Einleitung
[1] Im vergangenen Jahr (2015) habe ich mich bezüglich Peru mit den Themen Geschichtsvermittlung in Peru sowie Historizität in der europäischen und in ‚nicht-europäischen‘ Kulturen auseinandergesetzt. Dieses Jahr führte der Weg in die Region von Arequipa, zu Ausgrabungen in der Umgebung von Lima, zum Bergsteigen in die Cordillera Blanca und schließlich in den Regenwald des Amazonas – mit ausreichendem Abstand zu Iquitos, dessen ‚Duft‘ von 30.000 Mototaxis bestimmt wird.
[2] Das Land gehört zu den Top-Ten der Welt bezüglich Artenvielfalt, drei der Top-Ten Trekkings befinden sich in den peruanischen Anden, das sichtbare und besichtigbare kulturelle Erbe reicht über rund 5000 Jahre von Caral bis zur Gegenwartskunst (noch ältere Felszeichnungen nicht gerechnet – dann sind es 10.000 Jahre), landschaftlich ist es scharf gegensätzlich vom Wüstenstreifen an der Pazifikküste über die grünen und landwirtschaftlich intensiv genutzten Flusstäler allmählich in die Anden hinauf bis auf über 6.700 Meter in die Gletscher der Cordillera Blanca, auf der ‚Rückseite‘ nach Osten wieder hinunter in den Nebelwald und im Norden in den Regenwald des Amazonas. Wunderbare Gletscherseen, kaltzugige Hochebenen, historische Städte der Kolonialzeit, armselige Ziegel-Beton-Wüsten, heruntergekommene Wirtschaftsmetropolen der Belle Époque wie Iquitos, farbiger Frohmut, kunsthandwerkliches Geschick, Armut, Gewalt und Lynchjustiz, Mikroökonomie, Raubbau, Umweltverschmutzung, Umweltschutz und Umweltrecht, vergoldete Altäre, tödliche Erdbeben, seit Jahrtausenden terrassierte Landschaften, breitflächiges Abbrennen von Weiden, weil es angeblich die Fruchtbarkeit des Bodens erhöht, während Hunderte oder Tausende von Kleintieren im Feuer sterben und der Qualm meilenweit zieht…
[3] Die Schere zwischen arm und reich ist gewaltig. Der Wegzug vom Land in die Städte hält ungebremst an, man kann den Städten beim Wachstum zusehen. Aus Holz-Wellblech-Plastik-Hütten werden spätestens nach zehn Jahren ungestörten Besitzes der anfangs besetzten Parzelle Häuser mit ein, zwei oder drei Stockwerken. Dabei bleibt es, das Stadtwachstum wird von den mikroökonomischen Lebensformen der Menschen, die hergezogen sind und sich ihr Auskommen schaffen, bestimmt. Das frisst die Landschaft auf, oft einschließlich historischer Stätten des frühgeschichtlichen- und vorkolonialen kulturellen Erbes.
[4] In Letzteres wird gleichwohl investiert, die Bedeutung des Kulturtourismus wächst. Landgemeinden und Verwaltungen haben gelernt, sich gegen die Macht internationaler Bergbau- und Energiekonzerne zu wehren, allerdings wird im Sinne der Mikroökonomie vielfach illegaler Bergbau, vor allem Kohle, betrieben. Immer noch werden kulturelle Stätten geplündert, aber Museumsleute können auch von ehrlichen Findern erzählen.
[5] Immer mehr Frauen spielen in der Politik auf allen Ebenen eine Rolle, das Parlament Perus hat eine Präsidentin, Luz Salgado. Bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen unterlag die Präsidentschaftskandidatin Keiko Fujimori, Tochter des früheren diktatorisch regierenden Präsidenten, von Fuerza Popular, nur knapp. Zugleich herrscht immer noch häusliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder. Die Medien haben sind jedoch des Themas angenommen und mit großen Plakaten wird versucht, Bewusstsein zu schaffen.
