[1] Die neue Präsidentin der EU-Kommission hat in ihrer Rede vor dem EU-Parlament am 27. November 2019 versucht, die EU und ihre Aufgaben von den Bedürfnissen der Menschen, der EU-Bürger*innen her zu denken und darzulegen. Dies kann als neuer Anlauf gelten, die Distanz zwischen EU und Bürger*innen zu verkleinern, beide einander näher zu bringen.
[2] Nimmt die EU die Bürger*innen nicht mit, wird sie scheitern, nehmen die Bürger*innen die EU nicht nachhaltiger an, wird sie ebenfalls scheitern. Wird das der neuen Kommission gelingen? Dazu mehr am Schluss des Blogeintrags.
[3] Präsidentin von der Leyen sagt immer wieder starke Sätze wie jenen, der den Titel für den Blogeintrag liefert, aber auch diesen im letzten Drittel der Rede: „Die Schranken zu durchbrechen, die Menschen daran hindern, sie selbst zu sein, zu glauben und zu lieben, so wie es ihnen beliebt. Diese Schranken müssen weg! Punkt!“
[4] Sie beginnt mit einem Bezug auf die Samtene Revolution 1989 und den Durchbruch der Demokratie; sie spricht von „europäischer Demokratie“. Ebenso wichtig ist gleich am Anfang die Frage der Gleichheit der Geschlechter, der Gleichberechtigung und der Chancengleichheit, die sie am Beispiel ihrer Kommission exemplifiziert. Dies soll die Ernsthaftigkeit der Verfolgung dieses Ziels unterstreichen: Die Gleichstellung der Geschlechter sei in den Kabinetten der Kommisar*innen realisiert, sie soll auf allen Führungsebenen der Kommission in den nächsten 5 Jahren ebenfalls realisiert werden; bei den Kommissar*innen sei sie noch nicht ganz erreicht. Zweifellos erweckt aber diese Zusammensetzung der Kommission den Art. 2 EU-Vetrrag zum Leben.
[5] Die Kommissionspräsidentin stellt im wesentlichen in der Rede die Ziele für die nächsten fünf Jahre anhand der Kommisar*innen und ihrer Ressorts vor. Dazu gehört zentrale die globale Perspektive: „Die Welt braucht unsere Führung mehr denn je. Wir müssen in dieser Welt auch weiterhin eine verantwortungsvolle Macht bleiben. Treibende Kraft für Frieden und Veränderungen zum Besseren hin sein.“ Ausdrücklich verweist sie auf die offene Türe für die Westbalkanstaaten – es ist zu hoffen, dass diese eingeladen werden, durch die offene Tür zu gehen, und zwar nicht erst am Sankt Nimmerleins Tag.
[6] Von der Leyen verweist auf die individuellen transatlantischen Verbindungen, die man angesichts politischer Meinungsverschiedenheiten mit den USA nicht übersehen dürfe – erneut knüpft sie an die Bedeutung von Gesellschaft für das Ganze an. „Von Ost nach West und von Süd nach Nord brauchen die Länder dieser Welt Europa als echten Partner. Wir können diejenigen sein, die die Weltordnung zum Besseren hin formen. Dazu ist Europa berufen. Und das ist das, was die europäischen Bürgerinnen und Bürger wollen.“ Und: „Dies ist die geopolitische Kommission, die ich im Sinn habe und die Europa dringend braucht.“
[7] Weitere zentrale Themen sind klarerweise Klimaschutz, Bekämpfung des Klimawandels als „Grüner Deal“, der Wachstum und Arbeitsplätze ermöglicht. Neue Technologien, neue Märkte. Berücksichtigung der Lebenswelt und des Alltags der Menschen, alles muss lebbar bleiben.
[8] Digitalisierung und Robotisierung sollen genutzt werden, um wieder mehr Raum für Kreativität und Empathie zu schaffen. Technologisch müsse Europa unabhängig werden.
[9] Wirtschaftspolitisch werden ausdrücklich Familienbetriebe erwähnt, die einer anderen Philosophie als globale Konzerne folgen, sie sind näher an den Menschen. Humanitär ist auch der Zugang zu Flucht, Migration und den tödlichen Dramen, die damit verbunden sind, zugleich handelt es sich um die Sicherheitsagenden, die damit verbunden sind.
[10] Arbeitnehmer*innen sollen gestärkt werden, etwa durch einen gerechten Mindestlohn, den alle EU-Länder einführen müssten.
[11] Innovation, Technologie, Forschung, Bildung und Kultur kommen recht kurz weg. Die ersten drei Schlüsselwörter bezeichnen natürlich Querschnittsmaterien, die für alle Ressorts gelten. Kultur müsste aber einen höheren Stellenwert erhalten. Zwar ist auch der EU-Vertrag diesbezüglich wenig wortreich, aber wenn man – Frau von der Leyen – vom „europäischen Weg“ (dem „European way of life“) spricht, heißt das ja, es geht um (die?) „europäische Kultur“. Dafür ist der Kulturbegriff der EU zu eng, es handelt sich um den Kulturbegriff des Feuilletons plus „Kulturelles Erbe“. Der Grazer Historiker Peter Pichler spricht von der EU als „kultureller Risikogemeinschaft“. Dies trifft die Sache auf dem Punkt und zeigt die Dimension, die „Kultur“ als Aufgabengebiet der Kommission eigentlich hat.
[13] „Die Menschen“, die EU-Bürger*innen tauchen als Akteure aber nur am Rande auf, und zwar dann, wenn sie auf die Straße gehen. Das zu bemerken, reicht nicht aus, offenbar wurde nicht darüber nachgedacht, die Bürger*innen etwa durch mehr Demokratisierung stärker in EU-Prozesse einzubeziehen.
[14] Zu sehen, dass die EU – ob sie es will oder nicht – ein globaler Akteur ist und gut beraten ist, diese Tatsache proaktiv anzugehen, ist wichtig und zeigt, dass die neue Kommission verstanden hat, dass die europäische Bauchnabelschau im eigenen Interesse keine Zukunft mehr haben kann. Dabei EU und Bürger*innen näher zusammenzubringen, bleibt eine vorerst wohl nicht mitbedachte Aufgabe. Dazu braucht es mehr Demokratie, wie ich es in meinem Buch „Was wird aus der Europäischen Union?“ versucht habe darzulegen.
Dokumentation: Rede Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (Deutsch) (Englisch)
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: „Weil wir in Europa vom Menschen her denken.“ Die Rede der neuen Kommissionspräsidentin vor dem Europäischen Parlament am 27. November 2019. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/ursula-von-der-leyen-november-27-2019, Eintrag 29.11.2019 [Absatz Nr.].