[1] Nach der Entdeckung Amerikas gegen Ende des 15. Jahrhunderts bürgerte es sich ein, die Welt in vier Erdteile aufzuteilen – Europa, Asien, Afrika und Amerika – und diese vier Erdteile durch passende allegorische Figuren darzustellen, die gewissermaßen auf einen einzigen Blick die unterstellten Hauptunterschiede zum Ausdruck brachten. Ein eher kurzer denn langer Blick, und man wusste, was die Welt war.
[2] Von Anfang an deuteten die Allegorien mithilfe der Attribute, von denen sie begleitet wurden und die frühzeitig einem Kanon folgten, als wesentlich angenommene kulturelle oder zivilisatorische Unterscheidungsmerkmale an. Bis ins frühe 18. Jahrhundert entstand auf dieser Grundlage die Lehre von den vier Erdteilen und vier Kulturen. Dieses Schema (Beispiel: Großsedlitz, Sachsen)war einfach und eingängig, auch wenn sich die Künstler bei Asien immer entscheiden mussten, ob sie die Allegorie der Asia eher türkisch oder z.B. eher chinesisch oder irgendwie neutral aussehen lassen sollten. Die Figur der America blieb bis um 1800 oder sogar noch später eine Indianerin, das heißt, die Diversität an Kulturen auf dem amerikanischen Kontinent wurde nicht differenziert ausgedrückt. Bezüglich Afrika wurde normalerweise nie zwischen dem muslimischen, stark arabisch geprägten Norden, und den vielen anderen Kulturen nach Süden hin unterschieden. Und Europa war Europa. Punkt.
[3] Im Jahr 2017 ist die emblematisch verkürzte Darstellung von Kulturen durch allegorische Figuren keineswegs aus dem Repertoire der Visualisierung von Kulturen verschwunden (Beispiel), aber das Viererschema gilt natürlich nicht mehr. Die Diversität der Kulturen ist ins Bewusstsein gedrungen und die weiterhin gängigen historischen Kontinentbezeichnungen, deren Zahl seit dem 19. Jahrhundert auf fünf (Australien) und später auf sieben (Arktis und Antarktis) anstieg, dienen eher einer groben geografischen Orientierung denn einer Aufzählung von Kulturen. Die Wahrnehmung von Kulturen hat sich geändert.
[4] Mit einer Ausnahme, nämlich Europa. Diesbezüglich ist es bei der Ineinssetzung von Kultur und Kontinent geblieben. Selbst gewisse Streitfragen wie die, ob Russland Teil Europas sei oder nicht, scheinen seit Jahrhunderten nicht vom Fleck gekommen zu sein. Die Antwort ist immer noch unsicher. Die Vielfalt, die Europa kennzeichnet, wird immer als ein Hauptcharakteristikum der Kultur Europa angeführt, die wesentlich dazu beiträgt, die Kultur Europa eben zur Kultur Europa zu machen, das heißt, Vielfalt und Einheit werden nicht als Gegensätze wahrgenommen.
[5] Die Ursache für diese Auffälligkeit, dass Kultur Europa und Kontinent Europa weiterhin eins sind, findet sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als Europa zum ersten Mal als einheitliche Kultur, für die die Form des Singulars angemessen ist, definiert wurde. Das war damals weniger selbstverständlich, als es uns heute vorkommt. Der Begriff der Kultur durchlief im 18. Jahrhundert eine Bedeutungserweiterung im Vergleich zu den seit Antike, Mittelalter und Beginn der Frühen Neuzeit überlieferten Bedeutungen. Erst danach bezeichnete er die Gesamtheit der kulturellen oder zivilisatorischen Leistungen einer Großgruppe von Menschen als deren Kultur oder Zivilisation im Singular.