[6] Viele Probleme, die beim Reisen im Land und über die Medien deutlich werden, sind keine spezifisch peruanischen Probleme. Sie finden sich auf dem ganzen Kontinent und gleichfalls z. B. in Europa. Der Unterschied liegt wohl in der Schärfe und Zuspitzung, eventuell auch in der Quantität. Viele der sozio-ökonomischen Prozesse einschließlich ihrer materiellen (z. B. städtebaulichen) Realisierungen laufen nach gut erkennbaren Mustern ab. Der anfängliche Eindruck von chaotischem Wachstum täuscht insoweit. Da das meiste aber auf Mikroökonomie und mikrosoziale Zusammenhänge (Familie) entfällt, dienen sie überwiegend dem Überleben, weniger dem Anspringen einer wettbewerbsfähigen Volkswirtschaft. Irgendwann wird das Land in die Rationalisierungsfalle geraten, wenn nicht ausreichend und rechtzeitig gegengesteuert wird. Offiziell beträgt die Arbeitslosigkeit rund 7%, aber in vielen Bereichen werden Tätigkeiten unrationell von zwei Personen ausgeübt, für die eine oder auch nur eine Dreiviertelarbeitskraft ausreichen würde. Das heißt, Arbeitsvorgänge, die in vielen Ländern der Welt längst normiert und rationalisiert ablaufen, tun dies in Peru nicht.
[7] Freilich müssten den Besucher, den ‚Fremden‘, diese Dinge nicht interessieren, da für ihn Peru ein unsagbar schönes, landschaftlich und kulturell reiches sowie menschlich sehr freundliches und zugängliches Land ist, das man gerne mehrfach besucht und bereist. Das ändert nichts an den Gegensätzlichkeiten (Natur, Kultur, Gesellschaft), die man mitnehmen und keinesfalls vermeiden sollte.
Juanita
[8] Im Juli 2016 hat es im Süden Perus einen ungewöhnlichen Kälteeinbruch gegeben. Zwar ist Trockenzeit, das heißt ‚Winter‘, und es ist kühler als in der Regen- oder Sommerzeit, aber selbst wenn im hochgelegenen Puno (3.800 Meter ) leichte Minusgrade nicht unüblich sind, so wurden es dieses Jahr in Höhen über 4.000 Meter bis zu Minus 20 Grad. Da die Viehzucht auf den Hochebenen darauf nicht eingerichtet ist, sind dieses Jahr viele Tiere (Lama, Alpaca und andere) erfroren, viele Menschen haben Lungenentzündung bekommen.
[9] Ausnahmsweise sind daher in diesem Juli die Gipfel im Süden schneebedeckt oder angezuckert. Der Blick von Arequipa auf die Vulkane der Stadt (Misti, Chachani) bzw. etwas weiter entfernt auf den Ampatu (6.300 Meter) und den aktiven Sabancaya ist daher dieses Jahr besonders schön und lässt vergessen, wie aggressiv das Klima tatsächlich ist.
[10] Vor Fünfhundert Jahren oder auch ein, zwei Jahrzehnten mehr war der Vulkan Ampatu Schauplatz von 18 Kinderopfern. Inka-Priester und ihr Gefolge bestiegen den Vulkan, zu einer Zeit, als in Europa niemand daran dachte, die schneebedeckten Alpengipfel zu besteigen, und opferten in der Höhe mehrere Kinder, um die Berge, die Götter sind, zu besänftigen. Oben am Gipfel wurde ein ca. zwölf Jahre altes Mädchen geopfert. Im Journalistenmund wurde es in Anlehnung an den Vornamen eines an der Entdeckung der gefrorenen Körper der Opfer beteiligten peruanischen Archäologen „Juanita“ getauft. „Juanita“ ist in Arequipa ein kleines Museum gewidmet [Website derzeit außer Betrieb: http://www.ucsm.edu.pe/santury], das die Opferungen rekonstruiert und interpretiert. Heute liegt „Juanita“ in einem Glassarg – tiefgefroren, um Bakterienbefall abzuwehren.
[11] Wegen der vielen in Peru aufgefundenen Mumien – „Juanita“ und die anderen sind keine Mumien, wie die meisten Internetseiten falsch schreiben, sondern an Ort und Stelle erfroren, ohne dass die toten Körper speziell behandelt worden wären – aus verschiedenen in der Region aufeinander folgenden indianischen Kulturen besitzen diese, obwohl sie teils noch vor den Inkas, durch diese oder anschließend die Spanier untergingen, eine Stärke, eine wörtlich zu nehmende Präsenz, die materiell durch zum Teil besonders hochwertige Grabbeigaben unterstützt wird. Auch die sehr körperbetonte Moche-Keramik unterstreicht diese Besonderheit, dass verschiedene Kulturen eine bis heute reichende körperliche Präsenz bewahrt haben.
