländern;
- das Gesundheitssystem steht seit Wochen unter extremer Belastung, die auch durch anstehenden Reha-Programme noch anhalten wird;
- Kontaktpersonennachverfolgung ist unmöglich;
- von einer Herdenimmunität ist man weit entfernt;
- die Restriktionen, ob freiwillig oder verordnet, müssen damit wohl länger aufrechterhalten werden; dies gilt insbesondere für Risikogruppen.
Die schwedischen Behörden und ihr anti-Trump
[35] Ein weiteres Argument, das positiv für das schwedische Modell in die Diskussion gebracht wird, ist, dass durch weniger Zwang und Vorschriften und mehr Vertrauen zur Bevölkerung, Grundwerte und -rechte weniger eingeschränkt werden, als durch verordnete Ausgangsbeschränkungen. Dies mag per se nicht falsch sein (obwohl man mit der Argumentation auch Verkehrsregeln abschaffen könnte, denn eigentlich sollte jeder Mensch vernünftig genug sein, sich nicht mit 1,8 Promille hinters Steuer zu setzen), ignoriert aber andere Aspekte des schwedischen Modells, die meiner Meinung nach weniger demokratisch sind.
[36] Dies hängt stark mit der Entscheidungsfindung durch die FHM ab. Während in vielen Ländern wie in Österreich Expertengremien zusammengestellt wurden (an denen es natürlich auch genug zu kritisieren gibt, siehe Martin Sprenger), auf deren Anraten dann demokratisch legitimierte Politiker Entscheidungen treffen, entscheidet in Schweden die FHM mehr oder weniger allein, beziehungsweise folgt die Regierung ihren Vorschlägen, wenn die FHM etwas nicht selber erlassen kann. Außenstehende Forscherinnen und Forscher werden nicht einbezogen oder angehört; diese fühlen sich daher bemüßigt, ihre Kritik über Medien auszurichten und beklagen stark mangelnde Transparenz. Was genau der Plan der FHM ist, und auf welchen Daten und Annahmen dieser basiert, weiß man nicht.
[37] Die größte Aufmerksamkeit und den größten Einfluss bekommt seit Ausbruch der Pandemie Anders Tegnell, oberster Epidemiologe (statsepidemiolog) der FHM. Er ist das Gesicht und wohl auch das Hirn der schwedischen Strategie und verkörpert in gewisser Weise einen anti-Trump: Klug, gebildet, faktenbasiert, ruhig, selbstsicher, wissenschaftlich, vertrauenswürdig. Zumindest scheint er so. Dieses Auftreten mag auch zur Folge haben, dass offensichtliche Fehler, beziehungsweise Fehleinschätzungen, vergessen werden, und er weiterhin von vielen Menschen in Schweden wie ein Held verehrt wird.
[38] So hat die FHM die Gefahr einer Ausbreitung in Schweden unterschätzt; die Anzahl Immuner wiederholt überschätzt; die Anzahl an Toten mehrmals grob unterschätzt; bis heute (26.5.) gibt die FHM auf ihrer Seite auch an, dass asymptomatische/präsymptomatische Ansteckung nur einen sehr geringen Anteil ausmacht und das deswegen vernachlässigbar ist.
[39] Auf diese Fehleinschätzung haben kritische Forscherinnen und Forscher schon lange hinzuweisen versucht; beispielhaft, wie mit solcher Kritik umgegangen wird, war, als Tegnell dazu mit der Virologin Lena Einhorn diskutierte. Als diese auf Studien verweist, die sehr eindeutig auf prä-/asymptomatische Übertragung hinweisen, antwortet Tegnell lapidar: „Es gibt eigentlich keine guten Studien.“
[40] Ein beliebtes Argument ist auch, dass man Länder nicht vergleichen könne. Als man Tegnell auf eine Studie aus Spanien verwies, die auf einen niedrigen Anteil an Personen hindeutet, die Antikörper gebildet hätten, sah Tegnell keinen Grund, seine Einschätzung an hoher Immunität in der schwedischen Bevölkerung zu revidieren, denn „jedes Land ist einzigartig.“ Allerdings verweist er selbst gern auf andere Länder, die zwar einen Lockdown hatten, aber trotzdem viele Tote zu beklagen haben.
[41] Auch, dass ein genereller Unterschied in der Strategiewahl zwischen Schweden und anderen Ländern besteht (s.o., Mitigation vs. Suppression), verneint Tegnell ganz einfach. An die Möglichkeit, den „Tanz“ erfolgreich durchzuführen, glaubt er nicht und stellt die Strategie falsch dar.
