[1] Das Thema „Zukunft der Europäischen Identität“ setzt voraus, dass es eine solche Identität gibt. Da das jedoch nicht selbstverständlich ist, werden ein paar Gedanken zu der Frage, ob es diese Identität überhaupt gibt, vorausgeschickt. Aufgrund der Zugehörigkeit zu vielen kleinen und größeren sozialen Gruppen ist die Identität eines Menschen immer komplex. Diese Komplexität kann hier nicht in ihrer Gesamtheit betrachtet werden.
Europa – „eine Nation im Werden?“
[2] In den 1960er-Jahren wurde gerne gefragt, ob „Europa eine Nation im Werden“ sei. „Nation“ steht für eine Großgruppe, deren Identität „national“ ist. Dabei wird unterstellt, dass die einzelnen Mitglieder der Großgruppe dieselbe nationale Identität besitzen. Das bedeutet anzunehmen, es gebe keinen fundamentalen Unterschied zwischen kollektiver und individueller Identität in Bezug auf die Frage der Großgruppenidentität.
[3] Letztere stellen soziale Konstruktionen dar, die der Einzelne für sich als zutreffend, als wahr annehmen und danach leben kann – oder eben nicht. Soziale Konstruktionen und gelebte Realität können sich durchaus ganz – oder eben nur teilweise oder nicht entsprechen. Während man sich zumindest streiten kann, ob „Nation“ und „nationale Identität“ nur soziale Konstruktionen sind, die nicht mehr und nicht weniger als eine fiktive Realität bezeichnen, der die von den Menschen gelebte Realität nicht, teilweise oder überwiegend bis ganz entspricht, steht in Bezug auf Europa fest, dass es keine Großgruppe namens „Europäische Nation“ gibt.
[4] Die EU organisiert die Bevölkerung nicht so wie der Nationalstaat, auch wenn sie dem Nationalstaat abgeschaute Symboliken verwendet (Flagge, Hymne, Europatag). Die EU ist eben kein Staat. Andere europäische Organisationen wie der Europarat sind es noch weniger als die EU, sodass sie hier außer Betracht bleiben können. Bestimmte Aspekte, die im nationalen Rahmen strukturell eine kollektive Identität fördern, fehlen auf der europäischen Ebene oder sind nur rudimentär entwickelt: Europäische Öffentlichkeit, Europäische Demokratie, Europäischer Demos. Die EU steht nicht für eine „europäische Nation“.
Was ist ein „Europäer“, eine „Europäerin“?
[5] Eine Europäische Identität im Sinne einer Großgruppenidentität lässt sich daher kaum erörtern, vielmehr muss vom Einzelnen ausgegangen werden. Die Frage lautet, ob die Analyse individueller Identitäten eine Schnittmenge ergibt, die „europäisch“ ist.
[6] Der naheliegendste Ansatzpunkt liegt in der Bezeichnung als „Europäer“ oder „Europäerin“. Das impliziert die Zuweisung einer europäischen Identität allein schon deshalb, weil jeder Name – und Europäer oder Europäerin ist ein Name – eine Identität zuweist. Namensgebungen sind performative Sprechakte. Performative Sprechakte weisen Identitäten zu, indem sie sie aussprechen. Wenn jemand in Japan zu mir sagt „Du bist ein Europäer“, dann handelt es sich um einen performativen Sprechakt, der mir eine Identität zuweist (egal, ob ich die für mich selber auch so erkenne oder nicht).
[7] Der Name „Europäer“ ist relativ jungen Datums, er tritt zuerst in der lateinischen Form von „homo europaeus“ 1735 in Carl von Linnés berühmter Schrift „Systema naturae“ auf. Es handelt sich um eine Gattungsbezeichnung im Unterschied zum „homo asiaticus“, „homo americanus“ und „homo afer“ (=africanus).
[8] Die Bezeichnung als „europäischer Mensch“ oder Europäer bzw. Europäerin ist seitdem in den europäischen Sprachen gängig. Heute besteht eine Unterscheidung zwischen „EU-Bürger“ oder „EU-Bürgerin“ und Europäer/Europäerin, die zum Beispiel vom Eurobarometer aufgegriffen wird:
[9] Die Frage, ob man sich als EU-Bürger/in fühle, erzielt eine deutlich höhere Zustimmung (64%) als die Frage, ob man sich als Europäer/in fühle (Eurobarometer Herbst 2015, Frage QD2.1), denn die Mehrheit fühlt sich eher der Nation zugehörig. Der deutliche Unterschied zwischen den Antworten zur EU-Bürgerschaft einerseits und zum Selbstgefühl als Europäer/in andererseits legt die Vermutung nahe, dass in der Selbstbeurteilung zwischen beiden Bezeichnungen eindeutig unterschieden wird.
