Wird Emmanuel Macron auf ein deutsch-französisches Tandem bauen können?
Teil 1; Teil 2; Teil 4; Teil 5
[34] Die deutsche und französische Europapolitik divergieren in vielen Hinsichten, aber in entscheidenden Momenten zogen die Regierungen beider Länder an einem Strang. Beinahe spektakulär war 2020 die Einigung zwischen Frankreich und Deutschland, einem üppig dotierten Fonds der EU für den Auf- und Umbau nach der Coronapandemie zuzustimmen und eine beträchtliche Schuldenaufnahme durch die EU einzuplanen.
[35] Wie im ersten Teil berichtet, fällt die französische Ratspräsidentschaft mit den Präsidentschaftswahlen und den anschließenden Wahlen zur Assemblée Nationale zusammen. Spannend! Doch nicht weniger spannend ist der Umstand, dass in Deutschland in wenigen Tagen, in diesem Dezember 2021, eine neue Regierung in einer neuen Parteienkonstellation antreten wird, die Ampelkoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP.
[36] Die Vorbereitungen zur Ratspräsidentschaft laufen auf vollen Touren, die neue deutsche Regierung muss sich aber erst ins Amt finden, und das wird im Jänner 2022 noch nicht abgeschlossen sein. Kann die französische Ratspräsidentschaft mit der neuen Bundesregierung rechnen oder muss sie sich darauf einstellen, dass diese im Zweifelsfall abwiegelt und Zeit gewinnen möchte, bis sich alles soweit einmal eingespielt hat?
[37] Der voraussichtliche neue Bundeskanzler Olaf Scholz hat angekündigt, nach seiner Wahl zuerst nach Paris zu E. Macron zu reisen. In der konkreten Situation ist das ein wichtiges Zeichen. Der Ampel-Koalitionsvertrag würdigt außerdem ausdrücklich die deutsch-französische Freundschaft und das Europa-Kapitel dürfte auch aus französischer Sicht Potenzial haben. Ein gewisses Potenzial, denn Euphorie darüber wird linksrheinisch wohl nicht aufkommen.
[38] Gleich der erste Absatz des Europakapitels (ab S. 131) greift den Begriff einer europäischen Souveränität auf, den Macron seit 2017 bewirbt. Das Koalitionspapier formuliert allerdings verhalten: „strategisch souveränere Europäische Union“ und zählt dann als Anwendungsgebiete auf: „Klimawandel, Digitalisierung und Bewahrung der Demokratie“.
[39] Das sind zentrale Betreffe, aber es fällt auf, dass Fragen einer europäischen Verteidigung hier nicht angesprochen werden – die folgen erst später, obwohl mehr europäische Souveränität auf irgendeinem der betreffenden Gebiete ohne Klarheit über eine europäische Verteidigungsstrategie eher eine rhetorische Übung bleibt.
[40] In dieser Beziehung wird die französische Regierung also Erklärungsbedarf anmelden, sie wird wissen wollen, woran sie mit Deutschland ist. Macrons Begriff von europäischer Souveränität geht eindeutig über das hinaus, was die künftige deutsche Regierung sich vorstellt.
[41] Das Koalitionspapier geht dafür an anderer Stelle deutlich über gängige Vorstellungen in französischen Regierungskreisen bezüglich der Entwicklung der EU hinaus. In dem Papier setzen sich die drei Parteien für einen „föderalen europäischen Bundesstaat“ ein. Das ist eine große Idee, die viele Seiten bedrucktes Papier benötigen würde. Diese Seiten gibt es nicht, sodass die Idee im Vagen bleibt. Das dürfte E. Macron und die französische Regierung eher freuen, aus anderer Perspektive könnte man sich aber wünschen, dass auch von Seiten der Regierung der größten europäischen Volkswirtschaft mal wieder ein Quäntchen europäischer Vision ins Spiel gebracht würde.
[42] Eine Teilübereinstimmung zeichnet sich bei der Befürwortung transnationaler Listen ab den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament ab. Diese Idee hatte E. Macron 2019 versucht stark zu machen. Nun dürfte eine deutsche Regierung hier am selben Strang ziehen wollen. Das von der Ampel gleichfalls propagierte Spitzenkandidat*innensystem hingegen hatte Macron 2019 ausgetrickst. Da es sich hier um Fragen handelt, die nicht zwingend während der französischen Ratspräsidentschaft geregelt werden müssen, ist das diesbezügliche Konfliktpotenzial als gering einzustufen.
[43] Aus französischer Sicht sehr wichtig ist die angedeutete Flexibilität deutscherseits (S. 133 Koalitionsvertrag), was den Stabilitätspakt angeht. Man gibt sich kaum orthodox, da horcht man an der Seine hoffnungsvoll auf…
[44] Die wichtigste Botschaft des Ampel-Papiers nicht nur für Frankreich, sondern für alle anderen EU-Mitglieder ist, dass es keine nationalistischen Töne gibt, die die EU noch mehr in die Bredouille bringen würden, sondern ganz im Gegenteil. Allerdings gibt sich Frankreich in Bezug auf die EU-Mitglieder, die eher verquere Begriffe von Rechtsstaatlichkeit entwickelt haben und diese in die Praxis umsetzen, recht zurückhaltend und wird, falls die deutsche Regierung schon sehr bald ihren Worten im Papier Taten folgen lassen möchte, zum Abwiegeln und Zeit gewinnen neigen.
[45] Es wird also viel darauf ankommen, dass der französische Präsident und seine Regierung, wenn es ein deutsch-französisches Momentum geben sollte, dieses schnell erkennen und nutzen.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: In Erwartung der französischen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 (Teil 3). In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/franzoesische-ratspraesidentschaft-2022-teil-3, Eintrag 01.12.2021 [Absatz Nr.]
Lies mal wieder: Was wird aus der Europäischen Union? Geschichte und Zukunft !