Für die meisten überraschend löste der französische Präsident Emmanuel Macron am Abend der Europawahlen vom 9. Juni 2024 die Nationalversammlung auf. Seitdem haben Spekulationen über seine „wahren“ Motive und die Zukunft Frankreichs und Europas Hochkonjunktur.
So viel ist sicher, dass ein kleiner Kreis seit ca. einem halben Jahr an dieser Option arbeitete, weil die Umfragen, die der Partei Marine Le Pens „Rassemblement national“ (RN) ein Ergebnis von mehr als 30% voraussagten, ebenfalls seit Monaten stabil hoch blieben. Die schlechten Vorhersagen für das Parteienbündnis um Macron blieben ebenfalls stabil schlecht.
Macrons Parteienbündnis besaß in der Nationalversammlung keine absolute Mehrheit. Die wichtigsten Gesetzesvorhaben der Regierung konnten nur aufgrund einer Besonderheit der französischen Verfassung, dem Art. 49.3., durchgebracht werden. Gegen die Rentenreform – sukzessive Erhöhung des Renteneintrittsalters von 60 auf 64 Jahre – wurde massiv protestiert. Macron ist in der Bevölkerung sehr unbeliebt – das Image des abgehobenen Bankers wurde er nie los.
Macrons Argument, die Wahlbevölkerung werde nun in die Pflicht genommen und sie müsse entscheiden, welche Mehrheit das Land in Zukunft regieren solle, ist in dieser Konstellation nicht unglaubwürdig, aber es gibt keine Sicherheit, dass die Wahlen am 30.6. und 7.7.2024 die Situation klären. Sollten Macron und sein enger Kreis, der für die Auflösung des Parlaments plädierte, gehofft haben, der unvorhergesehene Coup würde auf der Linken Chaos hervorrufen und die Wähler*innen, vor die Alternative Rassemblement national oder Wahlbündnis rund um Macron gestellt, dazu bringen, wie immer „republikanisch“ zu wählen, sprich sich mehrheitlich gegen den RN zu mobilisieren, dann scheint schon jetzt klar zu sein, dass das ein erhebliche Fehleinschätzung war.
Die Linksparteien, darunter La France insoumise, die Sozialisten, die Grünen und kleinere Gruppierungen haben sich, nach dem symbolischen Vorbild des Front populaire von 1936 unter Léon Blum, zum Nouveau Front Populaire (NFP) zusammengeschlossen. Der Ruf zu diesem Bündnis erschallte schon am späteren Abend des 9. Juni und wurde bis zum 14.6. in die Tat umgesetzt.
Les Républicains, die ehemaligen Gaullisten, zerlegen sich derzeit selbst, nachdem der Vorsitzende Ciotti im Alleingang ein Bündnis mit dem RN angekündigt hatte. Horizons, die Partei von Macrons erstem Premierminister Edouard Philippe, hat sich aus dem Parteienbündnis um Macron herausgelöst. Philippe will sehr wahrscheinlich 2027 als Präsidentschaftskandidat antreten.
Insgesamt gibt es in allen politischen Lagern unabhängige Kandidat*innen. Wer im ersten Wahlgang 12,5% erreicht, kann in die Stichwahl gehen – teilweise werden es folglich mehr als zwei Kandidat*innen in einem Wahlkreis sein, zwischen denen sich die Wähler*innen am 7. Juli werden entscheiden müssen.
Der Ausgang ist daher völlig ungewiss; zum jetzigen Zeitpunkt sind sehr verschiedene Konstellationen denkbar. Gleichwohl ist es am wahrscheinlichsten, dass der RN mindestens eine relative Mehrheit erreicht, aber keine absolute. Unwahrscheinlich ist, dass alle anderen dann gegen den Rassemblement koalieren. Zu erwarten ist eine Situation, die in der Fünften Republik bisher so nicht bekannt gewesen ist. Es gab unter Präsident Mitterrand und Präsident Chirac jeweils eine „Cohabitation“, das heißt im Parlament eine Mehrheit, die nicht die des Präsidenten war, sodass der Premierminister einer anderen politischen Richtung angehörte. Mitterrand und Chirac wussten damit gut umzugehen, Frankreich blieb ein stabiler europäischer und internationaler Partner. Macron traut man dieses staatsmännische Darüberstehen nicht so ohne weiteres zu.
2024 rechnet im Grunde niemand mehr mit einem politisch stabilen Frankreich. Und sollte der RN eine absolute Mehrheit erringen, wird das Land wohl noch heftiger als bereits mehrmals unter Macron und seiner Regierung durch anhaltende Demonstrationen und Streiks lahm gelegt werden.