Europäische Kultur und Europäische Identität
[10] Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wird „Europa“ als Kultur im Singular definiert. Der Europäer wird daher zu dem Menschen, dessen Identität die europäische Kultur ist, die er vertritt und weiter entwickelt.
[11] Diese Identitätszuweisung an den Einzelnen begründet eine Großgruppenidentität, die allerdings nicht durch irgendwelche Institutionen abgestützt wird wie die Großgruppe der Nation, sondern die nur dadurch ist, dass die Europäer und Europäerinnen sich wie Angehörige der europäischen Kultur verhalten. Es fehlen Zwangsmechanismen wie bei der nationalen Identität.
[12] Was diese europäische Kultur ausmacht, wird in öffentlichen Diskursen, in Publikationen, in Unterrichtswerken, in verschiedenen Medien (Film, Theater, Roman usw.) immer wieder gesagt und wiederholt. Es besteht also ein reichhaltiges Angebot für den Einzelnen in der Öffentlichkeit, das es ihm ermöglicht, sich ohne viel Nachdenkens europäisch zu verhalten – oder dies ausdrücklich nicht zu tun.
[13] Auf diesem Hintergrund ist es sehr interessant, was im Eurobarometer erhoben wird: Die Frage QD6 (Standardeurobarometer Herbst 2015) lautet: „Welche der folgenden Dinge erzeugen Ihrer Meinung nach am stärksten ein Gefühl der Gemeinschaft unter den Bürgern der EU?“ Die Auswahl besteht zwischen 12 Begriffen, wobei nur drei Nennungen zugelassen werden. Das heißt, die Befragten mussten priorisieren und entscheiden. In der EU28 verteilen sich die Antworten in Prozent auf die Begriffe wie folgt: Kultur 28%, Geschichte 24%, Sport 22%, Werte 21%, Wirtschaft 21%, Geographie 20%, Rechtsstaatlichkeit 17%, Sprachen 14%, Solidarität mit ärmeren Regionen 14%, Erfindungen/Wissenschaft und Technologie 13%, Gesundheitswesen/Bildung und Renten 11%, Religion 9%. Für diese Frage bietet Eurobarometer auch einen Ergebnisvergleich 2007/2012 und Frühjahr sowie Herbst 2013: Kultur und Geschichte führen die Liste an, es folgen Wirtschaft und Sport, Werte und Geografie. Es gibt einzelne getauschte Plätze bei geringer Veränderung der Prozentzahl. Das heißt, dass sich zwischen 2007 und Herbst 2015 hier kaum etwas geändert hat. Das heißt, Kultur (und Geschichte) führen stabil die Hierarchie an.
[14] Das 18. Jahrhundert hat offenbar ganze Arbeit geleistet.
Zukunft europäischer Kultur und Identität
[16] Das, was wie oben angesprochen, als „europäische Kultur“ in der Öffentlichkeit gesagt und immerzu wiederholt wird, ändert sich freilich inhaltlich. Die Aufklärung sah in einer Kultur oder Zivilisation ein System. Das aber ändert sich seit geraumer Zeit. Kultur im 21. Jahrhundert ähnelt weniger einem System, sie gleicht mehr einem Hypertext, in dem sich der Einzelne den roten Faden der Bedeutung selber knüpft. Das ist geradezu antisystemisch, ermöglicht aber trotzdem eine Kohärenzbildung, da die einzelnen Aspekte von Kultur im Dialog mit Geschichte, mit Vergangenheit entstehen. Dies kann im Sinne von Fortentwicklung geschehen, es kann aber auch äußerst kontroversiell verlaufen.
[17] Beides erzeugt jedoch Kohärenz, weil die Grundlage in allen Fällen die historische europäische Kultur ist. Selbst wenn jemand sich dermaßen entschieden von Europa abwendet, indem er metaphorisch sagt ‚Europa ist/isst Scheiße‘ (ich denke an eine berühmte Szene in Pier Paolo Pasolinis „Salò oder die 120 Tage von Sodom“), funktioniert das nur auf dem Hintergrund der Kultur Europa und ihrer Geschichte.