[42] Dabei wiederholt er gern das Mantra der schwedischen Behörden, dass es keine wissenschaftlichen Beweise für die Wirkung von zum Beispiel harten Ausgangsbeschränkungen gäbe und dass man sich grundsätzlich auf wissenschaftliche Evidenz stütze. Unabhängig davon, dass es bei einem neuen Virus logischerweise noch kaum 100-prozentiges Wissen geben kann – ein weiterer Grund, durch einen Lockdown Zeit zu gewinnen –, hält sich die FHM aber auch selbst nur selektiv an diesen oder andere Grundsätze. Als am 7. Mai bei der täglichen Pressekonferenz nach neuer Beurteilung weiterhin nicht zum allgemeinen Tragen von Mund-Nasen-Schutz selbst in der Alterspflege empfohlen wird, weist die Vertreterin der FHM Malin Grape darauf hin, dass es keine wissenschaftliche Evidenz gibt, dass dieser helfe, es allerdings durch Nebeneffekte gar schlimmer werden könne (falsche Verwendung, falsches Sicherheitsgefühl).
[43] Als ein Journalist nachfragt, ob es denn für die befürchteten Nebeneffekte wissenschaftliche Evidenz gäbe, muss Grape zugeben, dass es die nicht gibt. Gleichzeitig offenbart sich ein weiterer Widerspruch: Einerseits setzt man auf die Vernunft und Reife der Bevölkerung allgemein, andererseits traut man dem Personal in der Altenpflege nicht zu, richtig mit einem Mund-Nasen-Schutz umgehen zu können.
[44] Ähnlich Tegnell, aber noch extremer in seinen Äußerungen, ist sein Vorgänger Johan Giesecke, derzeit auch Berater der FHM. Da er schon pensioniert ist, muss er sich kein Blatt vor den Mund nehmen und sagt offen, dass alle anderen Länder außer Schweden es falsch machen. Dass er dabei die absurdesten Vorhersagen bezüglich des Immunitätsgrades in Schweden, der Ansteckungs- und der Todesraten aufgrund seines „Bauchgefühls“ getätigt hat, sich in Interviews selbst widerspricht, oder essenzielle Teile der Suppressions-/Tanz-Strategie falsch darstellt, beziehungsweise ignoriert, stört wenige. Auch in Österreich kam er schon mit wenig Widerspruch zu Wort und behauptet, wir würden die Toten nur hinauszögern – ohne für seine Behauptung wissenschaftliche Unterlagen zu liefern.
Eine sinnlose und ablenkende Diskussion
[45] Doch bei allem Für und Wider um die schwedische Strategie, so ist diese Diskussion in Österreich im Moment sinnlos und lenkt uns von viel wichtigeren Fragen und Debatten ab.
[46] Erstens sollten wir viel mehr darüber diskutieren, wie wir in der jetzigen Phase mit der Situation weiter umgehen. Die Krise ist ja lange nicht überstanden, nur weil mit dem Ende des vollen Lockdowns die erste Phase zu Ende ist. Jetzt gilt es, die Vorteile, die durch diesen „Hammer“ erzielt wurden, im „Tanz“ sinnvoll zu nutzen. Also: Wie können wir Ansteckungsketten und Cluster erkennen und lokal unterdrücken? Wie können wir die Kontaktpersonennachverfolgung am effizientesten gestalten? Wie können wir den Geldkreislauf, die Wirtschaft dabei wieder in Gang bekommen? Wie können wir sinnvoll Grenzöffnungen durchführen und Reisen ermöglichen? Wie können wir genug Testen? Wie die europäische Zusammenarbeit endlich stärken? Wie können wir uns auf eine potenzielle zweite Welle vorbereiten?
[47] Auf all diese Fragen liefert das schwedische Modell keinerlei Antworten, denn damit kann sich Schweden gar nicht befassen. Durch das Ausbleiben eines Hammers ist auch kein Tanz möglich. Hier sollten wir hingegen auf Länder wie Südkorea oder Singapur, aber auch auf andere europäische Länder mit ähnlicher Strategie schauen, um laufend aus Fehlern und Best Practice zu lernen.
[48] Zweitens ist es natürlich wichtig und sinnvoll, den bisherigen Umgang mit der Pandemie kritisch zu hinterfragen und Lehren für die Zukunft zu ziehen. Doch auch hierbei ist Schweden sicher nicht das beste Vorbild. Denn genau wie alle anderen europäischen Länder hat Schweden versagt, auf die Pandemie rechtzeitig zu reagieren. Sowohl Mitigation als auch Suppression sind Strategien, die gesetzt werden, wenn man es nicht geschafft hat, eine allgemeine Verbreitung des Virus in der Bevölkerung zu verhindern.
