- Einleitung
[1] Wenn heutzutage „Europa“ gesagt wird, ist eigentlich fast immer die Europäische Union gemeint. Zwar ist die EU unter jenen Institutionen und Organisationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg für europäische Zielsetzungen geschaffen wurden wie der Europarat und später die OSZE die kleinere Gemeinschaft, aber sie entfaltet im positiven wie krisenhaften Sinn von allen die größte Dynamik und besitzt die größte Wirkkraft. Wer unter den europäischen Staaten nicht Mitglied ist, möchte es – jedenfalls in der überwiegenden Zahl – werden; Länder wie Norwegen und die Schweiz sind mit der EU sehr eng verbunden, das Vereinigte Königreich wird es auch nach dem Brexit bleiben, der EWR umfasst mehr Mitglieder als die EU selbst und stellt eine Art EU-Erweiterung auf niedrigerem Niveau dar, bestimmte Programme wie Erasmus erfassen weitere Länder im Vergleich zum EWR, nicht zu reden von zahllosen Abkommen, Assoziierungen und Programmen, die auch nicht-europäische Länder einbeziehen.
[2] Schon die ursprünglichen sechs Länder der EGKS und der EWG (Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten) nahmen wie selbstverständlich für sich Anspruch, „Europa“ zu sein. Symbolisch geschah dies durch den Verweis auf das Reich Karls des Großen auf dem Hintergrund der relativ hohen Gebietsidentität zwischen karolingischem Reich und EGKS/EWG. Heinrich Böll hat in seiner Adaptierung des Europamythos „Er kam als Bierfahrer“ (1969) diese Konstellation hintersinnig aufgespießt.
[3] Inhaltlich stand nach 1945 der Bezug auf die Ideen und Werte der europäischen Aufklärung im Vordergrund, darunter die Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Friedensidee, insbesondere auch die Idee von Europa als Kultur im Singular. Dies wurde als Kern der Europaidee angesehen. Die Gemeinschaft der Sechs verstand sich gewissermaßen exklusiv als Hüterin dieser Idee, speziell auch im Verhältnis zum Ostblock.
[4] Die Verkürzungen, die dieses Selbstbild enthielt, müssen hier nicht weiter herausgearbeitet werden; sie sind offensichtlich, ändern aber nichts daran, dass der Anspruch, hier, also in der EGKS bzw. EWG, dann EG und schließlich EU, werde das wahre Europa repräsentiert, erfolgreich durchgesetzt wurde – dank des Umstands, dass die europäische Integration bis zur großen Erweiterung 2004 im allgemeinen als erfolgreicher zukunftsgerichteter Prozess wahrgenommen wurde, dem immer wieder auftauchende Krisen nichts anhaben konnten.
[5] Das Thema „Europa ‚anders‘ denken“ verweist naheliegenderweise somit zuerst auf EU-Europa, denn dieses steht für die zeit- und gegenwartsgeschichtliche Europaidee. Wenn ich eine „kulturwissenschaftliche Antwort“ in Aussicht stelle, bedeutet das, dass ich mich im Folgenden nicht so sehr mit Fragen der institutionellen Reform oder einer institutionellen Alternative zur EU befasse, sondern eher bei europäischer Kultur und Gesellschaft ansetze. Gleichwohl sollen ein paar Fakten und Gedanken aufgegriffen werden, die das „Europa ‚anders‘ denken“ im Sinne von „Das EU-Europa ‚anders‘ denken“ betreffen.
- EU-Europa ‚anders‘ denken?
[6] Viele der Elemente, die den Grund für die positive Wahrnehmung der europäischen Integration bildeten, gelten auch heute noch, aber sie sind seit 2008, als die Finanzkrise voll auf Europa durchschlug, und seit 2015, als die Flüchtlingsströme Europa so massiv wie seit Jahrzehnten nicht mehr erreichten, ganz in den Hintergrund getreten wenn nicht vergessen.
[7] Solche kollektiven Wahrnehmungen, von denen ich rede, sind freilich selektiv. Wenn man will, auch ungerecht, weil sie selektiv auf akute Probleme fokussiert sind, und sie sind vergleichsweise unbeständig. Das offenkundig derzeit verbreitete Gefühl, es müsse sich mit EU-Europa etwas grundlegend ändern, könnte eventuell doch nur vorrübergehend sein. So stieg nach dem Brexit-Votum in manchen EU-Ländern die Zustimmung der Bevölkerung zur EU wieder an – als habe das Votum viele wachgerüttelt und erkennen lassen, was die EU, verstanden als Kürzel für die europäische Integration, in Wirklichkeit wert ist.
[8] Das ändert nichts daran, dass Anstöße, über Europa neu nachzudenken, es anders zu denken, Anstöße, Europa (im Sinne von EU-Europa) umzubauen, seit einiger Zeit deutlich zunehmen. Unter den Anstößen, Europa anders zu denken, hat die Kritik am wirklichen oder vermeintlichen Demokratiedefizit der EU die längste Tradition. Exemplarisch erwähne ich hierfür als eine, laut vernehmliche, Stimme Antoine Vauchez, der sich seit einigen Jahren mit der Frage, wie die EU demokratisiert werden kann, auseinandersetzt.
