[1] Die vergangene Woche war insgesamt für die EU eine schlechte Woche und eigentlich müssten überall die Alarmglocken schrillen. Die Wortwahl wird rabiater und verräterischer, allen Ideen zu einer stärkeren Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der EU-Politik z.B. mittels Referenden wurde ein Bärendienst erwiesen.
[2] Die von der EU-Kommission vorgeschlagene Länderquote für Flüchtlinge wurde nicht akzeptiert. Wenn es nur darum ginge, könnte man sagen, gut, es wurde ein typischer EU-Kompromiss gefunden, indem auf Freiwilligkeit gesetzt wird. Es wird dabei offen gelassen, was das genau heißen soll. Und später redet man wieder darüber, vielleicht hat sich ja was entwickelt… Das Eigentliche ist aber die Rhetorik einer Reihe von PolitikerInnen. Da war von einem Diktat Brüssels die Rede, andere beschworen den bewahrten Stolz ihrer Nation ob der bewahrten Freiwilligkeit.
[3] Diese Rhetorik zog sich durch alle EU-Großthemen der Woche. Varoufakis sprach zum x-ten Mal vom „gedemütigten“ griechischen Volk, ein anderer schleuderte denen, die sich gegen die Flüchtlingsquote gewandt hatten, entgegen, sie seien keine (guten) Europäer; und so fort.
[4] Diese Rhetorik nimmt seit einiger Zeit zu und ist Ausdruck wachsenden Nationalismus. Das muss Sorge bereiten!
[5] Nachdem das griechische Parlament die Volksbefragung beschlossen hat, kann kurz innegehalten werden. Die Regierungen der EU-Mitgliedsländer, deren Verfassungen nicht ohnehin in bestimmten Fällen Volksabstimmungen vorsehen, stehen diesem Instrument äußerst reserviert gegenüber. Skepsis und Ablehnung erhöhten sich mit den negativen Abstimmungen 2005 in Frankreich und den Niederlanden zur Verfassung – obwohl in anderen Ländern Volksabstimmungen positiv ausgegangen waren. Die Erfahrung ist zumindest gemischt, aber nicht nur negativ.
[6] Nun hat die griechische Regierung die Volksbefragung offenbar ohne weitere Vorbereitung der EU-Länder aus dem Hut gezaubert, als Drohung und als politische Retourkutsche, sie wirbt offen für ein Nein und erweckt zudem auch bei einem Teil der griechischen Bevölkerung den Eindruck, dass sie die Verantwortung nun auf das Wahlvolk abschiebt.
[7] Alles drei erweist der Idee Volksabstimmung einen Bärendienst und biegt sie zu einer nationalen politischen Waffe um, die gegen die Partnerländer in der EU gerichtet ist. Auch Cameron hat anfangs eine Volksabstimmung im Vereinigten Königreich über den Verbleib in der EU eher als Drohung, denn als konstruktives Element benutzt, aber inzwischen ist wohl erkannt worden, dass dieses politische Mitwirkungsrecht dadurch nur entwertet und unmöglich gemacht wird.
[8] Jetzt wird die für 2016/17 geplante Volksabstimmung unter die positive Prämisse eines Verbleibs in der EU gestellt und die vorgebrachten Forderungen darauf bezogen. Der Zeitraum, in dem sich die EU und die Länder mit der Volksabstimmung auseinandersetzen können, ist lang genug, die britische Regierung bemüht sich, auf diplomatische Weise und mit gedämpfter Rhetorik die Partner zu überzeugen. Der Kontrast zwischen der griechischen und britischen Verfahrensweise ist deutlich.
[9] Nötig wäre eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Frage, wie Volksabstimmungen für eine bessere Beteiligung der EU-BürgerInnen genutzt werden können, aber es ist zu befürchten, dass es eine solche Debatte nicht geben wird. Ebenso wäre eine Debatte über die zunehmende nationalistische Rhetorik notwendig.
[10] Es ist anzunehmen, dass die Idee europäischer Einheit bereits nachhaltigen Schaden erlitten hat und hier oder da stillschweigend sogar aufgegeben wurde.
Dokumentation:
Foto: Wolfgang Schmale, Athen, 30.1.2010
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Erbärmliches Europa! In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/erbaermliches-europa, Eintrag 28.06.2015 [Absatz Nr.].
