Der Westbalkan-Gipfel in Brüssel am 23. Juni 2022 verlief – leider erwartungsgemäß – ohne Ergebnis, beim anschließenden europäischen Gipfel wurden die Ukraine und Moldau als Beitrittskandidaten akzeptiert, Georgien vorerst nicht.
Zweifellos ist der Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine und Moldau mehr als nur ein Zeichen von Symbolpolitik. Es müssen nun intensive Aktivitäten entfaltet werden, sowohl in den beiden Ländern wie bei den EU-Institutionen und bei den anderen Mitgliedsländern, damit in einem überschaubaren Zeitrahmen die eigentlichen Beitrittsgespräche starten können.
Der Krieg gegen die Ukraine hat in diesem Land vieles verändert. Der Präsident, sein Regierungsteam, zahllose Verantwortliche im ganzen Land organisieren nicht nur die Verteidigung gegen den russischen Vernichtungskrieg, sondern finden Kraft, das Land so zu verändern, dass es (zu einem jetzt noch nicht bestimmten Zeitpunkt) die Beitrittsverhandlungen aufnehmen kann. Hier ist die EU insgesamt gefordert, diesen Prozess mit mehr Energie und mehr Erfolgswillen als bisher in Bezug auf den Westbalkan zu unterstützen. Dasselbe gilt in Bezug auf Moldau, wo die Transnistrien-Frage die Lage ebenfalls kompliziert macht.
Mit Blick auf die Westbalkanstaaten muss die EU die bisherige Unentschlossenheit durch Entschlossenheit ersetzen. Emmanuel Macron, der sich selbst als großen Europäer sieht und mit dieser Selbsteinschätzung in vielen Medien erfolgreich war, hätte nun Gelegenheit, tatsächlich ein großer Europäer zu werden, indem er den französischen Widerstand gegen die Erweiterung der EU aufgibt. Dasselbe gilt für die bulgarische Regierung und den Präsidenten. Die Vorbehalte gegen Mazedonien sind reine Geschichtspolitik, die hier zum Wesentlichen erhoben wird und das bisherige bulgarische Veto rechtfertigen soll. Andere Länder – wie etwa Deutschland und Polen – haben gemeinsame Schulbuchkommissionen gebildet, die auf wissenschaftlicher Grundlage die in den jeweiligen Schulgeschichtsbüchern verbreiteten Geschichtsbilder diskutieren und erforderlichenfalls Änderungsvorschläge machen. Diese Prozesse haben sich bewährt und werden sich überall dort, wo solche Kommissionen mit gutem Willen eingerichtet werden, wieder bewähren.
Über Geschichtsverständnis, historisches Erbe und eventuelle historische Identitäten kann und muss man diskutieren, aber man kann Differenzen nicht an die Stelle von „Geopolitik“, die die EU ja wenigstens in Europa erfolgreich anlegen möchte, setzen und für Verhinderungsstrategien verwenden.
Wirtschaftliches Gewicht alleine, das die EU auf dem Westbalkan durchaus besitzt, führt nicht zu jener Harmonisierung, die man stillschweigend voraussetzt, bevor Beitrittsverhandlungen begonnen bzw. mit Nachdruck vorangetrieben werden.
Überhaupt belegt Putins Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, dass enge Handelsbeziehungen, die objektiv betrachtet dem allseitigen Vorteil dienen, im Ernstfall gar nichts wert sind. Die EU muss da mehr tun, vor allem die einzelnen Mitgliedsländer müssen mehr tun.
Doch nach wie vor ist nicht zu erkennen, dass nun ein Sprung nach vorne anstünde: Der Westbalkan hat am 23.6.2022 keine neuen konstruktiven Perspektiven erhalten.
Das liegt auch daran, dass die derzeit 27 Mitgliedsländer nicht die Kraft aufbringen, die bekannten nötigen Reformschritte zu tun. Dabei geht es nicht nur um die weitgehende Reduzierung der Fälle, in denen zur Zeit Einstimmigkeit gefordert ist; es geht nicht nur um die Durchbrechung des Prinzips, dass jedes Mitgliedsland in jeder Amtsperiode der EU-Kommission eine*n Kommissar*in stellt, sondern es geht sehr viel mehr darum, dass die EU-Institutionen mehr Durchsetzungsrechte erhalten. Dann kann man es nämlich wagen, Länder, die überdurchschnittliche Korruptions- und Rechtsstaatlichkeitsprobleme bzw. Nachbarschaftskonflikte haben, trotzdem aufzunehmen.
Es muss also über Durchsetzungsrechte diskutiert werden. Die Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof waren und sind im geschichtlichen Vergleich ein wichtiger Fortschritt gewesen, als man sich darauf einigte, aber die Verfahren sind lang und Staaten wie Polen ignorieren die Urteile, ohne dass dies echte Konsequenzen hätte.
In der aktuellen Form funktioniert dieses System nur mehr dort, wo Mitgliedsstaaten den guten Willen aufbringen, sich an die gemeinsam vereinbarten und in Gesetzesform gegossenen Regeln zu halten. Das ist zu wenig und zerstört die EU von innen.
Im Klartext bedeutet dies eine weitere Stärkung der gemeinsamen Institutionen. Deshalb muss im selben Reformzug deren demokratische Legitimierung gestärkt werden.
Was derzeit in der EU an Geschlossenheit gezeigt wird, ist positiv und lobenswert, aber es ist viel zu wenig. Es braucht echte Veränderung.
Weitere Artikel im Blog, die sich mit dem Thema der EU-Erweiterung befassen:
European Union Future For Western Balkans Countries (Part I), (Part II), (Part III)