[6] Dass sich die uns vertraute Bedeutung des Wortes Kultur erst so spät in der europäischen Geschichte entwickelte, versteht man besser, wenn man darin die revolutionäre Veränderung der Geschichtsbetrachtung erkennt, die im 18. Jahrhundert immer mehr Anhänger fand. Der Kultur schaffende Mensch der Aufklärung steht im Gegensatz zur herkömmlichen heilsgeschichtlichen Auffassung, der zufolge Gott die Welt nach seinem göttlichen Plan eingerichtet hat, nach dem sie abläuft. Der Kultur schaffende Mensch folgt keinem göttlichen Plan, sondern baut Welt und Kultur auf und verändert diese immer wieder. Er sorgt für Fortschritt, nicht Erfüllung eines Plans. Wir finden im Singular von Kultur den weltschöpferischen Menschen der Aufklärung, der im Übrigen keineswegs Atheist ist oder sein muss, sondern der von der, ihm von Gott gegebenen, Vernunft gehörigen Gebrauch macht und zum kulturellen Schöpfer wird.
[7] Das Werden von Kulturen lässt sich mithilfe wissenschaftlicher Methoden als historischen Prozess analysieren, in dem Menschen in Dynamiken, Strukturen, Traditionen, Zufälligkeiten, Veränderungen, katastrophale Einbrüche usw. eingebunden sind. In diesem Prozess gibt es aber einen Moment, in dem Zeitgenossen beginnen, diesen Prozess als Prozess wahrzunehmen, dessen Teil sie sind. Sie sind zwangsläufiger Teil oder zwangsläufige Akteure, aber sie erweitern ihren Anteil durch bewusste Reflexion über das, was geschieht. Das heißt, diese Zeitgenossen führen das Element der Selbstreflexivität in den kulturellen Prozess ein. Im Zuge dieses selbstreflexiven Prozesses wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Europa zur Kultur Europa.
[8] Erstmals wird Europa dadurch eine Identität zugeschrieben, nämlich die einer Kultur im Singular, die sich nicht nur auf eine Elite bezieht, sondern im Prinzip alle Europäerinnen und Europäer einschließt. Nicht zufällig entsteht deshalb, ebenfalls im 18. Jahrhundert, der Begriff „europäischer Mensch“. Es handelt sich sowohl um eine Gattungsbezeichnung, die aus dem berühmten Klassifizierungssystem des Carl von Linné (Achtung: der Link hat lange Ladezeit wg. hoher Auflösung) von 1735 hervorgegangen ist, wie auch um eine auf Individuen beziehbare Bezeichnung.
[9] Das späte 18. Jahrhundert definierte faktisch europäische Identität sowohl in Bezug auf das große Ganze wie in Bezug auf den Einzelnen kulturell, und zwar im Horizont der gesamten Welt als hierarchisch geordneter Gemeinschaft verschiedener Kulturen, in der die Kultur Europa im Gewand des Kosmopolitismus die Mission der Entwicklung der anderen Kulturen oder Zivilisationen ausführte. Die Definition einer europäischen Identität im späten 18. Jahrhundert macht einerseits Europa so recht eigentlich zu Europa, zugleich geschieht dies in einer universalhistorischen Rahmensetzung, sodass Europas Identität wesentlich von diesem universellen oder globalen Bezug lebt. Das ist etwas, was viele von denen, die heutzutage über europäische Identität reden, vergessen bzw. bewusst weglassen.
[10] Im 18. Jahrhundert war dieser kulturphilosophische Ansatz von einer großen und ungemein positiven Neugier gegenüber der Welt insgesamt getragen, in der viel Sympathie für andere Menschen und Kulturen mitschwang, selbst wenn man sich selbst als Europäer fast immer als kulturell überlegen sah. Im 19. Jahrhundert kippte diese relative Balance immer mehr ins Negative, was zur Zerstörung von Kulturen und besonders in Afrika zum Tod von Millionen von Menschen führte.
[11] Wenn einerseits bis heute der in der Aufklärung entwickelte Ansatz, Europa essentiell als Kultur Europa zu definieren, gültig geblieben ist, hat sich andererseits die Kultur Europa selber mehrfach gewandelt. Je näher sie an den Prinzipien der Aufklärung in Bezug auf Würde und Freiheit der Menschen geblieben ist, desto verträglicher war sie, je weiter sie sich davon entfernte, umso mörderischer war sie gewesen.
