[1] Am 23. September 2015 fand am Hamburger Institut für Sozialforschung ein Ateliergespräch mit Antoine Vauchez über „Legitimitätsformen und Demokratisierung“ in der EU statt. Ausgehend vom oftmals festgestellten Demokratiedefizit der EU befasst sich Vauchez mit Demokratisierungspotenzialen. An dem von Nikola Tietze moderierten Gespräch nahmen SoziologInnen, JuristInnen, PolitikwissenschaftlerInnen, PhilosophInnen und HistorikerInnen teil.
[2] Vauchez setzt bei einer Reflexion über drei Institutionen der EU an: Kommission, Europäischer Gerichtshof (EuGh) und Europäische Zentralbank (EZB). Die drei Institutionen oder Organe der EU besitzen eine Stellung der Unabhängigkeit, sie gehen, anders als das EU-Parlament, nicht aus Wahlen hervor – und sind dennoch in der Praxis politische Organe, Organe, die Politik machen.
[3] Diese Eigentümlichkeit mache das eigentlich Europäische aus, durchaus im Unterschied zu den Demokratien, die die Mitglieder der EU sind. Politik müsse eigentlich der Kontroverse und, letztlich, dem Mehrheitsentscheid gewählter Organe unterliegen, was bei den genannten Institutionen nicht der Fall sei. Tatsächlich seien diese gedacht als Organe, die „europäisches Recht“ umsetzen, in Wirklichkeit seien deren Funktion und Tätigkeit jedoch im Kern politische.
[4] Das ist eine interessante Analyse, die etwas in Frage stellt, was vielleicht allzu sehr so hingenommen wird, wie es ist. Im Vortrag nannte Antoine Vauchez dann auch als Beispiel die „Troika“, eine Art ad-hoc-Institution, deren Legitimität eigentlich recht spät kritisch überprüft wurde. Sehr vieles, was unser Alltagsleben als EU-Bürgerinnen und -Bürger betrifft, wird durch diese unabhängigen Institutionen bestimmt und unterliegt keinen regelmäßigen Entscheidungen an den Wahlurnen.
[5] Damit ist nicht behauptet, dass die Institutionen keine Legitimitätsgrundlage besäßen, sie sind aus den im Laufe der Jahrzehnte geschlossenen und reformierten Verträgen hervorgegangen. Die Frage stellt sich aber, ob ihre tatsächliche politische Wirkmacht davon gedeckt ist bzw. überhaupt ursprünglich intendiert war.
[6] Oberflächlich betrachtet ließe sich einwenden, dass politische Entscheidungen durch den Ministerrat und durch den Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs getroffen würden, aber diese Betrachtungsweise ist oberflächlich, wie Vauchez‘ Analyse der politischen Tätigkeit der Institutionen aufzeigt. Zugleich hat allerdings der Kommissionspräsident in seiner Rede zur Lage der EU darauf hingewiesen, dass ihm eine politische Rolle [Blog Absatz 7] zustehe, um die „allgemeinen Interessen der Union zu fördern“.
[7] Gewiss wird man genuin politisches Handeln und Erfüllung der Aufgaben einer unabhängig konzipierten Institution nicht genau trennen können, aber die Reichweite der Entscheidungen von Kommission, EuGh und EZB ist enorm und durchgreifend. Soll daher Politik der EU nicht der Kontroverse, Kritik und Korrektur wie im üblichen politischen Prozess unterliegen?
[8] Lassen wir diese Institutionen zunächst einmal beiseite und fragen uns, an welcher Stelle der EU Demokratisierung Not täte oder wünschenswert wäre. Ein großer Kritikpunkt ist die relative Ferne zu den BürgerInnen. Um dem entgegenzuwirken, könnten die Rechte und Zuständigkeiten des EU-Parlaments stark ausgeweitet werden, um so seine Bedeutung im politischen Prozess zu erhöhen und damit auch den Stellenwert der Wahlen zu erhöhen. Das Pendant zum Parlament ist in den Demokratien jedoch die Regierung, und so würde wohl die EU-Kommission zu einer europäischen Regierung umgebaut werden müssen. Das will aber kaum jemand, nicht zuletzt, weil dann erst recht eine von den BürgerInnen ferne Regierung in Brüssel säße.
[9] Ministerrat und Europäischer Rat sind keine Kandidaten für eine Demokratisierung. In ihnen sitzen die in den Mitgliedsstaaten demokratisch gewählten Regierungen, diese Organe können zumindest eine indirekte demokratische Legitimation für sich in Anspruch nehmen. Die darin agierenden Minister/innen und/oder Regierungschefs sind nicht immer sehr demokratisch zuverlässig. Wenn, wie im Ministerrat vom 22.9.2015 von der vorhandenen Möglichkeit des Mehrheitsentscheids Gebrauch gemacht wird, darf niemand anschließend wie der slowakische Ministerpräsident Fico hergehen und von einem „Diktat“, dem man sich nicht beugen werde, sprechen. Hier liegt das Demokratiedefizit nicht bei der EU, sondern eindeutig bei Politikern, die den Herausforderungen der Demokratie nicht gewachsen sind.