[49] Insofern sollten wir hier nach Asien schauen, konkret zum Beispiel nach Taiwan oder Hong Kong. Beides sind Länder mit extremer Bewegung zwischen ihnen und Festlandchina. Trotzdem haben beide einen Ausbruch in ihren Gesellschaften verhindern können. Taiwan hat schon Ende Dezember eine auffällige Häufung von unerklärbaren Lungenkrankheiten in Wuhan registriert und schnell Konsequenzen gezogen. Durch frühe Reiseeinschränkungen und starke Quarantänemaßnahmen für Einreisende wurde das Virus so gut wie draußen gehalten, weder Mitigation noch Suppression waren notwendig.
[49] Einen ähnlichen Plan auf EU-Ebene zu haben, wäre wohl schwieriger, aber sicher nicht unmöglich. Es muss die Möglichkeit geben, die Außengrenzen kurzfristig dicht zu machen und auf Flughäfen und in allen Mitgliedsländern die selben Notfallpläne zu haben, wie mit Einreisenden aus einem Risikogebiet umgegangen wird. Dies muss detailliert geplant und geprobt werden, sollte aber eine Selbstverständlichkeit sein. Für Feuer- und Bombenalarme oder Erdbeben gibt es auch Pläne und Übungen, für eine Naturkatastrophe wie eine Pandemie sollte es dies auch möglich sein.
[50] Und genau hier liegt das ursprüngliche Versagen aller europäischer Regierungen und auch der EU. Solche Notfallpläne müssten eigentlich längst existieren, denn Epidemien gibt es nicht erst seit gestern. Doch weder das schwedische, noch das österreichische Modell sind hierfür geeignete Vorbilder.
Infos zum Autor: Georg Bauer, geb. 1989, ist Universitätsassistent und Doktorand für Geschichte der Menschenrechte und Demokratie an der Uni Wien. Er leistete seinen Zivildienst als Gedenkdiener in Stockholm, wo er später auch ein Auslandssemester verbrachte, studierte Geschichte und Skandinavistik in Wien, und Menschenrechte in Venedig und Galway. Die letzten zwei Jahre lebte er in der Union Myanmar, wo er im Menschenrechtsbereich tätig war.
Zitierempfehlung: Georg Bauer: Schweden in aller Lungen – aber warum eigentlich? In: https://wolfgangschmale.eu/schweden-in-aller-lungen-aber-warum-eigentlich (28. Mai 2020) [Absatz-Nummer].
Wieso steht in dem Artikel nichts über Schulen? Das ist ja ein wesentlicher und wichtiger Unterschied zwischen Ö und S. Welche Rolle spielten diese im Infektionsgeschehen und ist es nicht ein enormer Pluspunkt, dass die in Schweden weiterliefen statt den suboptimalen System wie bei uns?
Da haben Sie natürlich recht, ich habe zwar kurz erwähnt, dass die Grundschulen (Jahre 1-9) offen geblieben sind, aber es nicht weiter diskutiert. Für die Kinder ist das sicher ein enormer Vorteil, keine Frage. Ich habe persönlich noch zu wenig zur Rolle von Schulen/Kindern bei der Verbreitung des Virus gelesen, um da ein gutes Bild zu haben, allerdings scheint es doch so zu sein, dass Schulen und Kinder generell keine große Rolle bei der Verbreitung spielen. Dann ist natürlich die Frage, ob das Mitte März auch schon so klar war. Wenn man eine Suppressionsstrategie fahren will, dann war es wohl näherliegender, hierbei kein Risiko einzugehen und auch die Schulen zu sperren. Ob und wie lang das tatsächlich nötig war – gute Frage.
Aber wie generell im Artikel argumentiert, finde ich diese Diskussion im Moment wenig zielführend. Wir haben durch erfolgreichen Lockdown die Möglichkeit, nun mit Maßnahmen wie Contact Tracing etc. eine erneute Verbreitung des Virus zu verhindern, da tut es wenig zur Sache, ob die Schulschließungen notwendig waren oder nicht. Für eine Diskussion über Lehren für eine zukünftige Pandemie ist es auch nicht allzu gewinnbringend, denn da muss meiner Meinung nach das Ziel sein, die Epidemie/Pandemie gar nicht erst ins Land zu lassen, sodass Schulschließungen gar nicht erst in Frage kommen müssen. Sollte man das auch wieder verabsäumen, dann kommt es wiederum stark darauf an, wie sich ein künftiges Virus bei Kindern auswirkt.
Endlich einmal eine nüchterne Beurteilung des „Schwedischen Wegs“ !