Ein Teil des Programms des RN ist verfassungswidrig. So die „Priorité nationale“, die Flüchtlingen und insgesamt Ausländer*innen den Zugang zu Sozialleistungen verwehren soll. Einschränkungen diesbezüglich gibt es schon jetzt, aber die Regeln hierfür haben Rechtsprechung und Conseil constitutionnel geklärt.
Gelder für die EU sollen gekürzt werden; das geht freilich nicht (und bringt budgetär kaum etwas, da umgehend Zahlungen aus der EU an Frankreich entsprechend gemindert oder ganz gestoppt würden). Würde eine RN-Regierung unter dem jungen Parteivorsitzenden Jordan Bardella (28 Jahre alt) dies tun und darauf beharren, würde dies die EU zu einer Zeit schwächen, in der maximale Solidarität aufgrund einer geopolitisch brisanten Lage gefordert ist.
Frankreichs Staatshaushalt ist schon jetzt schwer defizitär (über 5% Defizit bei über 110% Gesamtverschuldung gemessen am BIP), für zehnjährige Anleihen müssen mittlerweile um 0,8% höhere Zinsen als für bundesdeutsche Anleihen gezahlt werden. Das Verhältnis wird sich je nach Wahlausgang weiter verschlechtern, da sowohl RN wie NFP viele teure Projekte bewerben, aber keine überzeugende Gegenfinanzierung nachweisen können.
Bei einem Wahlsieg, sei es des RN, sei es des NFP, würde die Zusammenarbeit in der EU leiden und mühsamer werden, da in Brüssel im Europäischen Rat zwar der französische Staatspräsident sein Land vertritt, im (Minister-)Rat aber die Vertreter*innen der Regierung sitzen. Außerdem kann es sich als ungutes Zusammentreffen erweisen, dass Ungarn am 1.7. die Ratspräsidentschaft bis zum Jahresende übernimmt.
All die politischen Kräfte in der EU, die die EU zugunsten einer mystifizierten „nationalen Souveränität“ – die es im 21. Jahrhundert mit oder ohne EU ohnehin nicht mehr gibt – zurückbauen wollen, werden die Konstellation maximal nutzen wollen. Dazu kommt das Erstarken der Rechtsparteien im Europäischen Parlament, die zwar zu schwach sind, um etwas gegen eine Mehrheit aus Europäischer Volkspartei, europäischen Sozialdemokraten und Europäischen Liberalen sowie gelegentlich mit den Grünen durchzusetzen, doch sitzen etliche rechte und rechtsextreme Regierungen im Rat und Europäischen Rat. Für EU-Gesetze braucht es den Kompromiss zwischen Parlament und Rat. Und was dem Europäischen Rat nicht gefällt, wird die EU-Kommission kaum auf den Weg bringen können …
Doch noch einmal zurück zu Macrons vermuteten Motiven. Manche denken, dass es in erster Linie um verletzte Eitelkeit geht – doch warum sollten die Wähler*innen jetzt eine Macron genehme Mehrheit wählen, wenn er so unbeliebt ist und das eigene Lager ihm rät, im Wahlkampf möglichst im Hintergrund zu bleiben (was er nicht tut)?
Alleingänge sind ein wenig Macrons Markenzeichen; damit hat er schon oft andere Regierungen vor den Kopf gestoßen, ohne dass seine Selbstinterpretation, man müsse manchmal eben schockieren, um voran zu kommen, durch Fakten und Ergebnisse gestützt würde. So hat sich der Slogan von Europäischer Souveränität dank Macron verallgemeinert, ja, aber Schritte in diese Richtung bei der Verteidigung, der Wirtschaft, KI usw. sind eher Folge der Zwänge, denen die EU ausgesetzt ist. Einen Lehrmeister Macron brauchen EU und NATO nicht.
Ein anderes denkbares Motiv wäre, dass Macron mit einer RN-Regierung rechnet und darauf spekuliert, dass diese sich aufgrund ihrer Inkompetenz schneller selber desavouiert als man schauen kann. Dann wären die Präsidentschaftswahlen 2027 für den RN gelaufen, Marine Le Pen müsste ihre Hoffnungen, französische Präsidentin zu werden, endgültig aufgeben. Das wäre politisches Vabanque-Spiel, es könnte genauso gut das Gegenteil eintreten. Nicht, dass der RN gut regieren würde, das kann man so ziemlich ausschließen, aber wer sagt, dass die Wähler*innen des RN nicht die Schuld für Regierungsscheitern bei der Opposition (jetzige Regierungsparteien) suchen würden?
Wie auch immer: Frankreichs Wähler*innen sind nun am Zug, sie entscheiden nicht nur über Frankreichs politische Zukunft, sondern auch über die der EU. Leider spricht nichts dafür, dass sie das berücksichtigen werden.