[9] Genauso ‚alt‘ ist die Debatte um ein „Europa der zwei [oder mehr] Geschwindigkeiten“. Diese bezieht sich im Kern darauf, dass Staaten, die den Auftrag des EG- bzw. EU-Vertrages zu einer immer engeren Zusammenarbeit für sich ernst nehmen wollen, dies tun können, während andere EU-Mitglieder, die dies nicht in derselben Intensität wollen, nicht gezwungen sein sollen, an einer immer engeren Zusammenarbeit teilzunehmen. Diese Idee geht über die Teilgemeinschaften, die es in der EU bereits gibt, Schengen und Euro, hinaus.
[10] Das kritisierte Demokratiedefizit betrifft zwar eine sehr grundsätzliche Frage, die Debatte zielte aber bisher immer auf eine Reform der EU-Institutionen und nicht auf eine grundsätzliche Infragestellung. Diese hat sich jedoch in der jüngsten Zeit immer stärker in den Vordergrund geschoben. Der Grund liegt im vorherrschenden Eindruck, dass bestimmte Problemkonstellationen und Krisen schlecht oder gar nicht gelöst werden, dass es keine „europäische Solidarität“ gebe, obwohl eine solche offensichtlich notwendig sei. Mit dem Brexit-Votum wurde exakt in dieser Sinnkrise eine Antwort gegeben, nämlich, dass es vermeintlich besser sein kann, nicht Mitglied des EU-Europas zu sein.
[11] In der Geschichte der europäischen Integration stellt das Vereinigte Königreich zweifellos einen Sonderfall dar, aber in früheren Jahren haben die Wahlbevölkerungen der Schweiz (1992) und Norwegens (1972 und 1994) gegen einen EG- bzw. EU-Beitritt gestimmt. Pikanterweise zog die Schweiz erst dieses Jahr kurz vor der Abstimmung in Großbritannien ihr Beitrittsgesuch aus dem Jahr 1992 offiziell und formell zurück. Nicht vergessen ist das „Nein“ der französischen und niederländischen Wahlbevölkerung 2005 gegen den vorgeschlagenen EU-Verfassungsvertrag.
[12] Während all dies und manche andere Abstimmung auf einer Skala von „weniger Integration“ bis „mehr Integration“ angesiedelt werden könnte, schiebt sich Fundamentalkritik in den Vordergrund. Ulrike Guérot etwa plädiert für eine „Europäische Republik“, unter der sie etwas entschieden Anderes als die EU versteht. Die Europäische Akademie der Wissenschaften hat ein auf die öffentliche Debatte zielendes Projekt gestartet, das den rechtswirksam registrierten programmatischen Namen „Next Europe“ trägt. Im Oktober 2014 fand am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen ein Workshop zum Thema „Europa anders denken“ statt – kurz, auch in verschiedenen Wissenschaften entfernt sich die Grundtendenz von einer eher wohlwollend-kritischen Begleitung des europäischen Integrationsprozesses in Gestalt der EU und ihrer Vorgängerinnen hin zu einer stärker fundamental-kritisch ausgerichteten Perspektive, deren Ziel eine der Gegenwart angemessene Form der europäischen Integration darstellt, deren Gewand womöglich nicht die jetzigen EU-Institutionen sein könnten.
- Michel Houellebecqs „Soumission“ als Fiktion Europas
[13] Michel Houellebecq, um auf ein literarisches Beispiel einzugehen, hat in seinem am 7. Januar 2015, zufällig zugleich dem Tag des Anschlags auf Charlie Hebdo in Paris, erschienenen Roman „Soumission“ (Unterwerfung) ein völlig anderes europäisches Szenario für 2022 entworfen. Der Roman stellt in erster Linie eine vernichtende Kritik der französischen Parteien, Politik und Gesellschaft dar, enthält aber auch ein europapolitisches Szenario: Der in Frankreich 2022 zum Präsidenten gewählte Muslimbruder Mohamed Ben Abbes lässt sich vom Römischen Reich des Kaisers Augustus inspirieren und stellt die Weichen für eine Verschiebung des EU-Schwerpunkts in den Mittelmeerraum. Eine EU-Mitgliedschaft von Ägypten, Libyen und den Maghreb-Staaten steht bevor.
[14] Es handelt sich um einen Roman, das heißt, man sollte sich nicht dabei aufhalten, dass das europapolitische Szenario eher unrealistisch ist, sondern die Frage stellen, warum Houellebecq dieses Szenario benützt. Es handelt sich vielleicht um eine beißende Satire auf Frankreichs „mission civilisatrice“, da immer wieder angedeutet wird, welche Mitgliedsländer der EU dem französischen Weg zu folgen bereit sind.
[15] Im Zentrum steht allerdings ein gesellschaftskritischer Ansatz, nämlich die Versuchung durch das Patriarchat, die Verführbarkeit der Männer (in Frankreich) durch die Aussicht auf die Wiedereinführung des Patriarchats, auf die erstmalige Legalisierung der Polygamie für Männer, die minderjährige Mädchen mit einschließt, und die Rückverbannung der Frauen für dienende Funktionen ins Haus und vor allem ins Bett. Houellebecq verwendet den Begriff „Patriarchat“. Im Licht der gesellschaftswissenschaftlichen Diskussionen seit Connells einflussreichem Buch über hegemonial-männliche Gesellschaften lässt sich sagen, dass der Autor das Szenario eines Rückbaus der Gesellschaft zu einer heterosexuell-hegemonial-männlichen Gesellschaft beschreibt.
