Am 9. Mai 2019 kam der Europäische Rat in Sibiu, Rumänien zusammen. Rumänien hat im ersten Halbjahr 2019 die Ratspräsidentschaft inne. Der 9. Mai ist Europatag.
Da im Mai 2019 Wahlen zum Europäischen Parlament stattfinden, galt es auch, vierzig Jahre Direktwahl der Abgeordneten zum EU-Parlament zu ‚feiern‘. Ich habe alle EU-Wahlen seit 1979 mitgemacht. Zum ersten Mal reden im Prinzip alle Parteien bei Europa-Wahlen über Europa, selbst wenn die Art und Weise, wie darüber geredet wird, teilweise im Kern anti-europäisch ist.
Der Wahlkampf deckt wachsende Diskrepanzen auf. Was die EU in Zukunft sein soll, wird sehr unterschiedlich gesehen. Die einen wollen mehr davon und nennen es „Vereinigte Staaten von Europa“ oder „föderale Republik“, die anderen wollen weniger davon und kehren zu einem aggressiven Nationalismus zurück. Wieder andere meinen, man müsse „Europa neu gründen“ oder „begründen“.
All das klingt oberflächlich; je weniger man von und über die EU weiß, desto leichter werden Forderungen nach etwas ganz anderem gestellt. Allerdings sind „Vereinigte Staaten von Europa“ etc. eher Begriffshülsen, um deren Vorgeschichte sich die Parteien nicht kümmern.
Die Erklärung von Sibiu ist bemüht, Diskrepanzen und Divergenzen verbal zu übertünchen. In keinem EU-Dokument der letzten Jahre wurde Einigkeit so sehr besungen, wie in dieser jüngsten Erklärung. Je uneiniger in der Praxis, desto einiger mit der übertünchenden Rhetorik.
Gar hat – soweit ich feststellen kann: erstmals – ein Ausdruck, der Theresa May zur Begründung des Brexit in ihren Reden 2017 und 2018 lieb und teuer geworden ist, Eingang in die EU-Rhetorik gefunden: die „strahlende Zukunft“. Eigentlich versprach die der Brexit für das Vereinigte Königreich. Nun nimmt die EU das für sich in Anspruch.
Hat T. May mitgetextet oder macht sich die EU eines Plagiats schuldig? Kapert sie rhetorisch dieses ‚Alleinstellungsmerkmal‘ des Königreichs und beraubt es damit der versprochenen strahlenden Zukunft außerhalb der EU?
Ansonsten macht die Erklärung von Sibiu keine Ausnahme von anderen: Das bemühte Geschichtsbild ist eher schräg als korrekt; subtextlich werden narrative Strukturen übernommen, die eigentlich die Nationalmythen im 19. Jahrhundert kennzeichneten – die des erfolgreichen Kampfes gegen einen sehr starken Gegner. Aus dem Kampf erwuchs die Einigkeit und die Nation…
Nun ging es bei der Tagung auch um die Vorbereitung der nächsten strategischen Agenda für 2019-2024, um das nächste Treffen am 28. Mai zur Auswertung der Parlamentswahlen. Es mangelt nicht an wichtigen Themen, die mit einigem Recht den Tenor einer gemeinsamen Erklärung abgeben könnten. Stattdessen viel Weihrauch.
Haben wir Bürger*innen nichts Substantielleres verdient? Doch: So wird versprochen, unter anderem „unseren Lebensstil“ zu schützen – den European way of life, den so manche Politiker*innen derzeit im Mund führen – wie immer unkritisch und geschichtsvergessen.
Von Europa (= EU) wird behauptet, dass es eine „globale Führungsrolle“ einnehme. Tut die EU das? Wieso stoppt dann niemand Trump, Putin und andere?
Hier werden tiefere Probleme tatsächlich nur übertüncht. Kann einem als Bürger*in dabei wohl sein? Sicher nicht, eine ehrliche Selbsteinschätzung wäre besser, um dann die richtigen Weichen zu stellen.
Erklärung von Sibiu, deutsche Fassung
Erklärung von Sibiu, englische Fassung
Erklärung von Sibiu, französische Fassung
Vorschau zum Thema „Vereinigte Staaten von Europa“: Im Sommer 2019 erscheint: Wolfgang Schmale: For a Democratic United States of Europe (1918-1950). Freemasons, Human Rights Leagues, Winston Churchill and Individual Citizens. Franz Steiner Verlag, Stuttgart, 2019, ca. 192 S.