[12] Auch die Mischung des Katholizismus mit vielen Elementen der historischen indianischen Kulten, die die materiellen Kulturzeugnisse ebenso betrifft wie fortdauernde Praktiken, macht tausende Jahre alte Kulturelemente zu Teilen der Gegenwart. Wir haben es hier, vielleicht anders als in Europa, weniger mit einem „Kulturerbe“ als mit einer noch nicht „Erbe“ gewordenen, sondern alltagstauglich gebliebenen Kultur zu tun. Die körperliche Präsenz von Kultur bleibt in den üppig mit Kleidung und Attributen ausgestatteten Heiligenfiguren in den Kirchen präsent. Hier handelt es sich zwar auch um ein spanisches Erbe, aber es wirkt hier präsenter und massiver, es ist direkter und körperlicher. Die Kirche von Chivay – Chivay ist ein Ausgangsort für Touren in den Colca Cañón zu den Kondoren – gibt ein gutes Beispiel ab.
[13] Die durchgehende Einbettung der materiellen Kultur in eine Natur, die dem Menschen viel abverlangt, ohne ihn zurückzuweisen, macht ein weiteres Charakteristikum im Vergleich zu Europa aus, wo immer die Beherrschung, nicht die Einbettung in die Natur, im Vordergrund stand.
Pizza essen in Chacas
[14] Chacas liegt wie Chavín de Huántar (mit dem berühmten Lanzón) inmitten der Cordillera Blanca, aber nicht ganz so tief unten im Tal, sondern auf einem kleinen Rücken. Von Carhuaz biegt der faszinierende, nahe am Huascarán und dem Chopi Kalki vorbeiführende Pass ab, der bis auf über 4.700 Meter führt und durch einen Tunnel unter der gletscherbedeckten Punta Olimpica geleitet wird. Im Tunnel hängen dicke Eiszapfen von der Decke meterlang herunter. Danach führt der Pass kurvenreich talwärts, vorbei am Nevado Contrahierba, nach Chacas.
[15] Chacas ist ein katholisches Zentrum, das auf die gesamte Umgebung ausstrahlt, auf den nächsten Ort, San Luis, sowie auf Pomallucay. An der Straße wurden dauerhaft die 14 Kreuzwegstationen errichtet, was relativ einmalig in Peru ist. Pomallucay überrascht mit einer kunsthandwerklich reich ausgestatteten Wallfahrtskirche aus dem 20. Jahrhundert, die von einer beachtlichen Kuppel überhöht wird. Die Kirche versteht sich als ein Petersdom in den Anden.
[16] Pomallucay und Chacas sind um eine Gras bewachsene Plaza Mayor/Plaza de Armas zentriert, auf der einmal im Jahr ein in der Regel unblutiger Stierkampf mit jungen, nicht allzu kampflustigen Stieren stattfindet.
[17] Die katholische Bedeutung von Chacas und den umgebenden Orten ist der Don-Bosco-Bewegung zu verdanken, die wiederum über den inzwischen hochbetagten und nicht nur in dieser Gegend wie ein Heiliger verehrten italienischen Padre Ugo de Censi (Salesianer) hierherkam. Aufgebaut wurden, vor allem in Chacas, Kunsthandwerkstätten, in der Jugendliche und Erwachsene in großer Zahl arbeiten – auch Mädchen und Frauen. Es werden Armeneinrichtungen und in Chacas ein relativ großes Hospital unterhalten. Überall arbeiten Freiwillige aus verschiedenen Ländern mit, manche bleiben fürs Leben, wie ein Holzschnitzer aus dem Grödnertal, der uns die laufenden Projekte in der Skulpturenwerkstatt zeigte und erklärte. Dort waren gerade zwei große und künstlerisch anspruchsvolle Aufträge für Kirchen in Las Vegas und San Diego, USA, in Arbeit.
[18] Zu den Werkstätten gehören eine Möbeltischlerei, Kirchenfenster- und allgemein Glasmalerei sowie ein Malerwerkstatt, in der die meist religiösen Skulpturen bemalt werden. Etwas abgesetzt findet sich eine nur von Frauen betriebene Glaswerkstatt, in der Schmuck, Schüsseln, Glasmosaike und viele Einzelstücke für unterschiedlichste Zwecke hergestellt werden. Farben und Formen sind vielgestaltig und fantasievoll.