[16] Houellebecq bindet diese deprimierend-skeptische Sicht auf die gesellschaftliche Entwicklung der nächsten Jahre an einen immensen Bedeutungsgewinn und schließlich bestimmenden Einfluss des Islam auf die französische sowie europäische Gesellschaft wie er auch den Islam scheinbar ausschließlich mit einem patriarchalischen bzw. heterosexuell-hegemonial-männlichen Gesellschaftsmodell verbindet. In seinem Szenario einer römisch-augusteischen EU mit Ägypten, Libyen und den Maghreb-Staaten – ein Beitritt der Türkei wird ebenfalls einbezogen – würde bei dieser Interpretation des muslimischen Gesellschaftsmodells genau dieses nicht zu verhindern sein. Und natürlich würde man im Reich des Augustus völlig vergeblich nach einer egalitären Gesellschaft suchen…
[17] An den von Houellebecq im Roman beschriebenen muslimischen Zusammenhängen ist starke Kritik geäußert worden, allerdings setzt diese Kritik eine Wörtlichkeit des Romans voraus, die die Romanform als solche nicht hat. Die bestimmende Rolle des Islam im Roman wird einerseits durch die politischen Spiele und Stellungskriege in Frankreich ermöglicht, andererseits, und darin geht der Roman über die Frankreich-Kritik hinaus, durch Desorientiertheit, Wertelosigkeit und Sinnentleerung der Menschen. Jede andere Verführung und Versuchung könnte die Funktionsstelle einnehmen, die Houellebecq dem gemäßigten, ein patriarchales Gesellschaftsmodell verfolgenden Islam des muslimischen Präsidenten Frankreichs zuweist. Houellebecq verbindet in seiner Fiktion kulturelle und gesellschaftliche Transformationen mit der institutionellen Transformation der EU. Damit zeigt er, Fiktion hin oder her, auf den Kern der Krise der Europaidee, der durch diesen Zusammenhang ausgedrückt wird. Wie finden Gesellschaft, Kultur und Europaidee wieder zusammen? Hoffentlich nicht so, wie in Houellebecqs „Soumission“ – aber wie dann?
[18] In meinem gerade erschienenen Buch „Gender and Eurocentrism. A Conceptual Approach to European History“ analysiere ich diese Zusammenhänge. Eine grundlegende Frage lautet, wie eine verbreitete Europaidee überhaupt zustande kommt, was ihre epistemologischen Kontexte sind, wer und was sie trägt, und wer und was sie irgendwann nicht mehr trägt. Die Antwort lautet, dass diejenige Europaidee, die bis einige Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschte und den Prozess der europäischen Integration befruchten und tragen konnte, als Kulturidee zusammen mit dem heterosexuell-hegemonial-männlichen Gesellschaftsmodell der Aufklärung entstand und durch ein europäisches Sprecherkollektiv als performativer Sprechakt gesellschaftlich durchgesetzt wurde. Diese in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelegte Grundlage, die zweihundert Jahre wirksam blieb, löst sich allmählich auf. Das heißt, zu den Überlegungen über eine politisch-institutionelle Reform der EU muss eine, am besten durch die Kulturwissenschaften leistbare, Analyse der Grundlagen und Bedingungen der Europaidee, also der Art und Weise, wie wir Europa denken, hinzutreten.
- Wie entsteht eine Europaidee?
[19] Die bisher zumeist begriffs- und ideengeschichtlichen Darstellungen der Europaidee ermöglichen, inhaltliche Kontinuitäten und Modifizierungen nachzuvollziehen, aber sie können nicht erklären, inwieweit, und wenn ja, inwiefern, eine Europaidee sozial verbindlich wird, also einen gewissen Konsens erzeugt. Genau dies muss uns aber interessieren, angesichts einer Bevölkerung von über 500 Millionen Menschen allein in der EU, andere europäische Länder noch nicht mitgezählt. Das Schlagwort von der EU als Elitenprojekt, dem die europäische Gesellschaft schon längst nicht mehr folge, bezeichnet das ganze Ausmaß der Problemstellung.
[20] Damit eine Europaidee sozio-kulturell verbindlich werden kann, muss sie in der Form eines historischen kollektiven performativen Sprechakts auftreten. Damit performative Sprechakte gelingen, müssen bestimmte fundamentale Voraussetzungen erfüllt sein, auch muss der epistemologische Kontext der Zeit oder Epoche solche Sprechakte zulassen. Das heißt, es gibt epistemologische Kontexte, die diese Sprechakte vielleicht nicht verhindern, sie aber wirkungslos ins Leere laufen lassen. Es geht um Essentialismus versus Anti-Essentialismus.
[21] Es sei klar gestellt, dass es immer unterschiedliche Auffassungen über Europa gegeben hat, aber dies hat nicht verhindert, dass für bestimmte Zeiten eine breit in die Gesellschaft hineinwirkende Europaidee Wirkkraft entfaltete, während andere zwar im Raum standen, aber sich nicht durchsetzten. Von einer Europaidee, die die Bedingung eines breiteren Hineinwirkens in die Gesellschaft und einer gewissen Konsensualität erfüllt, kann meines Erachtens erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Rede sein.
