[1] Historizität gehört zu den kulturellen Eigenschaften – oft im Sinne von Eigenheiten–, die angeführt werden, wenn ‚die‘ europäische Kultur mit anderen verglichen wird. Historizität sei dieser im Gegensatz zu anderen Kulturen von Beginn an zu Eigen gewesen.
[2] Historizität wird in engem Zusammenhang mit der Entwicklung von Schrift und Schriftlichkeit gesehen, spielen diese doch bei der Entwicklung eines kulturellen Gedächtnisses eine entscheidende Rolle. (Vermeintlich) schriftlose Kulturen könnten daher nicht durch Historizität gekennzeichnet sein.
[3] Bei dieser Problemstellung geht es, unausgesprochen oder ausgesprochen, um die „Einzigartigkeit“ europäischer Kultur. Kulturgeschichtlich ist „Einzigartigkeit“ eine fragwürdige Kategorie, aber würde sie wertneutral verwendet, ließe sie sich als methodisches Element in einer komparatistischen Herangehensweise einsetzen. Eine wertneutrale Verwendung in diesem Zusammenhang der Charakterisierung der Eigenschaften europäischer Kultur ist jedoch außer bei Max Weber selten (gewesen).
[4] Die vermeintlich schriftlosen Kulturen wurden mit der Ankunft der europäischen Eroberer schrittweise in eine von europäischer Schriftlichkeit geprägte Kultur überführt, in der gleichwohl Mündlichkeit und Bildlichkeit einen wichtigen Platz behielten, nicht weniger als in Europa selber. Spätestens damit wurde schrittweise Historizität zum Bestandteil der métissage-Kulturen – jedenfalls, wenn Historizität an die aus der Antike übernommene und dann europäische Schriftlichkeit knüpft wird.
[5] Spätestens mit der Globalisierung des Nationalstaatsprinzips seit der Atlantischen Revolution werden alle Kulturen, wie immer auch deren räumliche Radizierung angesetzt wird (national oder transnational), durch Historizität charakterisiert. Damit handelt es sich gegenwärtig um ein globales, ein universelles Merkmal, das durch die Weltkulturerbepolitik der UNESCO verstärkt wird.
[6] Kulturwissenschaftlich geht es um die tiefer liegende Frage, ob Historizität und (europäische) Schriftlichkeit unauflösbar zusammenhängen oder ob es nicht auch mit Bildlichkeit ‚funktioniert‘. Darin steckt vordergründig die Prämisse, dass Schriftlichkeit und Bildlichkeit etwas Grundverschiedenes seien. Aber sind sie das? Ein weiterer Punkt ist der Zusammenhang zwischen Historizität und Narrativität, auf den weiter unten einzugehen ist.
[7] Jedes Schriftzeichen ist auch ein ‚Bild‘, das ist heute unstrittig, aber die Betrachtung von Schriftzeichen als Bild bezieht sich auf andere Interpretationszusammenhänge als die Betrachtung von Schriftzeichen im Zusammenhang des Lesens und Verstehens von Texten, von Sprachen, von Bedeutungen. Beide Interpretationszusammenhänge werden bei der Schriftgeschichte verknüpft. Dies geschieht aber im Wissen um die spätere ausgebildete Schrift.
[8] Wenn das Problem der Historizität wieder an seinem Entstehungsort aufgesucht wird, nämlich in der Annahme, dass (europäische) Kultur von Beginn an durch an Schriftlichkeit geknüpfte Historizität charakterisiert sei, lässt sich die Problemstellung am Beispiel Perus auf die durch entsprechende Funde schon besser dokumentierbaren frühen Kulturen von Sechín (ab 1800 v. Chr.), Chavín (ab 1400 v. Chr.) usw. übertragen.
[9] Die aussagekräftigsten Artefakte der gesamten präinka-Zeit verdanken wir den Gräbern. Die Einfachheit oder Kostbarkeit der Grabbeigaben richtete sich nach der sozialen Stufe, jedenfalls stammt alles, was uns heute beim Betrachten in Bezug auf technische Kunstfertigkeit und Ausdruck fasziniert, aus Gräbern. Das wäre eventuell anders, wenn die Conquistadores nicht so terroristisch mit den vorgefundenen Kulturen umgegangen wären, aber dies ist spekulativ. Alltagstextilien, -keramiken usw., die dem Alltag und nicht zeremoniellen Zwecken dienten, waren einfach. Das Kostbarste verschwand mit den Toten im Boden- um mit den Conquistadores vielfach der Plünderung ausgeliefert zu werden.