[19] Der italienische Einfluss ist überall spürbar, die Vorlagen und Modelle für Skulpturen und anderes sind oft von bekannten italienischen Kunstwerken abgeleitet. Vieles orientiert sich an den ästhetischen Prinzipien des etwas bigott-frommen 19. Jahrhunderts, aber wenn man die darin steckende Kunstfertigkeit beobachtet, vergisst man schnell, dass man zu einigen Objekten in Europa bigotter Kitsch sagen würde. Es gibt viele originelle Entwürfe, auch indigene Motive finden Verwendung.
[20] Sozialer Kristallisationspunkt ist die Kirche von Chacas. Im Chor steht ein reich geschnitzter vergoldeter und mit viel Figurenschmuck ausgestatteter Hochaltar aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, es ist Zedernholz aus Nicaragua. Im Chorraum befindet sich auch ein neueres, handwerklich ausgezeichnet gefertigtes Chorgestühl aus den örtlichen Werkstätten. Indigene Motive wurden in die schweren Portaltüren der Kirche eingeschnitzt. In der Kirche hängt ein großes Gemälde, das Padre Ugo in Aktion, aber auffällig wenig indigene Personen zeigt.
[21] Im Untergeschoss der am aufsteigenden Hang gebauten Kirche befindet sich die Pizzeria San Francisco, die nur am Sonntagabend öffnet und nur Pizza aus dem Steinofen bietet. Die Pizza ist jedenfalls gekonnt italienisch. Schräg hinter uns sitzt ein Ehepaar mit seinen Kindern, das ein kleines Restaurant betreibt, in dem wir am nächsten Morgen ein Frühstück mit Blick auf die Gletscher der Cordillera Blanca einnehmen werden.
[22] Chacas ist der erste Ort in Peru, wo wir nicht nur gefragt werden, aus welchem Land wir kommen, sondern wo wir zuerst gefragt werden, ob wir „Europeses“ seien? Was so viel heißt, wie keine „Americanos“. Im Komplex der Werkstätten hängen die peruanische, die italienische und die EU-Flagge neben einander und flattern leicht im Wind. In den Ecken der Plaza Mayor/de Armas stehen in den Ecken niedrige Granitblöcke, in die Szenen aus der Geschichte Chacas‘ eingemeißelt sind. Rund um den Platz stehen z. T. historische Häuser im andalusischen Stil, der auf die Kolonialgeschichte führt.
Captain America am Pisco
[23] Am Campo Morena auf ca. 4.900 Meter, 850 Höhenmeter unterhalb des Gipfels des Pisco, geht es nachts um 2.30 los. Die Ausrüstung für die Gletschertour zum Gipfel haben wir am Nachmittag davor bereits zum Gletschereinstieg gebracht. Der Einstieg ist steil und hart vereist, aber dann kommt Schnee, auf dem es sich besser läuft. Bald macht sich ein eisiger Wind bemerkbar, der mich manchmal fast umhaut. Immer wieder Steilstufen, die das Tempo drosseln. Gelegentlich muss eine Spalte übersprungen werden, manchmal geht es an größeren Spalten und mächtigen Eisgebilden vorbei. Noch – und fast bis zum Erreichen des Gipfels – ist es dunkel, doch vor zwei Tagen war Vollmond und die Silhouetten der übergletscherten Berge ringsum zeichnen sich scharf ab. Darüber wölbt sich ein klarer Sternenhimmel. Als wir den Gipfel (5.752 Meter) erreichen, ist die Sonne aufgegangen, doch der immer noch eisige Wind verhindert, dass sie wärmt.
[24] Der Abstieg führt zunächst auf den Boden der Moräne, an deren oberen Rand wir das Nachtlager bezogen hatten. Der Weg zurück zum Base Camp führt über eine steile Schutthalde nach oben, auf deren bewachsenen Rücken der Pfad dann hinunter zum Lager führt. Eine Alternative gibt es nicht – will sagen, wir haben Pech, da gerade oben am Einstieg in die Schutthalde mehrere Bergsteigergruppen in der Schlange stehen und absteigen wollen, um am nächsten Tag den Pisco zu besteigen. Wir warten ganze zwei Stunden, bis alle herunten sind.
[25] Eine größere US-amerikanische Gruppe wird von einem hochdynamischen jungen Amerikaner dirigiert, ein wenig ein Captain-America-Typus. Er brüllte seine Kommandos und Ratschläge für die WanderkameradInnen laut hinaus, alle im Moränental waren gut unterhalten… Er rannte die Halde hinauf und hinunter, hinauf und hinunter… Nachdem alle aus seiner Gruppe den Abstieg in die Moräne heil überstanden hatten, holte er das Sicherungsseil ein. Während die Gruppe schon weiterzog, packte er seinen Rucksack, dann stellte er sich an den Wegesrand, und trotz eines guten Dutzends unfreiwilliger Zuschauer holte er seinen Schwanz heraus und pisste, als sei er allein. Nach dieser insgesamt umfassenden Vorstellung US-amerikanischer (?) Männlichkeit warf er sich den Rucksack über den Rücken und eilte mit seiner verspiegelten Sonnenbrille der Gruppe hinterher.