- Die Europaidee der Aufklärung
[22] Der Kern der Europaidee des 18. Jahrhunderts lässt sich knapp formulieren: Europa ist eine Kultur im Singular. Wahrscheinlich würden die meisten unter uns das auch heute im Jahr 2016 noch so sehen und man hinterfragt diese Annahme selten, weil sie selbstverständlich erscheint. Für das Eurobarometer wird z. B. gefragt, was nach Meinung der Befragten am ehesten das europäische Gemeinsame ausmacht. Bei etwas mehr als einem Dutzend möglichen Antworten können maximal drei Antworten angekreuzt werden. „Kultur“ nimmt den ersten Platz ein, gefolgt von „Geschichte“. „Wirtschaft“, „Sport“ und „Geografie“ sind die nächst häufigsten Antworten. Dass „Kultur“ als Ausdruck des europäisch Gemeinsamen den Spitzenplatz einnimmt, stellt eine sehr deutliche Aussage dar. Die Definition Europas als Kultur in der Aufklärung ist bis heute wirksam, so scheint es.
[23] Genau besehen ist damit jedoch nicht viel Erkenntnis gewonnen, denn Kultur ist ein dehnbarer Begriff. Welchen Kulturbegriff die Befragten des Eurobarometers besitzen, bleibt ungeklärt, es muss sich auch nicht zwingend um die eine Kultur im Singular handeln, es könnte sich lediglich um den engeren Kulturbegriff, sozusagen den Feuilleton-Begriff von Kultur handeln.
[24] Bevor gefragt wird, wie Europa als Kultur in der Aufklärung verstanden wurde, soll zunächst geklärt werden, wie die erwähnte Breitenwirkung und gesellschaftliche Verbindlichkeit entsteht.
[25] Die Geschichte des Begriffs und Namens Europa beginnt im 8. Jarhundert vor Chr. Vermutlich ist der Name deutlich älter, aber wir verfügen über keine älteren Quellen. Eine inhaltliche Substanziierung, die weit über das Geografische hinausgeht und teilweise bis heute als Vernetzung diverser inhaltlicher Elemente erhalten geblieben ist, zeichnet sich allerdings erst im Humanismus ab. Ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kumulieren sich mehrere Bedingungen, ohne die nicht von einer gesellschaftlichen Europaidee gesprochen werden könnte. Es gibt eine soziale Basis, die ich in meinem Buch „Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität“ als „Europäischen Demos“ identifiziert habe, dessen Mitglieder auf die eine oder andere Weise an der Ausübung von Macht teilhaben und deren Bezugsraum Europa ist. Fürsten, Gelehrte/Humanisten, bestimmte Künstler, bestimmte Adelshäuser, hohe Funktionsträger, die zumeist in der Epoche des Humanismus auch der Gelehrtenrepublik angehörten, hohe Kleriker, für die dasselbe galt – insgesamt in Europa ein paar Tausend, vielleicht unter 10.000, vielleicht drüber.
[26] Dieser Europäische Demos erweitert sich im Lauf der Frühen Neuzeit. Vor allem im 18. Jahrhundert kommt die Masse der Personen, die man zu diesem Demos rechnen kann, aus den Reihen der Aufklärer und der Aufgeklärten, also der wachsenden Zahl von intellektuellen Produzenten sowie Rezipienten und kulturellen Mittlern. Die Teilhabe an bestimmten Ideen und Überzeugungen, die durch das explodierende Presse- und Druckwesen sowie die deutlich an Fahrt aufnehmende Alphabetisierung der Bevölkerung verbreitet werden, ist kennzeichnend.
[27] Der medial-kommunikative Verbund dieser Personen, deren Zahl man für ganz Europa vermutlich auf ein paar Hunderttausend schätzen kann, ist so stark, dass es erstmals gelingt, neue historische kollektive performative Sprechakte zu tätigen. Zweifellos stellt z. B. die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 einen solchen historischen kollektiven performativen Sprechakt dar, aber dasselbe lässt sich in Bezug auf die neuartige Definition Europas als Kultur im Singular sagen.
[28] Performative Sprechakte sind insoweit besondere Sprechakte, als sie vorgeben, eine bestehende Identität auszusprechen, zur Kenntnis zu bringen. Im wissenschaftlichen Verständnis ist der performative Sprechakt ein sozial verankerter und akzeptierter Konstruktionsvorgang bzw. ein Vorgang der Zuweisung einer bestimmten Identität. Im Selbstverständnis des Sprechers oder der Sprecherin ist er kein Konstruktionsvorgang, sondern er bringt etwas, was schon da ist, nämlich eine Identität, einer zuhörenden Gemeinschaft zur Kenntnis. Eingebettet sind performative Sprechakte normalerweise in einen Kontext von Performanz, der die Wirkung unterstützt. Ist er getätigt, gilt er. Dann bist du z. B. eine Junge oder ein Mädchen, dann heißt du so oder so und all das besitzt weitreichende sozio-kulturelle Festlegungen, die nach dem performativen Sprechakt deinem individuellen Zugriff entzogen sind.