[12] Die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts, die in einem Prozess der Selbstreflexivität Europa als die Kultur Europa identifizieren, können namentlich benannt werden. Im Prinzip sind alle Aufklärer dabei. Der erste, der eine moderne Kulturgeschichte Europas konzipiert und ausgeführt hat, war Voltaire, ziemlich genau in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Mit „modern“ ist eine geschichtsphilosophisch fundierte Geschichtsschreibung gemeint, die im 18. Jahrhundert allmählich die traditionsreiche Erdbeschreibung oder Kosmografie ablöste.
[13] Viele folgten Voltaire auf dem Weg. Im letzten Drittel des Jahrhunderts bildete sich an der Universität Göttingen ein Hotspot der Kulturgeschichtsschreibung aus, die sich in der Regel nicht auf Europa beschränkte, sondern die Menschheit umfasste. Von den Göttingern sei nur Christoph Meiners genannt, der den schönen Titel eines „ordentlichen Lehrers der Weltweisheit“ trug und 1785 einen „Grundriß der Geschichte der Menschheit“ veröffentlichte. Weitere berühmte Namen wären Buffon, der Abbé Raynal, Immanuel Kant und viele andere.
[14] Die Identifizierung Europas als Kultur Europa war die Leistung von ein paar Dutzend Aufklärern im Verlauf von vier bis fünf Jahrzehnten, die freilich in die Breite streute und einen allgemeinen festen Wissensbestand begründete, der über die enorm aufblühende Publizistik und die bildenden Künste schnell verbreitet wurde.
[15] Großen Anteil daran hatten Reisende. Das Reisen ist der Selbstreflexion besonders förderlich. Je weiter jemand kommt, desto weniger vertraut ist die Gegend, sind die Menschen, sind ihre Sitten, sind die baulichen und sonstigen materiellen Zeugnisse der Kultur. Die Selbstvergewisserung, Europäer oder Europäerin zu sein, wird stärker genutzt. Das gilt auch für Reisen innerhalb Europas, vor allem in den weniger gut bekannten Osten und Norden, aber bis ins 19. Jahrhundert gab es in allen europäischen Ländern Gegenden, die den Reisenden fremd und wild vorkamen. Das waren die Bergregionen und ihre Bewohner, das war in Frankreich das Zentralmassiv, darin der Cantal, der noch in den 1970er-Jahren als „sauvage“ charakterisiert wurde, das waren die Abruzzen in Italien, die ebenfalls bis vor wenigen Jahrzehnten von Fußwanderern als wild empfunden wurden. usw.
[16] Wenn wir uns in unserer Betrachtung auf Europa beschränken, so war Europa, abgesehen von der oft plastischen aber letztlich doch abstrakten Kulturgeschichtsschreibung, dort die Kultur Europa, wo die wachsende Zahl von Reisenden auf ihren Reisen durch Europa unzählige sinnlich-materielle Kulturerfahrungen machte, für die sie alle ihre Sinne benötigten. Die Kultur Europa war etwas extrem Sinnliches und damit zugleich etwas extrem Individuelles, denn so sehr es schon ausgetretene Reiserouten gegeben hatte, so sehr blieb jede Reise ein Universum individueller Erfahrung und individueller Sinnlichkeit.
[17] Bis heute führen viele Reisende Tagebuch, Reiseveranstalter schenken ihren Kunden Notizbücher für die Reise zu Kulturstätten, viele schreiben aus eigenem Antrieb. Die meisten für sich, ganz im Sinne der Selbstreflexivität, andere veröffentlichen ihre Aufzeichnungen als Blog im Web, wieder andere machen daraus Bücher. Alle befinden sich in einer Tradition, die schon in der Antike eine Tradition ist – und bauen dadurch, dass sie diese Tradition fortführen oder diesen Habitus eben auch annehmen, an der Kultur Europa weiter.
