Um des Endes des Zweiten Weltkrieges zu gedenken, um sich die Vorteile der Europäischen Integration vor Augen zu führen, braucht es nicht unbedingt runde oder halbrunde Daten.
Aber es hat sich so eingebürgert, weil es ganz gut die Zeitläufte strukturiert. So feiert Österreich zudem 25 Jahre Mitgliedschaft in der EU. Kaum erwähnt wird, dass vor 15 Jahren (2005) der EU-Verfassungsvertrag scheiterte.
Der 9. Mai als Europatag erinnert an die Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950, von der ausgehend sich jene Integrationsdynamik entfaltete, deren Ergebnis uns in der heutigen EU vor Augen steht.
Der 9. Mai 1950 war kein Zufall; die Kapitulation Deutschlands vom 8. Mai 1945 trat in der ersten Minute des 9. Mai 1945 in Kraft – beide Tage hängen eng zusammen. In der Sowjetunion bzw. heute Russländischen Föderation wurde und wird der 9. Mai als Tag des Sieges gefeiert – auch in dieser Perspektive war das Datum der Schuman-Erklärung ein deutliches Signal – Zusammenarbeit auf Grundlage von Aussöhnung.
Es ist gut zu verstehen, dass an solchen Tagen in erster Linie an den in Europa seit 75 Jahren bestehenden Frieden gedacht wird – auch wenn dieser Frieden mehrere Jahrzehnte lang Ausnahmen kannte und bis heute unvollendet ist, wenn man an den Krieg im Osten der Ukraine denkt.
Die deutsche und österreichische Sicht auf den 8. Mai 1945 hat sich seit den 1980er Jahren gewandelt. Es ist weniger der Tag der Kapitulation der Wehrmacht, vielmehr der Tag der Befreiung der Menschen.
Im Zentrum des Gedenkens muss aber die Befreiung der Konzentrationslager stehen. Auch sie jährt sich seit dem 27. Januar, der Befreiung von Auschwitz, zum 75. Mal. Es ist in Jahren gemessen ein Menschenleben lang – der Überlebenden des Holocaust. Nur durch sie können wir sicher sein, dass wir gelernt haben.
Dieses Jahr werden die Erinnerungen jedoch gestört. Zum einen sind es die Einschränkungen, die die Bekämpfung der Corona-Pandemie nach wie vor mit sich bringt. Gedenkzeremonien können nicht in der gewohnten Art und Weise stattfinden.
Zum anderen haben sich in Bezug auf Europa neue Ängste eingestellt. Die Startphase der Corona-Bekämpfung sprach dem Unionsgedanken der EU Hohn. Und dann fiel am 5. Mai – schlechtes Timing? – das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts, in dem die Methode der Urteilsfindung des EuGH in Bezug auf die EZB verrissen wurde.
Die Empörung über das Urteil ist groß, aber Empörung kann nicht das Nachdenken ersetzen.
Schon lange wird kritisiert, dass die EZB angesichts ihrer Machtfülle, die durchaus politisch ist, keiner demokratischen Kontrolle unterliegt. Die Reaktion des EuGH und der EZB-Präsidentin auf das BVerfG-Urteil fiel so aus wie im 18. Jahrhundert die der französischen Könige, wenn diese von ihren Höchstgerichten, die zugleich eine Art Verfassungsgericht waren, nämlich den sogenannten „Parlements“, kritisiert wurden. Das mochten die Könige nicht und reagierten mit dem verschnupften Hinweis, die absolute Macht läge nun mal bei ihnen und das könne auch nicht anders sein.
Gewiss: Man darf nicht von der EZB-Präsidentin erwarten, dass sie einräumt, dass die EZB nur einer sehr schwachen Kontrolle unterliegt. Es wäre Aufgabe der EU-Mitglieder, das zu ändern.
Der EuGH und andere betonen den Vorrang des Unionsrechts und dass das auch nicht anders sein könne. Richtig, das sagt auch das BVerfG. Es kritisiert vielmehr, dass der EuGH in einem Verfahren, das vor dem BVerfG anhängig war und das das BVerfG dem EuGH vorgelegt hatte, nicht jene Methoden für die Urteilsfindung angewendet habe, die er und andere Höchstgerichte üblicherweise anlegen würden. Konkret geht es um die umfassende Abschätzung und Abwägung der Folgen des Anleihenkaufs durch die EZB in Billionenhöhe. Wie in anderen Entscheidungen auch, stellt das BVerfG immer die Frage nach der Sicherung der Demokratie.
Die Kritik des BVerfG wiegt schwer. Aber wäre es nicht richtig, zu klären, ob sie berechtigt ist oder nicht? Reicht es aus, dass sich der EuGH auf den Standpunkt stellt „über uns ist niemand“? Auch er handelt eminent politisch, wie es ebenfalls seit Jahren kritisiert wird, und unterliegt keiner Kontrolle.
Es soll also wenigstens darauf hingewiesen werden, dass es eine bereits ältere Diskussion gibt. Nicht das BVerfG tritt etwas aus heiterem Himmel los, vielmehr wird seit Jahren der Diskussion um die Art der Kontrolle von Institutionen der EU, die alles andere als unpolitisch handeln, aus dem Weg gegangen.
Die nationalen Verfassungsgerichte müssen sich in ihrer jeweiligen Öffentlichkeit der Kritik stellen. Die ist mal verhaltener wie meistens in der Bundesrepublik, mal schärfer wie in Österreich.
Es gibt vieles, was in der EU auf den Tisch müsste; eine Reform der Verträge lässt sich nicht unendlich herauszögern.