[10] Hinzukommen Gebäude: eine große Anzahl an Pyramiden aus Adobeziegeln, die äußerlich nach drei, zwei oder tausend Jahren eher von Erosion gekennzeichneten hohen Erdhügeln ähneln, aber im Inneren intakt geblieben sind – inklusive farbig gemusterter Mauern. Aus der Huaca de la Luna (ein wenig südöstlich von Trujillo) lässt sich erkennen, dass die bemalten Reliefs auch auf Außenfassaden angebracht wurden und damit für die Bevölkerung, für die Lebenden, sichtbar waren. Diese Pyramide weist noch eine Besonderheit auf – jedenfalls gibt es bisher kein zweites ähnlich komplexes Beispiel –, nämlich eine umfassende kosmologische bildliche Darstellung, sozusagen das, was uns von den zum Teil riesigen mittelalterlichen Weltkarten vertraut ist.
[11] Aus anderen Beispielen sind mannshohe Außenreliefs (Sechín) bekannt, aus den Quellen der Conquista sind zahlreiche Angaben über den sichtbaren, dann von den Conquistadores eingeschmolzenen, äußeren Gold- und Silberschmuck der Heiligtümer und Paläste entnehmbar. Kurz: Es gab eine nach außen sehr sichtbare und farbige ‚Pracht‘, die wir auch aus der Antike oder späteren Zeiten der europäischen Kulturgeschichte kennen. Diesbezüglich liegen Unterschiede, auch was den Totenkult angeht, mehr im Detail als im Prinzip.
[12] Zu richten ist das Augenmerk auf eine hochgradig ausdifferenzierte Bildlichkeit. In der Mochekeramik ist diese geradezu natur-realistisch. Die anderweitigen nicht-keramischen figürlichen Darstellungen machen auf den ungeübten Betrachter anfangs einen schon in den frühen Kulturen stereotypisierten Eindruck, in Wirklichkeit sind sie aber über unzählige Details fein ausdifferenziert bis hin zu ‚Porträts‘ wie im Falle des „Señor von Sipán“. Figürliche Darstellungen, die keineswegs nur Gottheiten betreffen, sondern auch die jeweilige Gesellschaft und ihr Gemeinwesen, in dem sie entstanden, finden sich auf den Ausstattungsstücken der Herrscher, ihrer (Haupt-)Frauen, Priester und Priesterinnen, hoher ‚Beamter‘ und Militärs, die bei zeremoniellen Anlässen getragen wurden. In manchen Fällen wie in Karajía werden die Toten selber Teil der Figürlichkeit (in die Felswand aufrecht eingebettete mannshohe Keramikfiguren, die die Mumien in Fötusstellung beinhalten).
[13] Schließlich existierte eine Bildlichkeit, die am deutlichsten anhand der Inka-Kultur nachvollzogen werden kann, die aber nicht von den Inkas erfunden wurde. Es handelt sich um die Verbindung von sakraler, ‚säkularer‘ und landwirtschaftlicher (Terrassierungen) Architektur mit natürlichen Erhebungen (Felsen, Hügel, Bergrücken usw.), die durch gestalterische Eingriffe (Abtragungen, Einsägungen, Glättungen, sonstige behutsame Zurichtungen aller Art) zum integrativen Bestandteil der von Menschen ausgeführten Architektur werden. Vor allem Letzteres, das in abgeschwächter Form auch bei anderen und älteren Kulturen als der Inka-Kultur festzustellen ist, besitzt eine Art zeitloser Dauerhaftigkeit.
[14] Das gilt im Grunde für alle Artefakte. Wir können nicht wissen, wie die kulturelle Überlieferung und damit das kulturelle Gedächtnis ohne das Einbrechen der Conquistadoren ausgesehen hätten, jedenfalls sind die Überreste dieser Kulturen, die parallel zu den Kulturen ‚unserer‘ Weltgegend ab Sumer/Mesopotamien aufwärts bestanden, von frappierender Dauerhaftigkeit geprägt. Materielle Dauerhaftigkeit ist sicherlich ein Teil und eine Voraussetzung von kulturellem Gedächtnis, das, nach den gängigen Auffassungen, mehr umfasst als mündliche Überlieferung allein leisten kann. Das gestaltete Materielle ist wichtiger Bedeutungsträger komplexer kultureller Bedeutungssysteme.
[15] Und die Schrift? Die historischen Kulturen des Raumes von Kolumbien bis Bolivien gelten als nicht-schriftliche Kulturen. Allerdings wird dies inzwischen auch vorsichtig infrage gestellt, und zwar ausgehend von den Knotenschnüren, den Quipus, deren Knoten möglicherweise doch nicht nur Zahlen und Mengen ausdrückten.