[29] Historisch bezogen sich viele der performativen Sprechakte auf soziale Identitätszuweisungen an Individuen: Der früher bei der Geburt eines Kindes, heute eher schon beim Ultraschall, getätigte Ausspruch zum Geschlecht war und ist ein performativer Sprechakt, den Judith Butler dekonstruiert hat. Dasselbe galt für die Namensgebung nach einer Heiligen oder einem Heiligen oder einen antiken Figur usw. Der Sprechakt wies immer eine sozio-kulturelle Identität zu, aus der sich zu befreien schier unmöglich war. Dass das heute nicht mehr so einvernehmlich gilt und der historische diesbezügliche gesellschaftliche Konsens nicht mehr gegeben ist, sei schon jetzt festgehalten.
[30] Solange geglaubt wird, dass Identitäten ontologisch begründet sind und daher essentialistisch zu verstehen sind, besteht kein Anlass, jene performativen Sprechakte zu hinterfragen, die vermeintliche Identitäten gegenüber der Gemeinschaft zur Kenntnis bringen. Solange bleibt der gesellschaftliche Konsens darüber erhalten. Es bedarf somit einer fundamentalen epistemologischen Veränderung, um historisch-sozial etablierten performativen Sprechakten die Grundlage mindestens teilweise zu entziehen – wie sie mit den dekonstruierenden Verfahren der Erkenntnisgewinnung besonders nach dem Zweiten Weltkrieg eingetreten ist.
[31] Wenn im 18. Jahrhundert Europa als Kultur im Singular definiert wird, ist das ontologisch gemeint und drückt ein essentielles Sein aus. Die bereits sozial eingeübte Methode des performativen Sprechakts wird auf Europa, auf die Europaidee angewendet, das heißt, die dem performativen Sprechakt eigentümliche Bezogenheit auf konkrete Personen in einer face-to-face-Kommunikation wird auf einen objektivierten Zusammenhang übertragen und richtet sich an ein Massenkollektiv jenseits des Rahmens der face-to-face-Kommunikation.
[32] Damit verbunden sind eine ganze Reihe von Bedeutungsimplikationen, z. B., dass „Kultur“ seit dem 18. Jahrhundert bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ein Geschlecht hat. Bleiben wir aber zunächst beim historischen kollektiven performativen Sprechakt selber.
[33] Der Europäische Demos des 18. Jahrhunderts besaß Zugriff auf alle performativen Medien, zu denen außer Presse und Buch auch Kunst, Musik, Literatur, Theater und visualisierende Medien, auch aus den Wissenschaften (z. B. Kartografie), und natürlich die Institutionen der für die Aufklärung typischen Soziabilität gehörten. Europa und die Bestimmung seiner Essenz war ein großes Thema, es kam in all den genannten Medien und an den Orten in großen Mengen vor, die im engeren Wortsinn der Performanz dienten (Theater, Oper, Kirchen, Palais…). An den Orten der Performanz wurden bis heute gültige Kulturmuster ausgebildet, hinzukam die maßgebliche Veränderung der Bedeutung des Kulturbegriffs, die Jörg Fisch in seinem Artikel „Zivilisation, Kultur“ in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ nachgewiesen hat. Der Singularbegriff „Kultur“ bzw. „civilisation“ (Englisch und Französisch), mit dem wir nach wie vor heute arbeiten, entwickelte sich so im 18. Jahrhundert. Diese Bedeutungsentwicklung war die Voraussetzung dafür, Europa als Kultur im Singular zu verstehen, zugleich trug die Verbindung von Europa, Kultur oder Zivilisation und Singularbegriff zur Festigung der Bedeutungsentwicklung bei.
[34] Diese Entwicklung ist im Kontext der epistemologischen Transformation, die die Aufklärung charakterisiert, zu verorten. Wesentlich war dabei die Essentialisierung der natürlichen und kulturellen Erscheinungen. Im Vergleich zum 21. Jahrhundert ist schnell zu bemerken, dass im Zuge der erkenntnistheoretischen Methode der Dekonstruktion Begriffe, die in der Aufklärung in den Kollektivsingular des Essentialismus gesetzt wurden, heute bezeichnenderweise wieder repluralisiert werden oder, wenn man etwa die semiotische Definition von Kultur ins Auge fasst, verflüssigt werden, ganz im Sinne der von Zygmunt Bauman beschriebenen „flüssigen Moderne“.
[35] Ohne Nuancen, Differenzen oder konträre Meinungen, wie sie etwa bezüglich Europa unter dem Schlagwort „Chimäre Europa“ vorkamen, unter den Teppich kehren zu wollen, gelang es dem besagten Europäischen Demos, unserem Sprecherkollektiv des performativen Sprechakts mit dem Inhalt „Du, Europa, bist eine Kultur im Singular!“, diese Identitätszuweisung, die das Kollektiv dem eigenen Verständnis nach ja nicht konstruierte sondern nur zur Kenntnis brachte, salopp formuliert gesellschaftlich durchzudrücken. Medienflagschiff waren die Kulturgeschichten der Menschheit, die uns unter vielen Namen begegnen: Universalgeschichte (man muss dazusagen: neuen Typs, der sich von der christlichen Universalgeschichte eines Bossuet abhob), Geschichte des Fortschritts des menschlichen Geistes, Geschichte der Menschheit, aber die Kernaussage von der europäischen Kultur als der am weitesten entwickelten in der Menschheitsgeschichte begegnet uns in allen möglichen Zusammenhängen. Auch die Kunst verbreitete diese Kernaussage geradezu massenhaft, wie ein von mir geleitetes Forschungsprojekt zu den Erdteilallegorien vom 17. bis 19. Jahrhundert gezeigt hat.
