[12] In Artikel 3(2) des Vertrags über die Europäische Union (Lissabon 2007) heißt es: „Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen (…)“.
[13] Alle drei Schlüsselbegriffe – Freiheit, Sicherheit, Recht – sind auf dem Hintergrund der Gewaltgeschichte Europas bemerkenswert und längst nicht so selbstverständlich, wie es einem scheinen mag.
[14] Hier soll der Blick auf den Raum des Rechts gelenkt werden. Was bedeutet dies in der Praxis? Der Raum des Rechts ist komplex aufgebaut.
[15] Zuerst bedeutet dies, dass alle Mitgliedstaaten der EU zum Typus des Rechtsstaats gehören (müssen). Der Rechtsstaat ist eine parlamentarische Demokratie (die in manchen Ländern wie dem Vereinigten Königreich, den Niederlanden, Dänemark u.a. verfassungsgeschichtlich noch im Gewand der Konstitutionellen Monarchie steckt), in der die Gewaltenteilung gilt, die Gerichte unabhängig sind, die Menschen- und Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger garantiert und einklagbar sind, im Grundsatz alles verfassungskonform rechtlich unterlegt und einklagbar ist.
[16] In Bezug auf die EU bedeutet dies wiederum, dass nicht nur alle Mitglieder Rechtsstaaten sein müssen und es sind, sondern dass dieselben Prinzipien auch für die Institutionen gelten, die die EU im institutionellen Sinn begründen. Da die EU kein Staat ist, sondern ein Staatenverbund, gibt es keine „lupenreine“ Gewaltenteilung, da z.B. bei der Gesetzgebung (Verordnungen, Richtlinien etc.) eine Exekutivbehörde (EU-Kommission) das Vorschlagsrecht hat und ein politisches Organ – der Ministerrat – und ein Parlament – das EU-Parlament – abstimmen.
[17] Das EU-Recht ist an die EU-Grundrechtecharta sowie an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden, die Einklagbarkeit ist gewährleistet.
[18] In Bezug auf den EU-Raum bedeutet es vor allem, dass die Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Staatenverbunds rechtlich geregelt sind und werden. Wovon Immanuel Kant 1795 in der Schrift „Zum Ewigen Frieden“ visionär schrieb, das ist heute innerhalb der EU Realität: Der größte Teil Europas besteht aus (National-)Staaten, die sich untereinander auf der Ebene des Rechts begegnen.
[19] Dies geschieht in stabiler und verlässlicher Weise seit einigen Jahrzehnten. Es kann nicht oft genug unterstrichen werden, dass dies in der europäischen Geschichte, die bis vor nicht allzu langer Zeit im Kern eine Gewaltgeschichte gewesen ist, ein Novum darstellt, das weder vom Himmel gefallen ist, noch als „naturwüchsig“ bezeichnet werden kann.
[20] Der Raum des Rechts ist hart erarbeitet, er folgt im Großen und Ganzen rationalen Prinzipien und nicht Emotionen, die allzu lange die Beziehungen zwischen den Nationalstaaten regiert und zu Kriegen geführt haben.
[21] Nicht alles, was glänzt, ist Gold, das heißt, der Raum des Rechts muss immer wieder als Ganzes betrachtet werden. Erfüllt er den Zweck, für den er gedacht ist?
[22] Raum des Rechts meint, wenn man es kulturgeschichtlich betrachtet, eine Komplettverrechtlichung EU-Europas. Das ist keineswegs nur „schön“, sondern bringt Konflikte mit sich. Wie schon in der Frühen Neuzeit, als mittels des „Gelehrten Rechts“, dem Römischen Recht und seinen nichts auslassenden Rechtsprinzipien, die Lebenswelten zunehmend verrechtlicht wurden. Der Staat und die Herren gewannen, viele Untertanen verloren.
[23] Verrechtlichung hat daher Grenzen, der Prozess der Verrechtlichung muss begleitend und ohne Unterbrechung evaluiert werden. Nicht alles, was sich rechtlich regeln lässt, muss zwingend für alle auf dieselbe Weise geregelt werden. Beispiele sind regionale Lebensmittel, Brauchtum und ähnliches, die Sinn und Bedeutung verlieren können, wenn die EU-Verrechtlichung zu weit geht.
[24] Solche Konflikte werden gern unter Monsterbürokratisierung abgelegt, aber zu unterscheiden ist, was für alle verbindlich sein muss wie Hygienevorschriften bei jeglicher Lebensmittelproduktion, und was keineswegs für alle verbindlich sein muss wie bestimmte Produktstandards, deren Sinn eben in der regionalen Spezifität besteht.
[25] In der Beziehung kann der EU ein Lernprozess bescheinigt werden, das Ziel, Vielfalt zu erhalten – das EU-Motto lautet „In Vielfalt geeint“ – wird sehr viel ernster als in den Anfangsjahren der Vorgängerinnen der EU genommen. Verrechtlichung darf Vielfalt nicht unnötig reduzieren, der Raum des Rechts ist zugleich ein Raum der Vielfalt.
[26] Letzteres ist die vierte historische Errungenschaft, nämlich erkannt zu haben, dass Vielfalt ein europäischer Grundwert sein muss, für dessen Erhalt eben auch das Recht mobilisiert wird. Vom Spätmittelalter an haben wir es im Zuge der modernen Staatsbildung vielfach mit der Reduktion von Vielfalt bis hin zum Konstrukt der Nation zu tun; das Ergebnis war erdrückend und tödlich.
[27] Dass ein europäischer Raum des Rechts keine Selbstverständlichkeit darstellt, ist an den Verbiegungen der PiS in Polen, der Fidesz in Ungarn, des PSD in Rumänien, der Lega in Italien etc. abzulesen.
[28] Es ist daran abzulesen, dass einzelne Mitgliedstaaten wieder begonnen haben, bestimmte Menschen aufgrund ihrer Lebenssituation wie Flucht zu segregieren und rechtlich zu diskriminieren. Hier wird am rechtlichen Netz, das der Raum des Rechts darstellt, gezerrt und gerissen. Wer glaubt, dass das von selber wieder aufhört, ist naiv.
[29] Der europäische Raum des Rechts ist eine historische Errungenschaft, die es zu verteidigen gilt. Das hat auch Priorität vor Gedankenspielen mit einer „Neugründung der EU“ etc.
[30] Die EU ist wichtig, der Raum des Rechts ist ein Herzstück; damit das so bleibt, müssen die Wahlen wichtig genommen werden.
Beitrag 1 in dieser Serie zu den EU-Wahlen: Unionsbürgerschaft
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