Lieber Prof. Schmale,
habe Sie wiederum besten Dank, vor allem für diese Ihre zwei letzten Posts. Ich bin gerade bei diesen sehr an Ihrer Position interessiert. Was derzeit in EUropa vor sich geht, empfinde ich als schlimm, als Gefährdung von bereits Gewonnenem – und das in einer Zeit, in der Europa sowieso schon „auf der Talfahrt ist“ (Wirtschaft, Sicherheits- und Terordiskurse, Anti-Europa-Diskurse, Migrations“management“; die Liste ist kaum endend…)
Ich bin Ihnen vor allem sehr dankbar für Ihren ersten Post zu Griechenland – es geht hier und in weiterer Folge der nächsten Wochen, Monate und Jahre um die Idee, ich will sagen den „Mythos“ der europäischen Einheit. Seit dem Beginn der Europapolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, dann auch immer stärker seit den Integrationsrealitätäten seit den 1950er-Jahren ist die „Unteilbarkeit“ nicht weniger als ein vorwärtsreibender politischer „Mythos“, oder zumindest Topos. Das englische Narrativ der „ever closer union“ steht hierfür. Es ging in EUropa immer in Richtung „mehr“ an Europa, wenn auch im stop-and-go-Stil. Der „Mythos“ der „Unteilbarkeit“ unterfütterte in meinem Dafürhalten diesen Wechselschrittt als historischen Prozess – es schien immer Richtung vorwärts zu gehen. Mit der Gefahr der Erosion der Eurozone ist somit ein Kern-Bestand an europäisch kulturell gewonnenem in existenzieller Gefahr. Wenn die wenigen Leute, die bisher europäische Identifikationen hegten, auch noch dieser Aspekt aus dem EU-Bestands-Portfollio entwendet wird, wird die kulturelle Integrationssituation noch um einiges diffiziler. Ich sehe daher und für das „Weitermachen“ am Projekt EUropa drei wichtige Strukturebenen im Mittelpunkt:
(1) Auf kultureller und medialer Ebene ein breiterer Diskurs zu eben jenem Topos der „Unteilbarkeit“: EUropäische Eliten, PolitikerInnen, WissenschafterInnen und Medien haben auch eine sorgfältige Informationspflicht wahrzunehmen, die die Prozesse transparenter macht; im Idealfall sollte ein Diskurs aufgebracht werden, der Partizapation von EUropäerInnen in der Politik der Frage der „Unteilbarkeit“ ermöglicht.
(2) Zweitens, denke ich, dass das „Demokratiedefizit“ in EUropa – obwohl seit Jahrzehnten diskutiert – gerade im Moment virulent ist, beim weiteren Prozess der Integration schlagend wird. Im Moment findet Demokratie (ironischerweise kann Tsipras‘ Hilflosigkeit beim Plebiszit nun als europäisch-demokratisch gelten, obwohl es eigentlich ein nationaler Notnagel ist) primär auf nationaler Ebene statt. Zu den Entscheidungsprozessen im Trio der Institutionen, beim Finanzministerrat, beim EUropäischen Gipfel überhaupt herrscht Schweigen, da es den Menschen der Union scheinbar nichts zu vermitteln gibt. Es werden „Schicksalsentscheidungen“ getroffen, ohne auch nur im Geringsten eine Perspektive des Entschiedenen zu vermitteln, die demokratisch gewählte VertreterInnen den WählerInnen verpflichtet zu erstatten sind. EUropa ist in diesem Sinne ein Schweigendes, wenn nicht gar ein zu Verschweigendes. Demokratie würde hier auch Öffnung der politischen Agora in Brüssel usw. bedeuten.
(3) Das dritte große Problem, das ich derzeit sehe, besteht aufbauend auf der Frage der „Unteilbarkeit“; bisher war diese nicht weniger wie ein Paradigma, ein verklammernder Kernwert der EU. Dies ist nicht nur in Gefahr, sondern de facto beinahe schon da, es gilt die Spektren eines guten Gangs in die europäische Zukunft auszuloten. Ich denke, es wäre daher angebracht, über „flexiblere Mitgliedsbedingungen“ im Club der EU zu reden. Es muss nicht ein Europa à la carte sein, aber die Möglichkeit abseits eines strukturell nicht einlösbaren Topos der „Unteilbarkeit“ die Fragmentierung von Politik und Kultur, von Gesellschaft und Welt in „Teilwelten“, also auch in europäische Teilwelten abzubilden, steht notwendig zu besprechen an. Es geht nicht darum, sich nur „die Rosinen rauszupicken“, aber darum, jenseits des Topos der „Unteilbarkeit“ die Wirklichkeiten der momentanen Integration zu managen – im Sinne eine kulturellen und politischen Governance der vielen Räume, wie sie einfach unserer Zeit entspricht.
Ich möchte zuletzt in diesem länger gewordenen Gedankenspiel eine Anedokte setzen, die mir soeben „widerfahren“ ist und welche ich in längerfristiger Perspektive für symptomatisch für EUropa halte. Ich war heute mittags bei meinen Eltern zum Essen eingeladen, dies hat so etwas wie Tradition; die Familie kommt zusammen und wir diskutieren oft auch, was in der Welt so vor sich geht. Dies betrifft die traurigen Vorkommnisse in Graz vom letztem Wochenende, aber immer auch die Welt und Politik, wie wir sie eben unterschiedlich wahrnehmen. Heute haben meine Schwester und ihr Mann von ihrem eben abgeschlossenen Urlaub gesprochen; trotz der Tatsache, dass in Brüssel, Athen und sonstwo in Europa und der Welt „Schicksalstage“ vor sich gehen, ging keine einzige Bemerkung oder Assoziation Richtung EUropa und die Griechenlandkrise. Der Urlaub meiner Angehörigen „overrulte“ im Privatdiskurs die Existenzsituation in EUropa; zum Vergleich die Änderungen in der Steiermark nach den Landtagswahlen vom 31. Mai wurde bei einem analogen Familientreffen höchst breit diskutiert. Ich schließe daher: EUropa ist ein Schweigendes, wenn nicht sogar ein zu Verschweigendes. Si tacuisses…
Bitte entschuldigen Sie das Ausarten meiner Reflexion!
Beste Grüße,
Peter Pichler