[1] Antoine Vauchez plädiert in „Europa demokratisieren“ dafür, die europäischen Institutionen wie Europäischer Gerichtshof, Europäische Zentralbank und Europäische Kommission mehr dem politischen Streit auszusetzen. Die Hoffnung ist, dass die EuropäerInnen dann wieder mehr Anteil am „europäischen Projekt“ nehmen und dieses nicht nur als „Projekt von Eliten“, sondern auch als ihr eigenes erkennen.
[2] Chantal Mouffe hat in Le Monde vom 21. April 2016 (internationale Ausgabe) in einem Interview beklagt, dass die französische ebenso wie die europäische Sozialdemokratie verschwindet, da sie sich seit Tony Blair zu sehr auf einen Konsens der politischen Mitte eingelassen habe, der ihre politischen Konturen hat verschwimmen lassen. Parteien, die mehr Emotionen und Ängste ansprechen, gewännen immer mehr Anhang.
[3] Sie plädiert ebenfalls für mehr Kontroversialität und erinnert an ein Buch ihres 2014 verstorbenen Mannes Ernesto Laclau von 2005 über „La razón populista“. Sie fordert einen „populisme de gauche“. Gemeint ist, die Politik wieder deutlich auf die Sorgen, Ängste und Bedürfnisse der Gesellschaft und der Individuen auszurichten.
[4] Europa aus der Vogelschau betrachtet, führt zu dem Eindruck, dass die Zubewegung der großen politischen Parteifamilien, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er- und 1990er-Jahre ideologisch deutlich voneinander unterschieden, hin zur „Mitte“, also zum politischen Konsens, mindestens eines zur Folge gehabt hat: Schwächung der sozio-ökonomischen „Mitte“ der Gesellschaft, massiver Zustimmungsgewinn der rechten Parteien, die sich ideologisch deutlich von der Sozial- und Christdemokratie sowie den Resten des Liberalismus abheben und dabei gleichermaßen positive wie negative Emotionen ansprechen.
[5] Die „Mitte“ ist politisch rechter und nationalistischer geworden.
[6] Der Eindruck, dass zu wenig politisch über deutlich unterschiedene Konzepte gestritten wird, ist richtig, trotzdem ist die Gegenfrage, was die Alternative sei, keineswegs leicht zu beantworten. Es ist nicht gesichert, dass es gelingt, große WählerInnenströme hinter ein klassisch konturiertes politisches Programm zu scharen. Dazu sind die Interessen und Bindungen der Menschen viel zu variabel und flexibel, sie sind flüssig (zur Kritik am Begriff des Flüssigen nun Carlo Bordoni in „Interregnum“). Anders als früher haben Globalisierungsprozesse unmittelbaren Einfluss auf jeden Einzelnen, sie sind schwer filter- und abfederbar.
[7] Die Problematik wird verschärft, weil vielfach so getan wird, als gebe es einen nationalen Entscheidungsraum. Dadurch ergeben sich absurde Situationen: 32% der wahlberechtigen NiederländerInnen nehmen an einem Referendum über das Assoziationsabkommen EU-Ukraine teil, und davon stimmen 60% dagegen. Allein auf die Niederlande bezogen handelt es sich bei den Neinstimmen um lediglich ein Sechstel der Wahlberechtigten. Cécile Ducourtieux hat berechnet, dass dies lediglich 0,007% der Wahlberechtigen der EU ausmacht. 0,007% aus einem rein nationalen Umfeld sollen dieses Abkommen blockieren können, dem bereits 27 Parlamente zugestimmt haben? Diese Art von politischem Streit kann kaum gemeint sein.
[8] Speziell in Deutschland wird gerade über die Nullzinspolitik der EZB gestritten. Antoine Vauchez sollte daran seine Freude haben – aber aus den Positionierungen der Debattenbeteiligten (MinisterInnen, der EZB-Präsident, Nationalbankchefs, Ökonomen, usw.) wird klar, dass es nicht um politische Weltanschauungen geht. Vielmehr rekurrieren alle Debattenbeiträge letztlich auf wirtschaftswissenschaftliche Modelle und Analysen.
[9] Anders ausgedrückt: Der Dissens bezieht sich darauf, wessen Zukunftsprognose (Was sind welche Folgen welcher Maßnahme?) valider ist. Die historisch bekannten sozio-ökonomischen Kosten von Weltanschauungspolitik wollen nur politische Parteien an den äußeren Rändern noch in Kauf nehmen. Im Gegensatz zur Hochzeit der sich mit dem Zeitalter der Französischen Revolution herausbildenden Epoche weltanschaulich geleiteter Politik wird heute verlangt, dass die Validität der Zukunftsprognose nachvollziehbar bewiesen wird. Das gilt nicht nur für die Meinungsforschung, sondern generell.
[10] Man kann darin die von Vauchez beschriebene Konstellation wiedererkennen: Die von ihm untersuchten EU-Institutionen machen Politik, sind aber idealtypisch als unpolitisch konzipiert.
[11] Das Argument, die Lösung könne in mehr politischem Streit liegen, scheint mir wenig überzeugend. In meinem neuen Buch „Gender and Eurocentrism“ versuche ich zu zeigen, dass das Zeitalter gelingender kollektiver performativer Sprechakte vorbei ist. Das bezieht sich speziell auch auf performative Sprechakte politischen Inhalts. Das bis in die Ausläufe des letzten Jahrhunderts geltende Konzept sich widerstreitender politischer (Welt-)Anschauungen kann in dieser neuen historischen Konstellation nicht mehr funktionieren.
[12] FORTSETZUNG
Dokumentation:
im Druck: Wolfgang Schmale, „Gender and Eurocentrism. A Conceptual Approach to European History“ (Wiesbaden, Steiner Verlag, erscheint Sommer 2016)
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Zuviel Konsens in Europas Politik?. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/konsens, Eintrag 24.04.2016 [Absatz Nr.]