[18] Unter den Reisenden befanden sich schon immer welche, die mit der Absicht, methodisch zu beobachten und methodisch Aufzeichnungen zu führen, gereist sind und deren Reisejournale oder nach dem gesammelten empirischen Material geschriebene Bücher das kulturelle Erbe, sei es Europas, sei es andrer Weltgegenden, tradierten und oft zum ersten Mal sicherten. Viele zeichneten ab, transkribierten Inschriften, legten kleine Wörterbücher an, betrieben das, was wir heute oral history nennen, usf. So hielt es Johann Philipp von Strahlenberg, der 1709 als schwedischer Offizier an der Schlacht bei Poltawa teilnahm, dort von den Truppen des Zaren gefangen genommen wurde und 13 Jahre in Russland blieb, davon rund 3 in einer sibirischen Stadt. In dieser Zeit sammelte er Material, zeichnete ab, führte Interviews und veröffentlichte schließlich einige Jahre nach seiner Rückkehr nach Schweden im Jahr 1730 ein Buch, das berühmt werden sollte, weil Strahlenberg ausführlich den Ural als natur- und kulturräumliche Grenze zwischen Europa und Asien bestimmte.
[19] Einem anderen Reisenden im 19. Jahrhundert, Felix Kanitz, der an der Wiener Akademie der Bildenden Künste zum Kunstzeichner ausgebildet wurde, später u.a. für die Leipziger Illustrirte Zeitung arbeitete und sich zum ethnologischen Schriftsteller entwickelte, verdanken wir ausführliche Dokumentationen der serbischen und bulgarischen Kulturdenkmäler, die von ihm zum Teil erstmals beschrieben und abgezeichnet worden sind.
[20] Manche Reisenden brachten Souvenirs mit, das heißt ein Stückchen materielles Kulturerbe, die sich in heutigen zugänglichen Sammlungen wiederfinden – wobei ich hier nicht von denen rede, die in großem Stil Denkmäler des Altertums im Nahen Osten, Ägypten etc. demontierten und nach Europa verbrachten. Das ist eine andere Geschichte.
[22] Für die historischen Reisenden war es selbstverständlich, dass sie sich bei ihrer, in Relation zu heutigen Reisegeschwindigkeiten, sehr langsamen Fortbewegungsweise gewissermaßen Schritt für Schritt vor Ort sachkundig machten. Dies war Teil der materiell-sinnlichen Erfahrung, von der ich gesprochen habe. Manche verknüpften ihre subjektiven Erfahrungen und Erkenntnisse nach der Heimkehr mit der gelehrten Literatur seit der Antike und objektvierten ihre Erfahrungen in einem mehr oder weniger wissenschaftlichen Vorgehen. Ihre Publikation vermehrte dann das sedimentierte Wissen um die Kultur Europa, vor allem trug dies dazu bei, eine Große oder Meistererzählung der Kultur Europa zu schaffen.
[23] Was ich damit sagen will: Die Kultur Europa im Sinne des Bewusstseins von der Kultur Europa, die dann die Wertigkeit einer europäischen Identität erreicht, entsteht in einem dynamischen selbstreflexiven Prozess, der von Individuen getragen wird. Ein genauer Vergleich aller Selbst-Berichte über Reisen in Europa würde erweisen, dass es zwar Muster gibt, aber dass die Erfahrung der Kultur Europa immer ein individueller Vorgang, sich millionenfach wiederholender Vorgang, bleibt.
[24] Die Situation des Reisens lässt sich in die Situation allgemein der Mobilität im Raum erweitern. Aus welchen Gründen auch immer die Mobilität stattfindet, sie führt dazu, dass Kulturelemente hin und her getragen werden. Kultureller Austausch und kultureller Transfer sind wesentliche Kräfte im kulturellen Prozess und sind eng mit dem im Raum beweglichen Individuum verbunden. Daraus entstehen Verflechtungen, kulturelle Muster, Stile, Ess- und andere Gewohnheiten und unendlich vieles mehr, die sich als kohäsiv erweisen und durch eine gewisse inhaltliche Kohärenz charakterisiert sind. Erhalten bleibt in diesem Prozess die Vielfalt, die aber überhaupt keinen Gegensatz von Kohäsion und Kohärenz bedeutet.