[26] Die einheimischen Träger, von denen sich wegen der zahlreichen Gruppen, deren Wege sich an dem Engpass kreuzten, etliche zusammengefunden hatten, kannten sich zumeist. Sie begrüßten sich freundlich, manchmal herzlich, immer eine witzige Bemerkung auf den Lippen. Scherzend hoben sie gegenseitig ihre Lasten an, die bis zu 40 Kilo erreichen. Keiner von ihnen trägt spezielle Bergkleidung, manche haben ihre Füße strumpflos lediglich in Crocs gesteckt, mit denen sie den Klettereinstieg in die Schutthalde, in dessen Mitte eine Kette nach unten hängt, behände bewältigen. Oben im Campo Morena werden sie dann die Zelte aufschlagen, kochen und den BergsteigerInnen das Essen reichen, spülen, später nach dem Aufbruch zum Gipfel alles zusammenräumen und wieder ins Base Camp oder ins nahe Refugio zurücktragen.
Hatun Machay
[27] Von Huaraz führt die Straße einigermaßen strikt nach Süden, bevor man nach Osten Richtung Chavín oder später nach Westen Richtung Pazifikküste abbiegt. Das Tal am Rand der Cordillera Negra, die an den höchsten Stellen knapp unter 5.000 Metern Höhe bleibt und schneefrei ist, verengt sich Richtung Süden zunächst, um sich dann in eine Hochebene auf ca. 4.000 Metern Höhe zu öffnen. Es gibt keinerlei Hinweis, doch plötzlich biegt der Fahrer im spitzen Winkel scharf rechts ab. Die Schotterpiste windet sich den Hang hinauf, es eröffnet sich ein herrlicher Blick auf die vergletscherten Cordilleren gegenüber im Osten. In der Ferne zeichnet sich die Cordillera des Huayhuash ab, deren höchster Gipfel, der Nevado Yerupajá, mit über 6.600 Metern dem Huascarán kaum nachsteht.
[28] Die Piste führt über einen Sattel (auf ca. 4.400 m) und verläuft dann leicht abwärts bis zu einem Refugio, das vor allem von Kletterern genutzt wird. „Hatun Machay“ – oder weniger geheimnisvoll „Bosque de rocas“ – bezeichnet eine ausgedehnte Vulkanfelsenlandschaft, die aus den sonst mit hartem Gras bewachsenen Hängen der Cordillera Negra, auf denen Schafe, Kühe, Pferde und Esel weiden, geradezu skurril heraussticht.
[29] Die teilweise 30 bis 40 Meter hohen, spitz zulaufenden Felsblöcke eignen sich für Kletterübungen aller Art, aber man kann sie genauso gut einfach durchwandern und sich von der Formenvielfalt, die die Verwitterung geschaffen hat, inspirieren lassen. Schnell ist ein ganzer Zoo beisammen.
[30] Von einer Art natürlichen Plateaus blickt man zum Pazifik, der freilich nicht direkt sichtbar ist, denn der Küstennebel zieht sich fast immer bis auf eine Höhe von 2.000 Metern oder mehr hoch. Tag für Tag durchstechen die Linienbusse zwischen Lima und Huaraz die Nebelgrenze.
[31] Hatun Machay stellt zugleich einen frühgeschichtlichen Ort dar. Der Name bedeutet „Große Höhle“ (Cueva Grande) – die größte von mehreren offenen Höhlen, in der sich frühgeschichtliche Felsmalereien befinden. Der Erhaltungszustand ist schlecht, weil sich niemand um den Ort kümmert, soweit es nicht ums Klettern geht, sie werden demnächst verschwunden sein und man wird sich mit den Fotografien, die das Archäologische Museum in Huaraz im Juli 2016 ausstellte, begnügen müssen. Dort oben an den Felsen lebt eine Hirtin, die drei mit Dächern aus dem harten Gras der Weiden gedeckte Rundhütten bewohnt. Gern legt sie sich bäuchlings auf ihren Aussichtsplatz, von dem aus sie sichtlich amüsiert den argentinischen Kletterern zuschaut, die zwischen zwei Felsnadeln eine Slackline gespannt haben. Zirkusreife Nummern führen sie jedoch nicht vor, sondern hangeln sich ‚nur‘ von einem Felsen zum anderen. Die Hirtin, die wir über die Felsmalereien befragen, hat von diesen noch nie gehört…
[32] Ein Falke hat hier sein Revier. Er fliegt von einem Felsen hinunter zum Boden und läuft dort eine Weile herum. Dann erhebt er sich in die Lüfte, fliegt über unsere Köpfe und lässt uns sein wunderschönes Gefieder von unten betrachten.