(1) Sehr gut, dass aufgeklärt wird, dass in Schweden – im Unterschied zu Österreich – die Verhaltensmaßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung primär von der Behörde (FHM) aufbereitet, argumentiert und – offenbar auch versehen mit Exekutionssanktionen – öffentlich vorgetragen werden [6-9]. Dies haben, wie mancherorts in Österreich zu vernehmen war, viele Leute hier als sehr positiv empfunden („in Schweden sind die Fachleute am Werk“), vor allem solche Leute, denen die mehrmals wöchentlichen Regierungspräsentationen schon reichlich auf die Nerven („Selbstdarsteller“, „Angstschürer“, „Panikmacher“) gegangen sind. Dieser für Schweden positiv gezogene Vergleich hinkt jedoch, weil auch in Österreich von Anfang an bekannt gemacht wurde, dass die von den Regierungsmitgliedern vorgetragenen Beschlüsse ganz und gar nicht ohne „Krisenbeiräte“ im Hintergrund getroffen wurden. Etliche dieser Krisenbeiratsmitglieder wurden auch öffentlich interviewt und konnten ihre Argumente präsentieren. Und darüberhinaus sind hierzulande auch kritische „Experten und Expertinnen“, die nicht diesen ministeriellen Beraterteams angehörten, zu Wort und auch ins Bild gekommen. In Schweden scheint sich die gewählte Politiker- und Regierungsgarde anscheinend diesbezüglich schadlos, nämlich aus der Mit-Verantwortung heraus gehalten zu haben.
(2) Mein „Vorurteil“, dass in Nordeuropa, in Schweden insbesondere, eine Kultur der Eigenverantwortlichkeit, der aufgeklärten Vernunft, in der Bevölkerug signifikant stärker ausgeprägt sei als beispielsweise in Österreich, das ohne autoritäre, strafandrohende Order überhaupt nicht auszukommen scheint (Metternichsches Kollektivtrauma? Angstmache und Polizeiwillkür begünstigende Sanktionsoptionen?), scheint einerseits durch Georg Bauers Text bestätigt zu sein („man baut auf Kooperationsbereitschaft, …“ [10 und 35 und 43]), andererseits wird so ein Image durch zahlreiche Hinweise und Bildberichte auf Verhaltensweisen der Leute in Schweden wider besseren Wissens gehörig widerlegt.
(3) Viel wichtiger als die Versuche, die Effektivität und Effizienz der Vorgehensweisen (unter Zugrundelegung gleicher Zielsetzungen) zu vergleichen, finde ich jedoch die sehr schön herausgearbeiteten Entscheidungsfindungen und Korrekturen für die diversen Maßnahmen im „schwedischen Weg“. Diesbezüglich lohnt es sich sehr wohl, einen Vergleich anzustellen: Egal, wer an der „öffentlichen Rampe“ steht, ob, wie in Schweden, eine Behörde (FHM) mit Experten oder, wie in Österreich vorrangig, die politische Regierungselite – die Intransparenz, die mindestens mangelhafte demokratische Einbindung aller politischen Kräfte im jeweiligen Land sind überall gleich. Das Ziel, effektive, effiziente und sozial robuste, also auch demokratisch legitimierte – nicht unbedingt im Modus langwieriger Gesetzeswerdungen – Verhaltensmaßregeln zu entwickeln, sehe ich in keinem der angesprochenen „Wege“ als angestrebt und daher auch nicht erreicht.
(4) Die Relativierung der Wichtigkeit des Vergleichs Schweden versus whatsoever und das Hinlenken des Autors auf den viel nötigeren Diskurs [45] – Vorbereitung auf potenzielle zukünftige Bedrohungen, Lehren aus anderen (asiatischen) Ländern, eine Rolle der EU etc. – sind zwar verständlich, doch kommen solche Diskurse nicht ohne kritische und selbstkritische Analysen der je eigenen kultur- und politikgeschichtlichen Handlungsweisen [48] aus.
(5) Trist ist jedoch die (nicht aus dem Artikel gewonnene) Erkenntnis, dass in der Frage der Pandemie-Bekämpfung die Europäische Gemeinschaft praktisch inexistent war. Der Autor spricht hier sehr korrekt von einem „Versagen aller europäischen Regierungen“ [50]. Das nationalstaatliche Revival war zwangsläufig „alternativlos“, weil man jahrzehntelang die EU nicht mit überstaatlichen Kompetenzen und einem funktionierenden, handlungsfähigen, effizienten Apparat ausgestattet hat, mit dem einer pandemischen Ausbreitung eines Nationalstaatsgrenzen ignorierenden Virus Einhalt geboten werden könnte. Das wird wohl auch noch länger so bleiben und leider nicht nur „schwieriger“ [49] werden.
Peter Moser, Wien, 4. Juni 2020