[25] Im kulturellen Prozess ist jeder Einzelne Akteur und im Sinne der Aufklärung Kultur schöpfend oder schaffend. Aus der Perspektive des Einzelnen ist Europa somit immer auch ein „mein Europa“.
[26] Der Ausdruck „mein Europa“ taucht allerdings erst im 19. Jahrhundert (Belege ab den 1830er-Jahren) auf und zeigt eine, man könnte sagen, individuelle Verinnerlichung Europas an. Diese kann durchaus satirisch, aber genauso gut liebevoll, traurig oder frohgemut, enttäuscht oder sonst was sein. Der Ausdruck transportiert auf jeden Fall eine emotionale Beziehung und, mit Blick auf eine Reihe von Büchern aus den letzten Jahren, die als Haupttitel „Mein Europa“ tragen, drückt er eine Art Lebensbeziehung aus. Diese Bücher, die von Jurij I. Andruchovyč und Andrzej Stasiuk (2004), von Helmut Schmidt (2013), von Hans-Gert Pöttering (2015), von mir selber (2013) stammen, oder die kleine biografische oder selbstbiografische Anthologien darstellen, belegen eine große Vielfalt der Interpretation von „mein Europa“. Man kann das auch weiter treiben und in Twitter den Hashtag „#meinEuropa“ eingeben und wird über die Vielfalt des Verständnisses überrascht sein. Das funktioniert ebenso in anderen Sprachen als dem Deutschen.
[27] Ich plädiere dafür, das Europäische Kulturerbejahr 2018 dafür zu nutzen, Kulturerbe nicht nur als den kollektiven materiellen Ausdruck der Kultur Europa zu sehen, sondern sich mit dem Kulturerbe als Teil einer individuellen sinnlich-kulturhistorischen und identitätsbildenden Erfahrung auseinander zu setzen.
[28] Die Antworten zu einem Thema, das im Eurobarometer untersucht wird, unterstützen einen solchen Ansatz. Die Frage lautet, was nach Meinung der Befragten die Europäerinnen und Europäer vereint. Es werden zwölf Schlüsselbegriffe angeboten, aus denen maximal drei gewählt werden können. Seit Jahren wird an der Spitze „Kultur“ genannt, gefolgt von „Geschichte“, „Wirtschaft“ und „Sport“. Natürlich sind diese Begriffe nicht hart definiert, schon gar nicht „Kultur“, aber dass „Kultur“ Platz 1 einnimmt, spricht für die Nachhaltigkeit, die mit der Definition Europas als Kultur im 18. Jahrhundert erreicht worden ist. In Verbindung mit Platz 2 für „Geschichte“ ergibt sich eine solide Basis für das Argument, dass es der richtige Weg ist, die Ausbildung subjektiver Europabegriffe, wie es der Ausdruck „mein Europa“ anzeigt, mit dem Aspekt des kulturellen Erbes und der Ausbildung von Identität zusammen zu denken.
[29] Über europäische Identität wird zumeist im Sinne einer kollektiven Identität gesprochen, ich möchte hingegen unterstreichen, dass es sich zuerst um die Frage einer individuellen Identität handelt, die, wenn sie von vielen geteilt wird, auch kollektiv funktioniert. Die entscheidende Grundlage ist im kulturellen Erbe zu sehen, weil es den Europäerinnen und Europäern unmittelbar und sinnenfällig zugänglich ist. Diese Kombination ist wichtig.
[30] Dem materiellen kulturellen Erbe kommt dabei eine überragende Bedeutung zu, auch wenn dies nur ein Teil des Erbes darstellt. Immaterielles wie bestimmte Werthaltungen wird jedoch oft auch über das materielle Kulturerbe und seine Aufbereitung, seine Zugänglichmachung in Museen und Gedenkstätten beispielsweise, unmittelbar und sinnenfällig erfahrbar gemacht. Nur en passant kann erwähnt werden, dass bei Aufbereitung und Zugänglichmachung ästhetische Kriterien eine Rolle spielen, was ich deshalb extra erwähne, weil die Ästhetik für die Grundbegriffe der Aufklärung wie Kultur oder Zivilisation eine zentrale Bedeutung besaß. Die Europäisierung bestimmter Herangehensweisen in Museen und Kulturstätten unterstützt diesen Prozess ebenso wie gemeinsame Grundsätze einer guten Praxis von Gedenk- und Erinnerungskultur.