Lima
[33] Am Nationalfeiertag (28. Juli), der dieses Jahr wegen der Vereidigung des neuen Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski (aus der bekannten jüdischen Familie Kuczynski) ein besonderer ist, vergleichsweise wenig Verkehr. Der 28.7. meint den 28. Juli 1821, an dem der argentinische General José de San Martín offiziell die Unabhängigkeit Perus von Spanien erklärte. Die peruanische Historikerin Cecilia Méndez hat zum 195. Unabhängigkeitstag die Wahl dieses Datums deutlich kritisiert, weil es die vielfach von Indígenas getragene Vorgeschichte zur Unabhängigkeit verdeckt. [La República, 28. Juli 2016, S. 14-15]
[34] Für den Nicht-Limeño wirkt die Zwölfmillionenstadt an den drei Flüssen Chillón, Rímac und Lurín normalerweise chaotisch und völlig unübersichtlich. An den Hügeln nach Osten ziehen sich einfachste Hütten aus Verbretterungen, Plastikfolie und ein wenig Wellblech hoch; dort ist noch gut zu erkennen, dass die Stadt in der Wüste liegt, die sich als Streifen zwischen Pazifik und Anden über Hunderte von Kilometern erstreckt. Die Mehrzahl der festen Gebäude ist unansehnlich, dazwischen machen sich immer wieder Einkaufszentren und Spielcasinos breit, hin und wieder steht ein Zirkuszelt. Tiendas, Auto- und andere Werkstätten scheint es zu Zehntausenden zu geben, dazwischen immer wieder ein einfaches Hostal.
[35] Nicht so im historischen Zentrum mit der Plaza de Armas, dem Präsidentenpalast, den Klöstern und Kirchen, etlichen Häusern aus der spanischen Zeit und dem Belle-Époque-Hotel Gran Bolívar. Nicht so in den teuren Stadtteilen – Stadtteile haben den Status einer Municipalidad mit einem Alcalden an der Spitze (43 Municipalidades, darunter 11 Bürgermeisterinnen) – Miraflores und San Isidro. Beim Übergang von Miraflores nach San Isidro passiert man einen überraschend ausgedehnten Olivenbaumhain, dessen älteste Exemplare aus dem 17. Jahrhundert stammen, als der Hain angelegt wurde. Heute ist das Areal teils durch eklektisch-historisierende Bauten unterbrochen: Englischer Landhausstil, französischer Stil… Mittendrin erhebt sich plötzlich die Huaca Huallamarca, die ursprünglich zwischen 200 vor Chr. und 200 nach Chr. angelegt, dann aber von den nachfolgenden Kulturen bis zu den Inkas weiter genutzt wurde. Es wurden einige Gräber mit Beigaben gefunden. Diese Pyramide aus ca. 3,5 Millionen Adobesteinen ist wesentlich kleiner als die Huaca Pucllana in Miraflores (ca. 100 Millionen Adobesteine), die insgesamt jünger ist. Viele Pyramiden sind in Lima aber inzwischen von ‚der Stadt gefressen‘ worden. Juan Luis Orrego greift das Thema immer wieder in seinem Blog auf.
[36] Der eigentliche Kern Limas, vom historischen Zentrum bis San Isidro und Miraflores an der Küste, öffnet sich immer wieder in baumumstandene Plätze mit Blumenbeeten hinein, wo es eher ruhig und verkehrsärmer zugeht. Vielleicht kann man Lima tatsächlich mögen, wie es viele Limeños behaupten, aber die stundenlange stop-and-go-Einfahrt in die Stadt, vor allem aus Richtung Norden, bleibt dennoch ein Martyrium.