[36] Der Zusammenhang mit der Geschichte ist wesentlich. Europa wird im 18. Jahrhundert nicht nur als eine Kultur betrachtet, sondern diese hat auch eine, also gemeinsame Geschichte. Das gehört zum systemischen Denken der Aufklärung. Dadurch erhält die Geschichte auch einen bzw. besser ihren Sinn, der sich im zivilisatorischen Fortschritt resümiert.
[37] Die Begriffe Kultur oder Zivilisation sind im 18. Jahrhundert nicht für Europa reserviert, Kultur oder Zivilisation gibt es auch anderswo, in Asien, in Afrika, in Amerika. Für die meisten Sprecher ist der größte Fortschritt aber in Europa erreicht. Insoweit ist der performative Sprechakt europazentrisch. Er ist es aber vor allem noch in einer Beziehung, die mit der Entwicklung eines Systems der Geschlechtsidentitäten in der Aufklärung zu tun hat, das zum heterosexuell-hegemonial-männlichen Gesellschaftsmodell führte. Kultur schaffen gehörte demzufolge zur männlichen Geschlechtsidentität. Kultur ist ein Ergebnis männlichen Kulturschaffens. Nicht zufällig wird der Begriff des „europäischen Menschen“ erst im 18. Jahrhundert geprägt, zunächst auf Latein als homo europaeus beim berühmten Carl von Linné im berühmten Systema Naturae, erstmals 1735 veröffentlicht. Dann tritt die Bezeichnung in verschiedenen Versionen, darunter „Europäer“, auf und wird oft mit den Adjektiven „weiß“ und „christlich“ kombiniert. Hier spielen früh die anthropologischen und insbesondere rassenkundlichen Diskurse der Aufklärung hinein. In Texten wie Bildern tritt nur der männliche Europäer als vollkommen zivilisiert auf, amerikanische (sprich indianische) und afrikanische Männer sind eindeutig mit Natur assoziiert, was bezüglich Europa der vermeintlichen Geschlechtsidentität der Frauen zugeordnet wird, asiatische Männer stehen wie Asien insgesamt in der Hierarchie der Zivilisationen den Europäern näher. Europa als Kultur ist eine Männersache.
[38] Das lässt sich sehr gut durch viele Quellen bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgen, zumal das frühe 19. Jahrhundert noch dezidierter als das 18. Jahrhundert die Auffassung etabliert, dass „Geschichte“ in erster Linie einmal die „Geschichte großer Männer“ ist. François Guizots Kulturgeschichte Europas aus den 1820ern, die explizit diesem Interpretament folgt, wirkte modellbildend. Das wirkt bis in die Europadiskurse der Nachkriegszeit im 20. Jahrhundert hinein. Es ist hier keine Gelegenheit, das im Detail auszubreiten, so will ich nur auf meine diversen Arbeiten zur Geschichte der Figur und des Begriffs homo europaeus und seiner Synonyme in verschiedenen Sprachen verweisen.
[39] Der scheinbar simple kollektive performative Sprechakt des Sprecherkollektivs der Aufklärung „Du, Europa, bist eine Kultur im Singular!“ hatte es also in sich, insoweit er mit dem heterosexuell-hegemonial-männlichen Gesellschaftsmodell derselben Aufklärung verknüpft wurde, das nicht theoretisches Modell blieb, sondern im Lauf eines Jahrhunderts, spätestens in der Phase des Imperialismus, in großem Umfang sozial implementiert wurde.
[40] Die als historisch relevant erachteten Männer waren nicht nur Militärs, sondern auch Zivilisten, die rationale Pläne, z. B. Europapläne, entwickelten. Bis in die Gegenwart ist die Fokussierung auf bestimmte Personen wie Graf Coudenhove-Kalergi oder die sogenannten Gründerväter der europäischen Integration (Monnet, Schuman, Adenauer, de Gaulle, de Gasperi usw.) nicht zu übersehen. An Politikern, die sich als starke Männer in Szene setzen, die jeden gordischen Problemknoten zerhauen können, mangelt es nicht: Seehofer, Orbán, Putin, Erdoǧan, Strache, Kazcyński, Trump, um nur ein paar zu nennen. Diese lehnen auch eine pluralistische Gesellschaft ab und hängen dem anachronistischen Modell der heterosexuell-hegemonial-männlichen Gesellschaft nach. Und dies führt uns zur Funktion performativer Sprechakte in Bezug auf das heutige ‚Europa denken‘ zurück.