[31] Diese Form der Europäisierung ist selber kulturbildend und trägt zur Annäherung individueller Erfahrungen bei, die gleichwohl immer einen subjektiven Zugang beibehalten. Dies sollte meines Erachtens mehr Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen, denn die Folge, wenn man so will: seit Jahrhunderten, ist, dass neben den großen öffentlichen Erzählungen von der Kultur und Geschichte Europas eben auch unzählig viele subjektive Erzählungen existieren, deren Relevanz in der Regel unterschätzt wird. Für die meisten Menschen sind diese subjektiven Erzählungen, die aus der eigenen lebensweltlichen Erfahrung entstehen, viel wichtiger als die offiziellen. Europäische Identität entsteht, wenn sie entsteht, am ehesten in den subjektiven Erzählungen über Kultur und Geschichte Europas.
[32] Das europäische Kulturerbejahr 2018 ist eine gute Gelegenheit, die individuelle Auseinandersetzung mit Europa, ausgehend vom sinnlich erfahrbaren kulturellen Erbe, stärker in den Vordergrund zu stellen und ihre Notwendigkeit ebenso wie ihre Legitimität zu betonen.
[33] Das kulturelle Erbe Europas ist jedoch nichts, was man nur erfahren und deuten könnte, wenn man Europäerin oder Europäer ist. „Kulturerbe“ ist eine universale und globale Sache. Deutlich ausgedrückt wird dies durch die Verleihung des Status „Weltkulturerbe“, der das betreffende Kulturerbe keinesfalls aus seinem kulturhistorischen Kontext herauslöst, sondern dessen über den engeren Kontext hinausweisende Bedeutungen hervorhebt. Zu diesen über den engeren Kontext hinausweisenden Bedeutungen gehört der Kulturtourist, der bis zu einem gewissen Grad Kosmopolit ist.
[34] Soziologisch können Kulturtouristen als Gruppe betrachtet werden, und es gibt sie millionenfach, doch ändert das nichts am individuellen Erfahrungscharakter einer jeden Reise, selbst wenn Millionen dasselbe tun. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang noch etwas anderes: Ich gebe hierfür zunächst ein Beispiel aus Bulgarien:
[35] Wir befinden uns in Sofia – inmitten der kleinen römischen Ausgrabungsstätte an der Rotunde Sveti Georgi: Die römischen Reste von Serdica stammen aus dem 2. Jahrhundert nach Chr., die Kirche ursprünglich aus dem 6. Jahrhundert, sie steht am Platz eines noch älteren Tempels. Später wurde sie als Moschee genutzt, dann als Mausoleum und schließlich wieder als Kirche. Das Ensemble wurde im 20. Jahrhundert umbaut, sodass ein Innenhof entstand, der sich mitten im Stadtzentrum wie eine Oase ausnimmt.
[36] Die freigelegten römischen Reste, die sich abschnittsweise bis zur Banja Baši-Moschee von 1576, die kein Museum ist, sondern als Moschee genutzt wird, ziehen und auch ein Stück von Cardo und Decumanus umfassen, evozieren ähnliche Reste in ganz anderen Städten – z.B. Jerusalem oder Köln oder Paris.