[10] Hierzu ließe sich viel mehr sagen, aber um die Sache etwas abzukürzen, der Weg führt früher oder später zurück zu den von Antoine Vauchez analysierten Institutionen. Um den „Raum demokratischer Verfahren und de[n] Raum der politischen Entscheidungspraxis“ (Vauchez) wieder zusammenzuführen, schlägt er vor, „politische Kontroversen“ über die „Aufgaben und Befugnisse“ der genannten Institutionen zu fördern, ihre „geschlossenen Entscheidungssysteme [aufzubrechen], indem dissidente Meinungen aus ihren Reihen identifiziert und publik gemacht werden“ und ihre „soziale und politische Repräsentativität [zu gewährleisten].“
[11] Warum sollte es nicht vorstellbar sein, meine ich, dass die Präsidentin oder der Präsident der EZB, des EuGh und der Kommission direkt von den Bürgerinnen und Bürgern gewählt werden? Und sollte wieder zur Umsetzung eines bestimmten Programmes ein ad-hoc Organ geschaffen werden wie die „Troika“, hindert dies nicht, von Anfang festzulegen, dass dieses ad-hoc Organ sowohl zur Befragung des Parlaments des betroffenen Mitgliedslandes wie des Europäischen Parlaments in festzulegenden Abständen zur Verfügung zu stehen hat.
[12] Die „typischen“ EU-Institutionen sind aus der Denkfigur des Supranationalen entstanden. Das hat sich bewährt und kann kaum anders sein. Ohne dies hätten wir keine europäische Integration und alle Vorteile, die diese erbracht hat. Wenn die Erkenntnis jedoch lautet, dass diese als unabhängig konzipierten Institutionen faktisch „die EU-Politik“ machen, dann müssen mindestens Elemente von demokratischen Wahlen (z.B. der jeweiligen Spitzen) hinzukommen, die mit einer Verantwortlichkeit der gewählten Spitzen vor dem Europäischen Parlament verbunden werden.
[13] Mehr Wahlen innerhalb der EU einzuführen, bedeutet zunächst ein formales Element der Demokratisierung. Mit Wahlen sind wir nun bei den BürgerInnen der EU: Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 haben diese europaskeptische und anti-europäische Parteien gestärkt, ja, darunter sehr weit rechts stehende Parteien, deren Grundhaltung weniger demokratisch denn rechtspopulistisch, nationalistisch und autoritär ist. Könnten durch mehr Wahlen diese Tendenzen verstärkt werden?
[14] Eine allgemeine EU-Wahlrechtsreform wäre ein geeignetes Mittel, dem entgegenzuwirken. Ich gehe von meiner eigenen Erfahrung aus. Seit fast 16 Jahren lebe und arbeite ich in Wien, bin aber kein österreichischer Staatsbürger, sondern eines anderen EU-Landes. Ich darf hier in Österreich und meinem Wohnort Wien auf Bezirksebene wählen, nicht aber auf Landesebene (=Land Wien). Ich kann die österreichischen EU-Abgeordneten wählen, nicht aber kann ich an den Nationalratswahlen teilnehmen, da bin ich auf die Wahlen in meinem Herkunftsland verwiesen, obwohl Österreich sozusagen mein Schicksal bestimmt.
[15] Wie wäre es, wenn nun alle EU-Bürger/innen grundsätzlich alle Wahlen auf allen Ebenen im Land ihres ersten Wohnsitzes bestreiten könnten bzw. wenigstens optieren könnten? Wie wäre es, wenn man die Bürger/innen aus EU-Drittländern, die dauerhaft in einem EU-Land leben, nicht weiter bevormunden würde, sondern ihnen das Wahlrecht gäbe?
[16] Nun, es wäre dann so: Die Parteien müssten sich mit ihren politischen Zielen und Aussagen auf diese Wählergruppen einstellen, die rechten Parteien würden ein gutes Stück des Resonanzkörpers für ihre nationalistischen Ressentiments verlieren. Und das Juwel in der Krone wäre, dass die Wahlen zum EU-Parlament nicht mehr im nationalen Rahmen stattfänden, sondern man in Österreich z.B. einen spanischen Abgeordneten wählen könnte. Das würde allen Politiker/innen wohl einen ziemlichen Europäisierungsschub abnötigen, da sie überzeugen müssten. Wer sich keine europäische Mühe gibt, wird kaum genügend Stimmen erhalten. Wer sich, um gewählt zu werden, tatsächlich europäisch umtun muss, verliert das Interesse am Nationalistischen und an den ausgrenzenden Ressentiments.
Dokumentation:
Antoine Vauchez: Démocratiser l’Europe (coll. La république des idées, Seuil, 2014) ; deutsche Zitate im Blog aus der Einleitung des Buches (Übersetzung für das Ateliergespräch am 23.9.2015 von Michael Halfbrodt) Deutsche Übersetzung erschienen (Info: Stand 14.3.2016)
Die Absätze [14] bis [16] stammen mit kleinen redaktionellen Änderungen aus: Wolfgang Schmale: Die EU braucht eine Wahlrechtsreform, in: Wiener Zeitung 28. Mai 2014, Nr. 104/2014 S. 2
Fotocollage: Europa-Skulptur (2003) der Brooks-Brücke im Speicherviertel Hamburgs vor der Elbphilharmonie: Aufstieg oder kurz vor dem Ertrinken? Fotos: Wolfgang Schmale, 23.9.2015
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Demokratisierung der EU. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/demokratisierung-der-eu, Eintrag 24.09.2015 [Absatz Nr.].