[37] Unter dem Eindruck der Beton- und Ziegelwüste, gelegen in einer natürlichen Wüste, vergisst man leicht, dass in und am Rande Limas (Nord-Südausdehnung rund 120 Kilometer, West-Ostausdehnung bis zu 60 Kilometer) eine Vielzahl frühgeschichtlicher und historischer, äußerst sehenswerter Stätten liegt. Während der Palast von Puruchuco (Inka) gut erschlossen ist, lässt sich das vom insgesamt viel interessanteren, am derzeitigen östlichen Stadtrand von Lima situiertem Cajamarquilla überhaupt nicht sagen. Es handelte sich um eine ausgedehnte archäologische Stätte von Präinka-Kulturen (ab ca. 200 vor Chr.) – ohne jegliche Infrastruktur, die nicht im geringsten vor der sich immer weiter in die Landschaft fressenden Stadt geschützt wird. Lima kann man beim Wachsen hier zusehen.
[38] An der am südlichen Stadtrand gelegenen Ausgrabungsstätte Pachacamac wurden inzwischen Vorkehrungen getroffen und Mauern errichtet, um die Ausdehnung der Siedlungen in den archäologischen Bereich hinein zu stoppen. In Cajamarquilla bewacht tagsüber ein einziger Wächter ein Areal von mehreren Hundert Hektar. Bisher wurde nur das sogenannte Labyrinth weitgehend ausgegraben und teilweise restauriert. Zur Besichtigung benötigt man eine Sondergenehmigung, die der Wächter, der nach einiger Zeit von irgendwo aus der nebligen Trübnis dieses Tages auftaucht, freundlich entgegen nimmt, um dann den Stein vor der unverschlossenen Türe beiseite zu schieben. Abends, wenn der Wächter Dienstschluss hat (eine Nachtablösung gibt es nicht), machen die Jugendlichen aus den umliegenden Siedlungen dasselbe (ohne Sondergenehmigung…) und ritzen in den Putz der Wände oder direkt in die lehmartigen Blöcke ihre Liebessprüche oder Zeichnungen.
[39] Kein Wegweiser führt zur historischen Stätte, die Wege sind nicht asphaltiert. Ein Mitarbeiter von Puruchuco kennt den Schleichweg von Puruchuco nach Cajamarquilla und führt uns durch das „Labyrinth“. Der graue Nebel, die dämmerige Stimmung und die hohe Luftfeuchtigkeit passen zu diesem hohen und dennoch verlassenen und vernachlässigten geschichtlichen Ort.
Iquitos
[40] La Selva, wie die Peruaner sagen, mit dem Zentralort Iquitos ist eine völlig andere Welt als die Pazifikküste oder das Gebirge. Gleich wie in Lima und anderen Städten gibt sich das Wachstum der Stadt, die Bauprinzipien sind dieselben – heraus kommt in weiten Teilen eine Ästhetik des Unansehnlichen. Dem entzieht sich nicht einmal der historische Kern: Die – im Prinzip vielen – historischen Häuser mit den gekachelten Außenwänden stehen zwar unter Denkmalschutz, sind aber zum Teil verfallen oder mindestens stark beschädigt. Die Casa Morey, in der wir übernachteten, wurde hingegen vom Besitzer restauriert. Sie stammt aus der Zeit um 1900 und gehörte einem der Kautschukbarone, deren Reichtum für drei, vielleicht vier Jahrzehnte Iquitos prägte. Die gut und gerne fünf Meter hohen Räume und die Ausstattung der Gesellschaftsräume lassen eine Ahnung zu, wie es vor hundert Jahren in einem solchen Haus zuging. Obwohl die Stadt damals nur per Boot bzw. Schiff über den Amazonas erreichbar war, wurden Baumaterialien und luxuriöse Ausstattungsgegenstände aus Europa hierher gebracht. Portugiesische Fließen für die Hausaußenwände, Eisensäulen aus Glasgow, neobarocke Spiegelungetümer aus Frankreich, venezianische Lüster usw.
[41] Während in Iquitos der Verkehr tobt und von den zehntausenden von Mototaxis und Motorrädern beherrscht wird, bleibt an den Stadtgrenzen, abgesehen von der Flughafenanbindung, nur das Boot. Auch die Boote schwärmen zu jeder Zeit zu Hunderten aus. Abgesehen vom insgesamt überwiegenden Inlandstourismus handelt es sich bei den nordamerikanischen und europäischen Touristen um ganz andere Charaktere als im Gebirge oder im wenig besuchten Norden Perus (den wir 2015 ausführlich durchmessen haben). Der Regenwaldtourismus, der von hier ausgeht, ist straff durchorganisiert. Man kann Tagestouren von Iquitos aus machen, ein paar Tage in den Regenwald in eine Lodge ziehen, die sich in der Regel an einem der kleineren Zuflüsse des Amazonas befindet, und von dort aus bis in den regelrechten Urwald gelangen, oder sich eher expeditionsmäßige Unternehmungen weit weg von Iquitos vornehmen.