[37] Es überwiegt bei diesem oberflächlichen historischen und aktuellen Augenschein das, was visuelle Brücken in Europa baut, und zwar deshalb, weil es so oder ganz ähnlich auch anderswo vorkommt: Gemeint ist die Anlage und Pflege von Ausgrabungsstätten mitten in Städten, die Pflege von historischen Gebäuden, deren ausgesuchte Aufnahme in das UNESCO Weltkulturerbe und so fort. Diese Erbe-Kultur hebt – wie das Web – die „Zeiten dazwischen“ in gewissem Sinn auf. Es lässt das, was zu gewissen Zeiten als fremd empfunden und daher verändert und anverwandelt wurde, nicht mehr als Fremdes zu. „Fremdes“, vermeintlich Fremdes, kann man ablehnen, ihm feindlich begegnen, es bekämpfen, es nicht mögen, es beseitigen wollen. In der Erbe-Kultur entfällt das alles. In der Erbe-Kultur wird deutlich gemacht, dass eine Kirche zur Moschee wurde, eine Moschee zur Kirche, oder mehrfach wechselnd. Es wird ohne jede Ranküne sichtbar gemacht. Allfällige noch ältere inkorporierte römische oder andere Heiligtümer werden sichtbar gemacht und erhalten, z.T. rekonstruiert.
[38] So steht das, was man unter anderen Umständen und in anderen Zeiten als fremd ansah und möglichst verschwinden ließ, nun sich visuell simultan-synchron behauptend im Raum und hat das gleiche Recht wie das, was man gemeinhin nicht als fremd empfindet oder aus irgendwelchen ideologischen Gründen in die Kategorien nicht fremd bzw. fremd einordnet. Der Umstand, dass die Erbe-Kultur der Gegenwart eine enge Verbindung zur Tourismuswirtschaft eingegangen ist, verleiht dieser Kultur, die kein Fremdes kennt, Wirkmacht. Es ist diese Verbindung zwischen Ökonomie und Kultur, die erstmals in der Geschichte zu einem mächtigen Gegner des Denk- und Wahrnehmungsmusters des Fremden geworden ist. Eine Erbe-Kultur unterscheidet sich von der Nationalkultur, für die abzulehnendes Fremdes zentral war (und z.T. noch ist), die das feindliche Fremde zur Selbstbestätigung benötigte. Ebenso unterscheidet sich die Erbe-Kultur von religiös oder gar national-religiös bestimmten räumlich radizierten Kulturen, sie ist in dieser Hinsicht wertneutral.
[39] Die Erbe-Kultur ist eine Kultur der Restitution, die sich einseitigen Vereinnahmungen verweigert und die das, was zwischenzeitlich aus nationalistischen oder anderen Gründen verdrängt wenn nicht vernichtet worden ist, wieder in sein Recht, Teil des kulturellen Erbes zu sein, einsetzt. Das kulturelle Erbe ist gewissermaßen unteilbar, zerteilt man es, vernichtet man es. Darin ähnelt es der historischen Rechtsform des Fideikommisses, dem jener Teil des Familienbesitzes unterworfen wurde, der weder geteilt noch veräußert werden durfte, um die Familienidentität zu bewahren.
[40] Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts dachten Kultur als einen Fortschrittsprozess, der bis zur höchsten Entfaltung des menschlichen Geistes voranschreiten würde. Wir, die Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts, folgen im Allgemeinen einer anderen Erkenntnislehre, die auf der Albert Einstein’schen Relativitätstheorie beruht. Wir sehen Kultur, wie vieles andere auch, nicht mehr zwingend unter dem Gesichtspunkt immer weiteren Fortschritts, sondern unter dem Gesichtspunkt der unablässigen Veränderung – Veränderung und Fortschritt sind nicht automatisch dasselbe. Deshalb ist das, was wir als kulturelles Erbe bezeichnen, nicht einfach nur eine historische und materielle Grundlage der Kultur, wie es die Aufklärer verstanden haben, sondern dies stellt in dem Sinne einen lebenden Teil der Gegenwartskultur dar, dass sich seine Bedeutung für uns ändert und es selber nach bestimmten international geltenden Grundsätzen aufbereitet wird.