[16] Aktuellen Interpretationen zufolge könnten die Knoten auch historische, genealogische und statistisch-ökonomische Informationen enthalten haben. Knoten war nicht gleich Knoten, es kam also nicht nur auf die Anzahl und Reihenfolge an, sondern auch auf die Knüpfart und die Farbe und vieles mehr. Zum Verständnis brauchte es Spezialisten, die Quipucamayoq.
[17] Hiervon ausgehend stellt sich die weitergehende Frage, ob nicht auch diejenigen (komplexeren) figürlichen Darstellungen, die offensichtlich bestimmte rituelle Vorgänge oder, wie im Fall des kosmologischen Bildes an der Außenfassade der Huaca de la Luna, vielleicht die Entstehung des Kosmos und der Welt, ‚erzählen‘, phonetische Notationssysteme darstellten, wie wir sie aus der Schriftgeschichte der Hieroglyphen kennen. Aber dies ist hochspekulativ.
[18] Das Argument der Historizität bezieht sich nicht nur auf den Zusammenhang mit Schrift und ihrer Funktion als Überlieferungsträger, sondern auch auf Narrative, die Erzählung von Geschichten und Geschichte, die über die Tradierung von Götter- und Herrschergenealogien hinausgehen. Am ehesten einen Zugang in diesem Zusammenhang eröffnet die Moche-Kultur (1. bis 7. Jahrhundert n. Chr.), zu der auch Sipán gehört.
[19] Soweit die Keramik Menschenköpfe zeigt, wird davon ausgegangen, dass es sich vielfach um real gelebt habende Individuen handelt oder handeln kann. Das ist noch keine Erzählung, aber es verdeutlicht, dass bildliche Darstellungen nicht nur Topen oder Stereotypisierungen sind. Ähnlich werden im Zusammenhang der Funde von Sipán bildliche Darstellungen, die Kämpfe, Opferungen und anderes zeigen, nicht nur als Ausdruck festgelegter Zeremonien interpretiert, sondern auch als mögliche Visualisierung tatsächlicher Ereignisse, die gleichwohl festgelegten Ritualen und Vorgehensweisen unterliegen.
[20] Eine Kultur wird durch Historizität charakterisiert, wenn sie sich selber erzählt. Das reicht von der mythologischen Erzählung bis hin zu den Erzählungsvarietäten infolge sozialer Identitätskonstruktionen. Wieviel oder wie wenig davon in den alten Kulturen Perus vorhanden und möglich war, ist noch nicht abschließend beantwortbar, aber die Exklusivität, mit der ‚die‘ europäische Kultur als speziell durch Historizität charakterisierte Kultur dargestellt wurde, ist falsifizierbar.
Dokumentation:
Empirische Grundlage: Perureisen 2014 und 2015. Informationen zu den Fotos: rechte Maustaste, auf Grafikinfo klicken.
Kritische Betrachtung von Historizität als exklusives Kennzeichen der europäischen Kultur: White, Hayden (2001): The Discourse of Europe and the Search for a European Identity, in: Stråth, Bo (ed.): Europe and the Other and Europe as the Other, Brüssel, 2. Aufl., 2001, S. 67-86.
Zu den Ausgrabungen in Sipán: Alva, Walter (2009): Sipán. Discovery and Research. Lima.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Historizität in der europäischen und in ‚nicht-schriftlichen‘ Kulturen. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/historizitaet, Eintrag 08.09.2015 [Absatz Nr.].
Mein Beitrag ist etwas länger. Bitte lesen Sie ihn in meinem Blog.
Dr. Gerhard Kaucic / Djay PhilPrax
Philosophische Praxis Wien
(Grammatologe, Philosoph, Schriftsteller)
Blog-Post zu „Festung Europa“ ( Dt. / Engl. )
Dekonstruktion, Intervention, Wiedererinnerung!
„Festung Europa
Postkolonialismus Terrorismus Flüchtlingsdrama Zivilisation und d_ Andere
Warum Europa Flüchtlinge willkommen heißen m u s s !
Die Einschreibung Europas in Europa. Europa besitzt Einschreibungen, Inskriptionen, Gravuren!“
(Text als Blog-Post auf Englisch und Deutsch)
Deutsche Fassung:
http://disseminationsdjayphilpraxkaucic.blogspot.co.at/2015/06/festung-europa.html
Englische Fassung:
http://disseminationsdjayphilpraxkaucic.blogspot.co.at/2015/06/fortress-europe-postcolonialism.html