[42] Wir haben uns am Rio Momón einquartiert, ca. 25 Flusskilometer abseits von Iquitos. Der Fluss ist im Durchschnitt 30 Meter breit und eine wichtige Verkehrsstraße, zugleich ruhig, bei einem plötzlichen Unwetter kann man das Boot schnell anlanden. Die Pueblos erheben sich in unregelmäßigen Abständen über den Steilufern (in der Regenzeit steigen die kleineren Flüsse vier bis fünf Meter an, der Amazonas um das Doppelte oder mehr). In der Regel besitzen sie einen großen zentralen Platz, an dem außer Wohnhäusern die Schule, eine Kirche, das Bürgermeisteramt und ein medizinischer Versorgungsposten errichtet sind. Es gibt auch verschiedene evangelische Gemeinden, oft Adventisten und andere Religionsgemeinschaften. Um den Dorfkern herum allmählich in den Wald hinein noch einzelne Häuser. Zweifellos vorhandene soziale Hierarchien werden kaum architektonisch ausgedrückt. Meistens existiert ein aus Betonplatten bestehender Dorfweg, manchmal auch eine breitere Lehmpiste, auf der ein Motorradtransporter Plátanas oder andere Anbauprodukte zur Bootsanlegestelle bringt. Hin und wieder kommt uns jemand mit einer schweren Last auf dem Rücken aus dem Wald entgegen. Im Wald kleine Plátanas-Plantagen, jedoch nicht als Monokulturen; dazwischen Yucca, Zuckerrohr, Papayas und viele andere teils medizinische, teils sonstige Nutzpflanzen. An einigen Stellen sieht man, dass Holzkohle hergestellt worden ist.
[43] Mit zunehmendem Abstand vom Fluss verliert sich die systematisch betriebene Landwirtschaft, obwohl nach wie vor hier und dort ein neuer Pfad im Wald abbiegt. Irgendwann gelangt man an die Grenze zur primera Selva, zu den ganz hohen Bäumen, die man im Regenwald erwartet. Bäume werden in dieser Region im Prinzip nur für den Eigenbedarf gefällt, aber würden diese hohen Bäume nahe am Ufer stehen, wären sie längst gefällt und verkauft. Immer wieder zwischendrin ein Balsamstamm, eine Mahagonistamm, andere Baum- und Holzarten, die nach Eignung für den Brückenbau, den Hausbau oder für die Möbelherstellung eingesetzt werden. Und weil weiter oben [23] vom eisigen Wind am Pisco die Rede war, sei erwähnt, dass jede Waldwanderung, Trockenzeit hin oder her, einem mehrstündigen Saunaaufenthalt ähnelt. Touristische Darbietungen der Nativos fehlen klarerweise nicht, aber diese sind durchaus authentisch und dienten und dienen auch dem Erhalt einer kulturellen Tradition, die die Großfamilien oder Stämme von dort, wo sie zum Teil erst vor einigen Jahrzehnten herkamen (Ecuador und Kolumbien), mitgebracht haben. (Die Boras z.B. haben es zu einiger Bekanntheit gebracht.) Die dazu angefertigten und angebotenen kunsthandwerklichen Gegenstände unterscheiden sich wohltuend von den industriellen Souvenirs, die hier kaum eine Rolle spielen. Benutzt werden natürliche Materialien aus dem Wald und Naturfarbstoffe. Die Techniken, Naturkautschuk zu vulkanisieren oder aus Zuckerrohr Saft, „Honig“ und natürlich Rum zu gewinnen, werden praktiziert.
[44] Von Tag zu Tag mehr erschließt sich eine Lebens- und Naturwelt, die auf komplexe Weise funktioniert und auf einem breiten und vielfältigen Wissen beruht. Die Kinder lernen es mit; ein dreieinhalbjähriger Bub begrüßt uns munter mit einem „give me five!“ und erklärt uns eine Palme mit Aguajefrüchten.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Pizza essen in Chacas. Reisenotizen aus Peru 2016. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/peru, Eintrag 13.08.2016 [Absatz Nr.].