[1] Würde die Kultur Europa ohne die Vorstellung und ohne die Realität von Grenzen funktionieren? Folgt man Rousseau in seinem „Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes“, müsste die Antwort „nein“ lauten. Rousseaus berühmter Satz: „Le premier qui, ayant enclos un terrain, s’avisa de dire: Ceci est à moi, et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile.“ (1. Satz des 2. Teils des Discours, 1754).
[2] Nach Rousseau (sinngemäß) ist die Entstehung von Zivilisation an die Entwicklung immer weiterer Unterscheidungsmerkmale und -kriterien gebunden. Das Umgrenzen im engeren Wortsinn eines Territoriums und dessen Erklärung zum Eigentum begründet in einem bereits fortgeschrittenen Zivilisationsstand die bürgerliche Gesellschaft. Zugleich stellt er diesen Gründungsakt als Akt der Überlistung dar. Die bürgerliche Gesellschaft kennzeichnet bereits die Zivilisation der eigenen Zeit Rousseaus.
[3] Rousseaus Discours versteht sich als allgemeine Zivilisationstheorie, nicht nur als europäische, in der er allerdings verortet ist. Um seine implizite Grundthese, dass die vielen Erscheinungsformen des Sichabgrenzens das Movens der Zivilisationsentwicklung sind, zu überprüfen, müsste man einen umfassenden Zivilisations- oder Kulturvergleich anstellen.
[4] Dass das Sichabgrenzen eine wichtige Rolle spielte, ist unbestreitbar, aber in welchem Umfang geschah das? Und gehört es zur Grundausstattung menschlicher Wahrnehmung?
[5] Rousseaus Ansatz beinhaltet eine Prämisse, nämlich, dass jede Abgrenzung oder Grenzziehung und in der Folge Grenzüberschreitung im Kern dasselbe Phänomen bezeichnet, dem das Schlagwort „Grenze“ gegeben werden kann.
[6] Für Rousseau führte das Sichabgrenzen, anfangs des Menschen vom Tier in einem selbstreflexiven Prozess, zur Ungleichheit zwischen den Menschen, die er bedauert. Seine zivilisationsgeschichtliche Rekonstruktion, wie es dazu gekommen ist, macht die herrschende Ungleichheit zu einem hintergehbaren Phänomen, dem der Mensch mitnichten machtlos ausgeliefert ist. Er verbindet die Kategorie der Grenze genuin mit Machtverhältnissen, woraus negative Bedeutungskonnotationen resultieren.
[7] Wenn das Sichabgrenzen das Movens der Zivilisationsentwicklung ist und zugleich zu Machtverhältnissen führt, wird Kultur oder Zivilisation zum Ausdruck von Machtverhältnissen, das Studium einer Kultur wird zum Studium von Machtverhältnissen.
[8] Auf den ersten Blick scheint das verkürzend und womöglich überholt, da wir uns im Jahr 2017 oder 2018 befinden, und Rousseau 1754 auf dem Hintergrund eines sehr viel begrenzteren empirischen Wissens um die Entstehungsgeschichten von Zivilisationen schrieb. Auf den zweiten Blick erweist sich aber die Erklärungskraft seines Denkschemas, wenn man es konsequent auf die Kultur Europa anwendet.
[9] Jegliche Art von Abgrenzung oder Grenzziehung hat einen mindestens doppelten Effekt: den der Abgrenzung und den der Infragestellung der Abgrenzung. Zugleich schafft jegliche Grenze einen Raum um sich, der zum Begegnungs-, zum Übergangsraum oder zum Kampfraum werden kann.
[10] Was bedeutet Grenze oder Grenzziehung jeglicher Art? Zum einen handelt es sich um eine grundlegende Vorstellung, mit der die nähere und fernere Welt imaginär eingeteilt und unterteilt wird, um sie irgendwie verstehen zu können. Das ist ebenso ein individueller und subjektiver Vorgang wie es auch ein Vorgang kollektiver Konstruktion ist.
[11] Grenzen umgrenzen physisch etwas, was eine distinkte Einheit darstellt; das geht vom Garten bis zum Staat. Es handelt sich um künstliche Grenzziehungen, die nur kulturell erklärbar sind und nur als kulturelles Phänomen Sinn machen, auch dann, wenn sie die Grundlage von Politik geworden sind.
[12] „Natürliche Grenzen“ sind praktisch imaginär, sie bezeugen einen Blick auf die Natur, der gänzlich von Imaginationen und Fantasien bestimmt ist. Weder Bergketten noch Flüsse noch Meere noch Wüsten noch Urwälder noch die Erdatmosphäre haben jemals Menschen vom Vorwärtsgehen abgehalten. „Natürliche Grenzen“ gibt es nicht, es gibt nur vom Menschen gemachte, die er materialisiert hat oder die in seiner Vorstellung existieren und verhaltensbestimmend werden.
[13] Die Grenzziehung gilt auch für den Einzelnen. Ihm werden Grenzen gezogen, er oder sie zieht sich selber Grenzen – und beides wird nach Bedarf überschritten und überwunden. Grenzziehungen dienen der Identifizierung, ohne Grenzziehung keinerlei Identität.
[14] Trotzdem ist dies alles nicht naturgegeben, das ist vielleicht die wichtigste und beständigste Erkenntnis aus Rousseaus Discours. Selbst wenn die menschliche Wahrnehmung tatsächlich nicht ohne Grenzziehungen funktioniert, so sagt dies nichts über Umfang und Ausmaß und Unverrückbarkeit aus. Zumindest dies alles ist kulturell und nicht anthropolog. Kulturell ist auch, ob dem Raum, den jegliche Grenzziehung schafft, die größere Bedeutung zugemessen wird, oder der harten Abgrenzung, die Räume der Begegnung und des Übergangs reduziert, ihnen den Rücken zukehrt oder einfach eine Mauer errichtet. Das gilt immer in Bezug auf materialisierte und territoriale Grenzen, in Bezug auf psychische, in Bezug auf alle imaginierten Grenzen.
