[1] #SOTEU: Am 12. September 2018 hielt der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, zum letzten Mal in seiner Amtszeit vor dem Europäischen Parlament die Rede zur Lage der Europäischen Union.
[2] Juncker hatte 2014 angekündigt, ein politischer Kommissionspräsident zu sein – dieses Versprechen hat er gehalten.
[3] In der Rede plädiert er für eine sehr aktive und starke Rolle der EU in der Weltpolitik. Ohne es allzu explizit zu formulieren, definiert er mittlerweile die Kernziele der EU weltpolitisch.
[4] Die anfänglichen und früheren und durchwegs europazentrischen Ziele wie Frieden in Europa schaffen und halten sowie überall Rechtsstaatlichkeit, sieht er als erreicht und bewahrenswert. Er ist nicht blind für die Gefährdungen und fordert konsequent die Durchführung von Rechtsstaatlichkeitsverfahren, ohne die gemeinten Länder namentlich zu erwähnen.
[5] Aber dabei geht es darum, etwas im Wert und funktionstüchtig zu erhalten, was erreicht wurde, die heutigen und künftigen Ziele der EU, die dann einmal ihre Daseinsberechtigung ausmachen werden, charakterisiert er weltpolitisch.
[6] Dazu zählen die Stärkung des Euro, was substanzielle Fortschritte bei der Ausgestaltung der Währungs- und Bankenunion sowie der europäischen Wirtschaft erfordert.
[7] Dazu zählt die Partnerschaft mit Afrika. Juncker spricht von Partnerschaft und Gegenseitigkeit. Wer sich mit historischen Kolonialdiskursen und ihrem Nachleben bis 2018 befasst, kann nur bestätigen, wie zutreffend und richtig Junckers Forderung ist – und dass darin mehr ideelle Herausforderung steckt, als es zunächst den Anschein hat.
[8] Es lässt sich sagen, dass der Ruf der afrikanischen Flüchtlinge zumindest in dieser einen Hinsicht gehört und verstanden wurde: Herstellung einer umfassenden Partnerschaft zwischen der EU und Afrika, die viel Investitionen erfordert, bei denen der Sektor der Ausbildung eine zentrale Rolle spielen muss.
[9] Dazu zählen die Freihandelsabkommen, die Juncker verteidigt, er weist die teils harsche Kritik zurück und verweist auf den großen Nutzen. Er wirbt für eine zügige Ratifizierung des Abkommens mit Japan – und setzt sich für ein entsprechendes Abkommen mit dem Vereinigten Königreich, sobald der Brexit in Kraft tritt.
[10] Mit großem Nachdruck zeigt Juncker auf, welche konstruktive Kraft Einigkeit in der EU entwickeln kann. Man wird ihm leicht zustimmen können, dass etwa Asyl- und Einwanderungsfragen besser behandelt werden können, wenn es ein System in der EU gäbe.
[11] Der Kommissionspräsident wirbt für die häufigere Anwendung des Mehrheitsprinzips bei Abstimmungen anstelle des Einstimmigkeitsprinzips. Als Beispiel nennt er das Abstimmungsverhalten der EU in internationalen Organisationen, wo die EU durch Uneinigkeit der Mitglieder immer wieder blockiert wird, sodass etwa eine Verurteilung der permanenten Menschenrechtsverletzungen in China ausgeblieben sei.
[12] Juncker widmet einige sehr klare Sätze dem Brexit. Er werde respektiert und UK werde danach ein besonderer Partner der EU bleiben, jedoch ohne Rosinenpickerei (den Begriff verwendet er nicht wörtlich). Sein Hinweis, dass die Frage der irischen Grenze im Geist des Status quo geregelt werden müsse, stellt zugleich eine Warnung dar. Dieser Geist ist angesichts der gewaltsamen und tödlichen Vorgeschichte nicht verhandelbar.
[13] Juncker geißelt den neuen Nationalismus, der im Gegensatz zum europaverträglichen Patriotismus, den niemand den Mitgliedsländern wegnehmen will, Europa auseinandertreibt.
[14] Er geißelt die Verrohung der politischen Rhetorik, er verwahrt sich vehement und mit Recht dagegen, dass jede Stagnation und jeder Misserfolg der Kommission als Sündenbock in die Schuhe geschoben wird. In der Tat: Die Kommission ist umso erfolgreicher, je mehr die Mitgliedstaaten am selben Strang ziehen, anstatt sich gegenseitig mit rhetorischem Dreck (das ist nicht wörtlich in der Rede!) zu bewerfen.
[15] Juncker setzt sich für das 2014 erstmals ausprobierte Szenario von Spitzenkandidaten bei den Europawahlen im Mai 2019 ein, er zeigt seine uneingeschränkte Sympathie für transnationale Listen, die dann spätestens 2024 möglich sein sollten.
[16] Eindringlich zeigt er auf, dass man nicht weiter vor sich hinwurschteln darf, sondern beschlussreife Agenden beschlossen und umgesetzt werden müssen. Dies ist die Voraussetzung für Erfolge, die für die Europäer*innen dann konkret spürbar sind.
[17] Der entscheidende Punkt in der Rede ist das Plädoyer für eine europäische Souveränität in weltpolitischer Perspektive. Im Prinzip beruht das auf der Einsicht, zu der die Europäisten schon in der Zwischenkriegszeit gekommen waren, dass Gemeinsamkeit und Multilateralismus ALLE auch je für sich stärkt. Jeder Mitgliedsstaat würde von einer starken EU profitieren, was wohl auch hinreichend empirisch nachvollzogen werden kann.
[18] Die populistischen Parteien, die in allen europäischen Parlamenten (von der kommunalen bis zur nationalen und europäischen Ebene) sitzen, die an mehreren Regierungen beteiligt sind, die in Polen und Ungarn bereits ein autoritäres Regime errichtet haben, kennen keine politische Klugheit. Sie stellen sich freiwillig außerhalb einer Tradition politischer Klugheit, die in der Antike begründet wurde.
[19] Juncker hielt seine Rede im Europäischen Parlament an dem Tag, an dem dasselbe Parlament mit der nötigen Zweidrittelmehrheit ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn nach Artikel 7 des EU-Vertrages verlangte. Das war ein wichtiger, wenn auch nicht ausreichender Schritt, aber das liegt nicht in der Hand des Parlaments.
[20] Juncker hielt seine Rede an dem Tag, an dem im Deutschen Bundestag der ehemalige Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, der AfD zu verstehen gab, dass sie sich derselben infamen Rhetorik bediene, wie seinerzeit der Faschismus (Nationalsozialismus).
[21] Diese drei parlamentarischen Ereignisse (und sicher kann man die Liste erweitern) zeigen, dass etwas verstanden wurde: Die europäische Demokratie muss entschieden und offensiv verteidigt werden.
Dokumentation: Druckversion der Rede: https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/soteu2018-speech_de.pdf
Video (gesprochenes Wort): https://ec.europa.eu/commission/priorities/state-union-speeches/state-union-2018_en
Blogeintrag zum EU-Weißbuch 2017
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: #SOTEU: Jean-Claude Juncker – Rede zur Lage der Europäischen Union 2018. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/rede-zur-lage-der-union-2018, Eintrag 13.09.2018 [Absatz Nr.].