[41] Die Bedeutungsveränderung liegt z.B. in der Rehabilitierung älterer Kulturschichten, wie am Beispiel der Kirche Sveti Georgi in Sofia gezeigt: Tempel, Kirche, Moschee, Kirche, Mausoleum, Kirche. Die unterschiedlichen Nutzungen und baulichen Veränderungen des Gebäudes hingen mit fundamentalen historischen Veränderungen zusammen; der Ursprung als Tempel steht für die Expansion des Römischen Reiches auf den Balkan, die Kirche für die Entstehung eines neuen, mittelalterlichen Religions- und Herrschaftssystems, die Moschee für die Expansion des Osmanischen Reiches in den Balkan, die Rückwandlung in die Kirche für die Verdrängung und Vertreibung des Osmanischen Reiches bis hin zur Auslöschung seiner visuellen Zeugnisse, usf. Die Erbe-Kultur hingegen setzt die materiell vorhandenen Kulturschichten wieder in ihr Recht ein und verweigert sich den Hierarchien eines Denkens, das aus religiös-ideologischen oder nationalistisch-ideologischen oder politisch-ideologischen Gründen zwischen erhaltenswerter und nicht erhaltenswerter Kultur unterscheidet.
[42] Im individuellen „mein Europa“ des 21. Jahrhunderts steckt diese Erbe-Kultur, diese Kultur der Restitution. Wenn ich das wieder auf den Zusammenhang zwischen individueller europäischer Identität und kulturellem Erbe beziehe, dann gehört heute zur unmittelbaren und sinnenfälligen Erfahrung von europäischer Kultur dazu, dass die Unterteilung in „fremd“, nicht zur Identität gehörig, bzw. vertraut, zur Identität gehörig, in dieser Schärfe, wie sie der Nationalismus geschaffen hatte, entfällt.
[43] Wissenschaftlich betrachtet haben alle Europäerinnen und Europäer einen Migrationshintergrund. Bei den einen liegt das lange zurück, bei den anderen ist es noch frisch. Die europäische Kultur wurde aus den kulturellen Transfers dieser Migrantinnen und Migranten gebildet. Die aktuelle temporäre Ausstellung des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel macht genau dies zum Thema und hält einen interaktiven Bereich unter dem Schlagwort des „mein Europa“ vor. Die Erbe-Kultur stemmt sich gegen einseitige Exklusionen oder einseitige, meistens geschichtsklitternde Vereinnahmungen.
[44] Europäer, im Sinne einer Identität, bin ich, wenn ich der Philosophie der Erbe-Kultur folge – so wie jemand in der Zeit der Aufklärung Europäer war, der der Kulturphilosophie der Aufklärung folgte.
Dokumentation: Der Blogeintrag dokumentiert den Vortrag von Wolfgang Schmale vom 6. Juli 2017 auf der Veranstaltung: ESACH Passau/Universität Passau Auftaktveranstaltung „Kulturelles Erbe und Europäische Identität“. Die Absätze 35-38 und teilweise 39 sind entnommen aus: Wolfgang Schmale: Das östliche Europa: (Fremd-?)Bilder im Diskurs des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus. Eine Keynote. In: Christoph Augustynowicz/Agnieszka Pufelska (Hg.): Konstruierte (Fremd-?)Bilder. Das östliche Europa im Diskurs des 18. Jahrhunderts. Berlin/Boston: De Gruyter/Oldenbourg 2017, S. 11-28.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Mein Europa – Kulturelles Erbe und Identität. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/mein-europa-kulturelles-erbe-und-identitaet, Eintrag 06.07.2017 [Absatz Nr.].
Greift es nicht aber, gerade im Sinne der Identitätsfindung, zu kurz, wenn ich wie ein Archäologe dem überkommenen Erbe äquidistant gegenüberstehe? Dem Archäologen ist es gleichgültig, ob er Hallstadtgräber ausgräbt oder frühmittelalterliche Kirchen, und in einem bestimmten Sinne gehört gewiss beides zu unserem erhaltenswerten materiellen Erbe.
Das sollte mich aber nicht daran hindern, zwischen beidem eine ideell-identitäre Hierarchie zu erkennen, genauso wie ich zwischen Hexenhammer und ABGB hierarchisiere oder zwischen türkischen Laufgräben und Wiener Basteien. Materiell erhalten werden kann und soll jeweils beides, wenn es noch vorhanden ist – ideell bewahrt, wiederangeeignet und fortentwickelt aber nur das jeweils eine.