[15] Was heißt das alles mit Blick auf die Kultur Europa?
[16] Über Jahrhunderte wird die Kultur Europa von einer Dynamik immer neuer und weiterer und immer rigiderer Grenzziehungen gekennzeichnet. Dies hat einesteils mit der forschenden Wahrnehmung der Welt insgesamt und der europäischen Welt insbesondere zu tun, andernteils hat es mit der Ausweitung bzw. Bekämpfung von Macht zu tun. Seit einigen Jahrzehnten hingegen wird die Kategorie der Grenze fundamental hinterfragt, sodass zu diskutieren sein wird, ob Grenze die zentrale Funktion eines Movens der Zivilisationsentwicklung verliert. Im Moment handelt es sich häufig um ein Vortasten, gefolgt von Rückzügen und neuen Anläufen.
[17] Einige Beispiele:
[18] Das deutsche Bundesverfassungsgericht entschied am 8. November 2017, dass im Geburtsregister nicht zwingend eines von zwei Geschlechtern (männlich oder weiblich) einzutragen ist, sondern dass dies auch intersexuell oder divers sein kann. Dass der Mensch durch eine eindeutig abgrenzbare Geschlechtsidentität bestimmt würde, hat sich erst spät, in der Aufklärung, als allgemeine Geschlechtertheorie durchgesetzt. Diese Grenzziehung, die in eine bürokratisch verpflichtende Grenzziehung eingebracht wurde, wird damit infrage gestellt. Zugleich verliert die Vorstellung, dass Geschlecht so sehr Identität grundlegt, dass es immer mit ausgedrückt werden muss, an sozialer Verbindlichkeit.
[19] Die in der Aufklärung ausgefeilte Theorie von zwei Geschlechtsidentitäten schuf gesellschaftliche Machtverhältnisse, die heute unter dem Stichwort „hegemoniale Männlichkeit“ erforscht werden (Schmale, Geschichte der Männlichkeit). Die jüngste Entwicklung zeigt die Infragestellung dieser Machtverhältnisse, die auf einer strikten Abgrenzung der Geschlechter voneinander beruhten.
[20] Mit dem Schengen-Abkommen von 1985 wurde in Europa (EG/EU/Europa) eine Relativierung einer der historischsten Formen von Grenze eingeleitet, der Staatsgrenze. Diese besteht juristisch fort mit allen Implikationen, aber sie hält, von Ausnahmesituationen abgesehen, die Menschen bei ihrer Mobilität im Raum nicht mehr an. Dies findet seine Fortsetzung im Binnenmarkt, in dem auch Waren und Kapital und konkret Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht mehr angehalten werden, sondern zollfrei und frei fließen bzw. ihre Dienste anbieten können. Für alle gelten dieselben Regeln und Vorschriften, diese wechseln im Binnenmarkt nicht mehr an der Grenze bzw. enden dort nicht mehr.
[21] Schengen und Binnenmarkt beenden im Hinblick auf historische Grenzziehungsdynamiken verschiedene Epochen. Zollgrenzen reichen ins Mittealter zurück, Staats- oder Reichsgrenzen wie der Limes in die Antike, Arbeitsmigration unterlag immer wechselnden Regimen, war aber nie so freizügig wie im EU-Binnenmarkt.
[22] Auch damit werden eindeutig historische Machtverhältnisse, nämlich zwischen den Nationalstaaten untereinander, infrage gestellt und abgebaut.
[23] Rousseaus Ausgangsbeispiel war der Vorgang der Ab- und Eingrenzung, um das Eigentum an einem Stück Land zu behaupten. Eigentum zählt im Europa des 21. Jahrhunderts unverändert zu den verfassungsmäßig garantierten Grundrechten, im sozialen Verhalten treten aber signifikante Veränderungen auf: die Kultur des Teilens. Carsharing, Jobsharing usw. usf. sind bekannte Schlagworte. Die genaue Abgrenzung nach „mein“ und „dein“ wird aufgeweicht, da sie sozial unproduktiv wird.
[24] Auch das Europäische Kulturerbejahr 2018 ist unter das Stichwort „sharing heritage“ gestellt worden. Hier bezieht sich das Teilen darauf, dass das kulturelle Erbe nicht mehr national identifiziert wird, sondern seine Bedeutung in der individuellen Betrachtung erlangt. Viele Orte der Kultur erstrecken sich über mehrere Epochen und habe ihre Bedeutung jeweils gewandelt; hier findet keine isolierte Identifizierung mehr statt, sondern es werden die verschiedenen historischen Bedeutungen sichtbar gemacht. Religiöse kulturelle Orte haben oft sukzessive verschiedenen Religionen gedient [ab Abs. 35]. Tempel wurden zu Kirchen, diese zu Moscheen, und dann vielleicht wieder zur Kirche… Die Ausmerzung der früheren Bedeutungen war gängige Praxis der „Siegerreligion“, eine Machtdemonstration, die auf der vollständigen Ausgrenzung der anderen Bedeutung beruhte. Sharing Heritage hebt diese Machtfunktion der Ausgrenzung auf.
[25] Das sind nur einige Beispiele, die Ausgrenzung als staatliches, soziales oder individuelles Handeln reduzieren – jede/r mag selber weiterdenken.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Grenzen in der Kultur Europa, interpretiert im Anschluss an Rousseaus zweiten Discours von 1754. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/rousseau, Eintrag 13.12.2017 [Absatz Nr.].