- Europaidee unter veränderten Bedingungen im 21. Jahrhundert
[41] Grundsätzlich sind die Funktionsbedingungen historischer kollektiver performativer Sprechakte und jener ursprünglich von John L. Austin und anderen gemeinten sozial praktizierten Sprechakte, etwa bei Geburten, Taufen, Heiraten usw. dieselben und sie hängen zusammen und sie hängen von der vorherrschenden Erkenntnistheorie ab. Die Aufklärung hat mit ihrem Modell von zwei Geschlechtsidentitäten die frühneuzeitliche Entwicklung systemisch resümiert und mit dem Kulturbegriff und damit auch mit der Europaidee essentialistisch verwoben. Der ganze pädagogische und Bildungsapparat, den die Aufklärung erdachte und der weitgehend umgesetzt wurde, bewirkte, dass der gewohnte performative Sprechakt „Du bist ein Junge!“ oder „Du bist ein Mädchen!“ eine sozusagen vollständige sozio-kulturelle sowie biologische Geschlechtsidentität besagte. Die erfolgte und bis nach dem Zweiten Weltkrieg anhaltende Verzahnung dieser Geschlechtsidentität mit dem Kultur- und Europabegriff bedeutet, dass wir angesichts der gegenwärtigen Krise der Europaidee auf diesen in der Aufklärung grundgelegten Zusammenhang schauen sollten.
[42] Wenn man symbolische Daten mag, nimmt man „Mai 1968“, um auszudrücken, dass sich dieser Zusammenhang spätestens Ende der 1960er-Jahre zwar nicht auflöste, aber in eine entgegengesetzte Richtung zu entwickeln begann. Michel Houellebecq zeigt in seinem Roman „Soumission“, was mit der Europaidee geschehen könnte, wollte man das Rad der Geschichte zurückdrehen. Putin, Kaczyński und Orbán oder die in mehreren europäischen Ländern aktiven „Identitären“, die Houellebecq ebenfalls in seinem Roman verarbeitet, sind gute Beispiele dafür, dass das Zurückdrehen des Rads zur heterosexuell-hegemonial-männlichen Gesellschaft die Europaidee zerstört. An der Türkei und manchen Balkanländern sowie anderen kann man studieren, dass ein Festhalten an dieser auf dem Modell der Geschlechtsidentität beruhenden Gesellschaft zu fundamentalen Inkompatibilitäten mit der Europaidee führt – es sei denn, die Dinge entwickeln sich wie in Houellebecq’s Fiktion.
[43] Die seit den 1960er-Jahren intensivierte Infragestellung des heterosexuell-hegemonial-männlichen Gesellschaftsmodells und die Entkoppelung des Kulturbegriffs von unterstellten Geschlechtsidentitäten geht mit der zunehmenden gesellschaftlichen Praxis einher, gewohnte performative Sprechakte in Bezug auf das vermeintliche zur Kenntnis bringen individueller Identitäten, zwar noch zu tätigen, ihnen aber keine allzu bindende Bedeutung mehr beizumessen bzw. dem oder der Einzelnen es zu überlassen, diesen performativen Sprechakt zu gegebener Zeit außer Kraft zu setzen. (In manchen europäischen Staaten ist die Änderung von Geschlecht und Namen leichter geworden, die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft ist relativ leicht revidierbar, etc.) Die epistemologische Methode der Dekonstruktion ist längst zur Grundlage sozialer Praktiken geworden – jedoch nicht überall in Europa und nicht unbestritten.
[44] All das hat Konsequenzen für die Europaidee: Wenn Kultur im gegenwärtigen pluralistischen Gesellschaftsmodell, das in den einzelnen europäischen Ländern unterschiedlich stark oder gering greift, nicht mehr an den Mann als aufgrund einer vermeintlichen Geschlechtsidentität Kulturschaffenden gebunden ist oder gebunden werden kann, ist Europa als Kultur im Singular nicht mehr als Produkt des kulturschaffenden männlichen Geschlechts konzipierbar, sie ist generell nicht mehr im Singular konzipierbar. Vor allem das sozio-kulturelle essentialistische Modell der heterosexuell-hegemonial-männlichen Gesellschaft erforderte das Prinzip von „Einheit“, das in der Europaidee lange Zeit einen zentralen Platz einnahm und mit der Infragestellung des auf Geschlechtsidentitäten beruhenden Gesellschaftsmodells seine Wirkkraft verliert.
[45] Performative Sprechakte, auch historische kollektive, funktionieren nicht mehr wie früher. Wir sind in einer post-performativen Zeit angekommen. Kultur im Singular als Grundlage der europäischen Einheitsidee entfällt mittlerweile, da der kollektive performative Sprechakt nicht mehr funktioniert. Genau besehen gibt es überhaupt kein Sprecher- und Sprecherinnenkollektiv mehr, das diesen performativen Sprechakt tätigen könnte, es existiert kein Europäischer Demos. Denn wir haben es nicht mehr mit einigen Hunderttausend Personen zu tun, sondern potentiell mit einigen hundert Millionen Menschen mit sehr individuellen Europaideen. Darin werden sich sicherlich eine Reihe von Mustern erkennen lassen, aber Muster sind etwas anderes als performative Sprechakte.
- Kulturwissenschaftliche Antwort?
[46] Die kulturwissenschaftliche Antwort auf die Frage, ob wir Europa ‚anders‘ denken müssen, lautet eindeutig ja. Da die sozio-kulturelle und epistemologische Figuration, in der die Europaidee der Aufklärung entstand und sich durchsetzte, zerfällt, ist zu fragen, wie stattdessen zu denken ist. Es geht zuerst um das Wie, dann um das Was. Zu beidem würde man jeweils ein Buch schreiben müssen, sodass es an dieser Stelle nur um einige in die Diskussion überleitende Gedanken gehen kann.