[18] Sich mit Europa zu identifizieren, wird eine kulturelle Verhaltensweise bleiben. In Bezug auf die Zukunft Europäischer Identität ist die kulturelle Verhaltensweise das Entscheidende, nicht die EU. Europäische Identität wird in Zukunft nicht eine Identität der EU werden.
[19] Zugleich ist darauf zu achten, dass sich EU und europäische Kultur nicht zu weit voneinander entfernen; die EU muss stärker an die kulturelle Entwicklung angepasst werden.
Dokumentation:
Der Beitrag stellt eine Parallelveröffentlichung mit dem Blog philosophie.ch (Swiss Portal for Philosophy) dar.
Die Eurobarometer-Dateien sind auffindbar und als PDF downloadbar unter: http://ec.europa.eu/COMMFrontOffice/publicopinion/index.cfm/General/index
Buch: Wolfgang Schmale: Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität. Stuttgart, Verlag Kohlhammer 2008 (print und ebook).
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Zukunft der Europäischen Identität. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/identitaet, Eintrag 15.12.2016 [Absatz Nr.].
Ich teile W. Schmales Auffassung, dass die Zugehörigkeit zu Europa etwas völlig anderes ist als die Zugehörigkeit zur EU. Die EU ist eine Organisation (eines bislang unbekannten institutionellen Typs). Sie ist für einen bestimmten Zweck konstruiert worden, und dazu gehört z.B. die ihr von den Regierungen übertragene Kompetenz, Bürger eines Mitgliedsstaates automatisch mit der EU-Bürgerschaft auszustatten. Bezeichnenderweise werden die Betroffenen nicht darauf hin befragt, ob sie über die entsprechende Mündigkeit verfügen: Es handelt sich eben um einen Verwaltungsakt.
Europa ist demgegenüber keine Organisation und heute unabhängig von Staaten und Regierungen. Es ist aber nicht die Sprechhandlung, sich selbst „Europäer“ zu nennen oder von anderen so genannt zu werden, der das Europäisch-sein ausmacht. Die Selbstzuschreibung markiert nur das Explizieren eines vorgängigen, vorreflexiven und unthematischen Sich-europäisch-fühlens, d.h. von bestimmten Widerfahrnissen, Erlebnissen und Verpflichtungen affektiv betroffen zu sein.
Europäer zu sein ist im Rahmen der Sozialisation zunächst eine Namensgebung, die z.B. dem Schüler ausgehend von objektiven Sachverhalten erklärt wird, ohne dass eine affektive Betroffenheit vorläge. Erst im Kontakt mit Menschen anderer Länder kann es (manchmal auch gar nicht) zu der Erfahrung kommen, sich europäisch zu fühlen. Bestimmte gemeinsame Situationen, in die das eigene Leben bis dahin eingebettet war, heben sich dann als bedeutsam ab: Die vorreflexive affektive Bindung wird explizierbar, zumindest in Teilen.
Schmales These: Die „Identitätszuweisung an den Einzelnen begründet eine Großgruppenidentität“ ist also gegenüber dem Sich-europäisch-fühlen sekundär. Die Verständigung über Europa erzeugt Kohärenz allein, wenn es vom affektiv Berührenden, Subjektiven angetrieben wird und zu immer neuen Versuchen des Explizierens führt. Eine Sprechhandlung reicht nicht aus. Ich verstehe Europa als einen Komplex der Bedeutsamkeit, in dem man wohnen kann und wo diejenigen, die sich als Europäer verstehen, von Zeit zu Zeit die Geltung ihrer Prinzipien und Überzeugungen prüfen.
Das omnipräsente Dogma des unendlichen Wirtschaftswachstums gefährdet heute allerdings die Prüfung jener affektiven Evidenz, indem das Leben der Europäer durch die Haltung des Selbstbetrugs (mauvaise foi) unterminiert wird. Das Programm „Europa regenerieren“ ist deshalb nicht ohne die philosophische Selbstkritik Europas möglich.
Vgl. demnächst vom Autor „Régénérer l’Europe. Narratifs – critique – situations communes d’implantation“, in: Loth, Wilfried/Păun, Nicolae/Varsori, Antonio (eds.): DISINTEGRATION AND INTEGRATION IN EAST-CENTRAL EUROPE, 4th ed. THE FUTURE OF THE EUROPEAN UNION FROM A HISTORICAL PERSPECTIVE. SHAPING TOMORROW’S EUROPE – IDEAS, PROSPECTS AND STRATEGIES IN THE DIALOGUE BETWEEN GENERATIONS, Baden-Baden: Nomos (Veröffentlichungen der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Europäischen Kommission); erscheint 2018.