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Europäische Integration und nationale Identität

Abbildung 2: Identität
Datum: 30 Juli 2017
Von: Wolfgang Schmale
Tags: europäische Integration, nationale Identität
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[1] „Identität“, insbesondere „nationale Identität“ steht aufgrund der zentralen Rolle von Identitätsdenken in Europa seit Jahren im Mittelpunkt vieler Debatten und politischer Programme. Abb. 1 zeigt auf der Grundlage der Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch die Entwicklung der Häufigkeit bei der Benutzung der Wortkombination „nationale Identität“.

Abbildung 1: Nationale Identität

Abb. 1: Nationale Identität

Vergleichende Häufigkeitsanalyse der Wortkombination „nationale Identität“ in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch, 1946-2008, mittels Ngram Viewer, Korpus: Google Books.

[2] Im Großen und Ganzen verhält sich der Kurvenverlauf in den fünf Sprachen sehr ähnlich, aber es gibt auch interessante Unterschiede. Im Englischen steigt die Häufigkeit kontinuierlich ab 1955 an, 1990 beginnt ein bis 2001 anhaltender steiler Aufstieg, ab 1996 übertrifft die Häufigkeit von „national identity“ die aller anderen Sprachen, und zwar bis 2008 einschließlich, dem letzten mittels Ngram Viewer durchsuchbaren Publikationsjahr. Rein chronologisch betrachtet beginnt der Anstieg im Englischen im Jahr des Rücktritts von Margret Thatcher.

[3] Die zweithöchste Häufigkeit verzeichnet das Spanische, der Anstieg wird nach dem Ende des Franco-Regimes signifikant. Der Beitritt zur EG stärkte offenbar das Nationsbewusstsein. Das französische „identité nationale“ steigt seit 1960 kontinuierlich an und erreicht während der Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy, der eine ausdrückliche Politik der nationalen Identität betrieb, einen mehrjährigen Höhepunkt.

[4] Die deutsche und die italienische Kurve sind beide auffällig niedriger als die anderen drei. Die deutsche Kurve steigt zwischen 1965 und 1985 nur langsam an, in den Jahren der deutschen Einheit steigt sie bis 1993 stärker an, danach sinkt sie bis 2008 kontinuierlich auf das Niveau von ca. 1989. Die italienische Kurve ist die insgesamt schwächste. Zwischen 1965 und 1990 steigt sie wenig, dann etwas mehr bis 2000. Danach senkt sie sich langsam. Zwischen 2005-2008 verlaufen die deutsche und die italienische Kurve weitgehend gleich.

[5] Alle Kurven beginnen sich spätestens 20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich nach oben zu entwickeln. Die historischen Höchstwerte seit dem Ende des Kriegs werden in allen fünf Sprachen nach dem Umbruch von 1989/1990 erreicht. Das bedeutet, dass keiner der seit der Gründung der EGKS erfolgten Integrationsschritte die Häufigkeit von „nationaler Identität“ gedämpft hat. Dies stützt die These von Alan S. Milward, dass die europäische Integration den Nationalstaat gerettet hat. Sie hat ihn außerdem mit seiner angenommenen nationalen Identität gesichert, jedenfalls wenig ‚beeinträchtigt‘.

[6] Diese Konsolidierungsphase wird mit der weitgehend friedlichen Revolution in Ostmitteleuropa abgeschlossen. Das Leitbild wird das der „brüderlichen Nationen“ gewesen sein, das sich mit dem Europagedanken gut verträgt.

[7] Danach dürfte „nationale Identität“ die Funktion der Selbstversicherung in einer relativ plötzlich stark veränderten europäischen und, sieht man auf die Auflösung der Sowjetunion wenig später, sogar der globalen Welt übernommen haben. Das erklärt die signifikante Häufigkeitssteigerung. Eine Abkehr vom Leitbild der „brüderlichen Nationen“ hin zur autonomen Nation zeichnet sich ab.

Abbildung 2: Identität

Abb. 2: Identität

 

Vergleich der Häufigkeit von „Identität“ und „nationale Identität“ in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch, 1946-2008, mittels Ngram Viewer, Korpus: Google Books.

[8] Zum Vergleich kann man sich den Gebrauch des Substantivs „Identität“ ohne spezifizierende Adjektive anschauen. Der Befund ist recht ähnlich, nämlich, dass das Wort spätestens ab 1965 immer häufiger wird. Der Befund bleibt vergleichbar, wenn „Identität“ mit dem Adjektiv „individuell“ kombiniert wird (Abb. 2), aber es zeigt sich sehr deutlich, dass die Häufigkeit von „nationale Identität“ weit über der von „individuelle Identität“ liegt.

Abbildung 3: Nationale und individuelle Identität

Abb. 3: Nationale und individuelle Identität

Vergleich der Häufigkeit von „nationale Identität“ und „individuelle Identität“ in den Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch, 1950-2008, mittels Ngram Viewer, Korpus: Google Books.

Vergleich der Häufigkeit von „nationale Identität“ und „individuelle Identität“ in den Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch, 1950-2008, mittels Ngram Viewer, Korpus: Google Books.[1]

[9] Da das Wort „Identität“ in sehr vielen Kontexten Verwendung finden kann, muss mit Interpretationen allein aufgrund der Häufigkeit vorsichtig umgegangen werden. Aber der eindeutige Kurvenverlauf ab 1965 unterstützt die Interpretation, dass die verunsichernden wenn nicht zerstörenden Auswirkungen des Weltkriegs auf jede Art von Identität rund zwanzig Jahre später abgearbeitet worden waren. Freilich zählt „individuelle Identität“ dabei zu den Spätzündern.

Dokumentation:

[1] Um die Grafik übersichtlich zu halten, werden nur drei und nicht fünf Sprachen angezeigt. Die Kurven für „nationale Identität“ im Italienischen und Spanischen verlaufen so flach wie die in den anderen Sprachen.Milward, Alan S. (1994): The European Rescue of the Nation-State. London.

Schmale, Wolfgang (2008): Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität. Stuttgart.

Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):

Wolfgang Schmale: Europäische Integration und nationale Identität. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europaeische-integration-und-nationale-identitaet, Eintrag 30.07.2017 [Absatz Nr.].

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