[47] Dem teilweise gewaltsam ausgetragenen epistemologischen Konflikt zwischen Essentialismus und Anti-Essentialismus kommt für das „Europa anders denken“ eine Schlüsselrolle zu. Der Konflikt wird auch auf der begrifflichen und metaphorischen Ebene der EU-Europadiskurse deutlich, dort aber rhetorisch und metaphorisch, nicht gewaltsam ausgetragen. Für Europa werden sowohl die Baummetapher (essentialistisch) wie auch die Netzwerk- und Rhizom-Metapher (anti-essentialistisch) verwendet. Das Motto der EU versucht, die eigentlich gegensätzlichen Kategorien Vielfalt und Einheit miteinander zu versöhnen – ein Versuch, der sich in der europapolitischen Praxis tagtäglich von selbst widerlegt.
[48] Vielfalt, die auf Differenz und deren Anerkennung und Akzeptanz beruht, lässt sich schwerlich auf die essentialistische Idee der Einheit beziehen. Der Bezugspunkt ist sehr viel mehr die Herstellung von Kohärenz auf der Sinn- und Bedeutungsebene, die ein gewisses Ausmaß an sozialer, ökonomischer, politischer und kultureller Kohäsion erfordert. Vielfalt, Differenz, Kohäsion und Kohärenz sind Komplementärbegriffe des Anti-Essentialismus während biologische und sozio-kulturelle Geschlechtsidentität sowie ein sehr enger Begriff von Einheit Komplementärbegriffe des Essentialismus sind.
[49] Die Differenz des Differenten in der Vielfalt darf aber nicht so weit gehen, dass Kohärenz und Kohäsion verunmöglicht würden. Die Anhänger des Brexit haben geredet, als handele es sich um eine solche Kohärenz und Kohäsion ausschließende Differenz. Das Differente ist in dem Fall mit dem Vereinigten Königreich definiert worden, was ebenso ignorant wie riskant ist. Auf Differenz beruhende Vielfalt ohne Kohärenz und Kohäsion könnte zu mehreren Europas, zurück zum konfliktreichen Neben- und Gegeneinander von nationalistischen Staaten oder zum regionalen Zerfall der Staaten führen.
[50] „Europa“ nicht im Sinne des essentialistischen Singulars der Aufklärung zu denken, sondern als Vielfalt des Differenten auf der Grundlage von Kohärenz und Kohäsion ist möglich und dies auf eine egalitäre pluralistische Gesellschaft zu beziehen, ist ebenso möglich. Da kollektive performative Sprechakte kaum mehr funktionieren, braucht es nicht einmal einen bewussten Verzicht darauf. Aber welche Konsequenzen hätte das für das EU-Europa, das, wie eingangs festgestellt, am ehesten Europa ausmacht? Müsste konsequenterweise die EU als Institutionengefüge abgeschafft werden, das noch im epistemologischen Kontext des Essentialismus erdacht wurde? Oder bedürfte es eines Umbaus, bei dem kein Stein auf dem anderen bliebe? Wäre die lockerere und unaufwändigere Zusammenarbeit im Europarat eventuell die sehr viel zeitgemäßere Form, die Vielfalt für alle fruchtbar zu machen?
[51] Konsequent wäre es, EU-Europa von der Gesellschaft und der anti-essentialistischen Perspektive her zu denken. Dabei kann nicht mehr auf das Funktionieren eines kollektiven performativen Sprechakts gesetzt werden. Das Erzeugen inhaltlicher Kohärenz in Bezug auf Europa braucht die Europäerinnen und Europäer als Kommunikationsaktive. Die Frage, wie sich das organisieren lässt, ist ebenso zentral wie sie unbeantwortet geblieben ist. Von „europäischer Öffentlichkeit“ bis „soziale Medien“ gibt es viele Praktiken, aber diese weisen keinerlei Kohäsion auf. Unbeantwortet ist auch die Frage, ob Anti-Essentialismus Dezentriertheit erfordert oder zur Folge hat? Dies würde der bisherigen EU-Europaidee umfassend entgegenstehen.
[52] Beim Was ist davon auszugehen, dass eine allfällige Abwicklung des EU-Europas unmöglich sein dürfte. Das aufgrund der vorstehenden Überlegungen Naheliegendste ist es, unter die Ziele des EU-Europas mehr von dem aufzunehmen, was die im Sinne des Anti-Essentialismus pluralistische Gesellschaft braucht. So sieht eine Mehrheit laut Eurobarometer in der bisher von den Regierungen der Mitgliedsländer abgelehnten Sozialunion ein ganz wichtiges Instrument von mehr europäischer Gemeinsamkeit. Diese käme der Mobilität im europäischen Raum entschieden zu gute und müsste durch ein europäischeres Wahlrecht auf allen Ebenen ergänzt werden. Daraus würde sich eine tatsächliche europäische Öffentlichkeit bilden können, ohne die keine inhaltliche Kohärenz über Europa erzielt werden kann.
[53] Wir stehen am Anfang einer Geschichte, nicht am Ende.
Dokumentation:
Der Blogeintrag dokumentiert den Vortrag von Wolfgang Schmale am 18. August 2016 an der Ruhr-Universität Bochum beim „RUB-Europadialog“.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Müssen wir Europa ‚anders‘ denken? Eine kulturwissenschaftliche Antwort. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europa-anders-denken, Eintrag 18.08.2016 [Absatz Nr.].