Der französische Präsident Emmanuel Macron hielt am 25. April 2024 eine zweite Europarede an der Sorbonne in Paris. Sie setzt die erste Europarede an der Sorbonne vom 26. September 2017 fort. Unter deutlich geänderten Vorzeichen – in der Folge der Covid-Pandemie, des Angriffskriegs der Russischen Föderation gegen die Ukraine, der Bestrebungen Chinas, die bisherige weltpolitische Ordnung zu einer Variablen des Reichs der Mitte zu machen …
Macron legt ausführlich sein Konzept „europäischer Souveränität“ dar. Diese bedeutet, dass sich Europa alias EU in allen strategischen und überlebenswichtigen Bereichen selbst behaupten und versorgen kann. In der Praxis muss die Verteidigung einschließlich Waffen- und Munitionsproduktion europäisiert werden, Europa muss in die Lage versetzt werden, sich selber ohne die USA zu verteidigen.
Auf allen aktuellen Innovationsgebieten (Elektromobilität, erneuerbare Energien, KI, Halbleiter, Medikamente etc.) hinkt Europa China und den USA hinterher und ist von Importen stark abhängig und im Zweifelsfall erpressbar. Macron will keine europäische Autarkie, aber einen höheren Anteil an Unabhängigkeit – was ohnehin ein Langzeitprogramm darstellt.
Macron gibt einen ziemlich vollständigen Überblick über die Handlungsfelder, in denen die EU, die Gemeinschaft der 27 Mitgliedsstaaten, gefordert ist. Er erweckt ein wenig den Eindruck, als hätten wir es mit einer im Vergleich zu den ersten Jahren der europäischen Integration völlig umgekrempelten Situation zu tun. Mehrmals betont er, dass „Europa sterblich“ sei. Nun ja, das ist wohl übertrieben, so wie das Reden vom „Hirntod der NATO“ übertrieben und ziemlich daneben war. Gehen denn französische Wähler*innen nur zur Wahlurne, wenn es um Leben und Tod geht? Eher nicht, aber natürlich ist es eine Wahlkampfrede im französischen Europawahlkampf.
Dem ist auch zuzurechnen, dass Macron sich selbst und insgesamt Frankreich als die treibende Kraft in Europa sieht. Die Idee der „Europe française“ ist scheinbar nicht unterdrückbar, hat aber wohl den Effekt, dass die politischen Reaktionen in Europa auf die Rede zurückhaltend geblieben sind.
Macron besitzt klare Vorstellungen davon, was Europäer*innen ausmacht. Im Grunde sind sie die Individuen, die sich die Aufklärung erdachte – vernunftbegabt, frei, selbstbestimmt, vom Humanismus geleitet, außerdem überzeugt demokratisch: „Être Européen, c’est penser qu’il n’y a rien de plus important, en effet, qu’être un individu libre, doté de raison et qui connaît.“ Er legt dar, was den Rechtsstaat ausmacht (Gewaltenteilung, Schutz der Freiheiten, der Minderheiten, Freiheit der Wissenschaft und Autonomie der Universitäten, u.v.m.) und betont, dass EU-Gelder unbedingt an die Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit gebunden sein müssen.
Mehrfach betont Macron, dass Europa anders sei, wobei dies bei ihm ein Werturteil impliziert: Europa ist besser als andere. Doch ist ein solches Werturteil nötig, damit Europa funktioniert?
Der französische Präsident spricht sich klar für mehr Demokratie in der EU aus – transnationale Listen bei der EU-Wahl, europäische Referenden u.ä. – und resümiert, womöglich unbewusst in Anlehnung an Willy Brandts „Wir wollen mehr Demokratie wagen!“: „Il nous faut de l’audace aussi pour plus de démocratie européenne“.
Vieles in der Rede dreht sich um Bedrohungen Europas von außen und von innen. Freiheit, Rechtsstaat, Friede, umfassende Unabhängigkeit, die vor Erpressbarkeit bewahrt, Innovativität sind bedroht. Auch der Glaube an Europa ist bedroht, vor allem bei den von Macron nicht namentlich angesprochenen Parteien aus dem Spektrum des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus, die zwar nicht mehr laut fordern, aus der EU auszutreten, aber das gemeinsame Haus stehenden Fußes zerfallen lassen wollen: „Au fond, ils ne proposent plus de sortir de l’immeuble ou de l’abattre ; ils proposent juste de ne plus avoir de règles de copropriété, de ne plus investir, de ne plus payer le loyer. Et ils disent : ça va marcher.“ Eine treffende Charakterisierung des politischen Widersinns.
Macrons Europarede zeichnet ein umfassendes Bild der aktuellen weltpolitischen, ökonomischen, politischen und kulturellen Situation Europas. Schon das ist viel wert, es wurde aber in der Medienberichterstattung kaum gewürdigt – vielleicht, weil es weniger originell ist als eine Neugründung der EU zu fordern. Aber nicht einmal das ist originell, ein „neues Europa“ wurde in den letzten 150 Jahren dutzende Male gefordert. Was Macron sagt: EU-Europa ist für sich selber verantwortlich und muss entsprechend strategisch handeln.
Dabei wird aber auch in Zukunft die Kunst des Kompromisses zwischen den Mitgliedsländern gefragt sein. EU-Europa hat tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal: Irgendwie konstituierte Staatengemeinschaften gibt es mittlerweile viele, aber eine Gemeinschaft wie die EU gibt es nur einmal. Das wird lange so bleiben. Die Fähigkeit zum Kompromiss spielt dabei eine wesentliche Rolle – so schön sich Visionen, vorgetragen in Reden, auch anhören mögen. Kompromisse schaffen die Elastizität, die eine Staatengemeinschaft von der Art der EU benötigt.