[1] Nicht nur das Europa der Gegenwart sondern auch das historische Europa wurden und werden so sehr von Krisen des Europagedankens geprägt, dass sich die Frage stellt, ob nicht „Krise“ den Kern europäischer Identität ausmacht. In besonders schweren Krisen wurden in der Vergangenheit regelmäßig „Europapläne“ verfasst und diskutiert, die Auswege aus der Krise und Grundlagen für eine Nachkrisenordnung anboten.
[2] Dass sich Europa in einer ausgesprochenen Krise befindet, ist ebenso offenkundig wie es offenkundig ist, dass es keinen aktuellen „Europaplan“ gibt. Es ließe sich einwenden, dass es mehrere Organisations- und Institutionengefüge gebe, die nicht zuletzt dem Management von Krisen dienen sollen: Europäische Union, Europarat, OSZE, NATO und noch größere globale Organisationen wie die Vereinten Nationen – und dass es daher keiner „Europapläne“ mehr bedürfe.
[3] Die beiden Organisationen bzw. Institutionen, die sich auf Europa beschränken, EU und Europarat, stehen in der historischen Tradition der Europaidee, die sich darauf richtet(e), in Europa dauerhaft Frieden zu schaffen. Diese Tradition hat zwei Stränge, von denen der eine in der frühen Neuzeit zunehmend als obsolet betrachtet wurde, während der andere vor allem ab dem 18. Jahrhundert unter dem Schlagwort vom „Ewigen Frieden“ bestimmend wurde. Der ältere Strang spannte sich mit anderen Inhalten aber wieder nach 1918 bzw. 1945.
[4] Die ältesten „Europapläne“ reichen in das frühe 14. Jahrhundert zurück und appellieren an die politischen Mächte in Europa, sich zu einen und gemeinsam Kampf gegen den äußeren Feind, die „Ungläubigen“, die „Sarazenen“ oder später „die Türken“ zu führen. Darin erwies sich die mittelalterliche Kreuzzugsidee als recht lebendig. So lautet der älteste Text, der zumeist hier angeführt wird, „De Recuperatione Terrae Sanctae“ (Über die Rückeroberung des Heiligen Landes) von Pierre Dubois von ca. 1306. Dieser Ansatz hielt sich bisweilen bis ins 17. Jahrhundert, erschien dann aber nach der Eindämmung, und im weiteren Verlauf Zurückdrängung, des Osmanischen Reiches als obsolet.
[5] Die dahinter stehende Denkfigur – Europa muss einig sein, um sich gegen einen äußere Bedrohung zu verteidigen – erlebte eine Renaissance nach 1918, die auch noch in den 1950er-Jahren bestand: Es ging um die ökonomische, insbesondere aber auch kulturelle oder zivilisatorische Selbstbehauptung Europas, um die „mission civilisatrice“, die beispielsweise noch in der Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950 eindeutig erkennbar ist, die aber ‚prominent‘ mit der Paneuropa-Idee von Graf Coudenhove-Kalergi verbunden ist.
[6] Der andere Traditionsstrang beginnt im Grunde mit Erasmus von Rotterdam und seiner „Querela Pacis“ (Klagerede des Friedens) von 1517. Erasmus forderte die europäischen Machthaber auf, das Kriegführen in Europa aufzugeben, politische (‚nationale‘) Grenzen nicht andauernd durch Kriege zu verändern, da dies nutzlos und von den Auswirkungen her negativ sei. Man solle besser an die, modern gesprochen, Friedensdividende denken, also an ökonomischen und demografischen Wohlstand, der Allen nutzen würde.
[7] Vor allem mit der Schrift des Abbé de Saint-Pierre von 1713 zum Ewigen Frieden, aus Anlass des Friedenskongresses von Utrecht, wurde eine langfristig wirksame Denkfigur ausgebaut, die sich schon bei Erasmus zeigte: Frieden in Europa um des Friedens und des allgemeinen Wohlstands willen. Dieser Friedensgedanke begründete sich in Europa selbst und bedurfte keines äußeren Feindes, gegen den er sich hätte wenden müssen. Der Feind war ein innerer Feind, der Krieg in Europa, der europäische Krieg. Rousseau und Kant verliehen dieser Denkfigur zusätzliche Kraft, während der Napoleonischen Kriege gab es eine umfassende Debatte um den Ewigen Frieden.
[8] Die Widerstandsgruppen und -bewegungen im Zweiten Weltkrieg arbeiteten trotz Bedrohung von Leib und Leben intensiv an Plänen für ein friedliches, einiges und prosperierendes Nachkriegseuropa. Die Fülle an konzisen Europaplänen gibt bis heute zu denken, es war eine ideelle, moralische und intellektuelle Kraft vorhanden, die es schon seit längerem nicht mehr gibt. Im Verhältnis zu den sehr weit blickenden Zielen (z.B. gemeinsame europäische Armee, ein europäischer Staat usw.) wurde wenig davon umgesetzt, aber der positive Geist, der sich vom Kulturgedanken der Aufklärung in Bezug auf Europa als Kultur speiste, war eine Triebkraft, nach jedem getätigten Schritt einen weiteren in Richtung mehr europäische Einheit zu tun.
[9] Diese Traditionsstränge, die sich ausdifferenzieren lassen, sind im Jahre 2015 aber unnütz geworden. Nach Innen herrscht mehr Frieden als jemals in der europäischen Geschichte, obwohl dieser Frieden nicht vollkommen ist (siehe besonders Ukraine), teilweise brüchig erscheint und so rezent ist (Nachfolgestaaten Jugoslawiens), dass man bei einer dauerhaften Prognose Vorsicht walten lassen muss.
[10] Im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten existiert kein eindeutiger äußerer Feind. Zwar wird diese Denkfigur populistisch bemüht und bedient, aber sie scheitert an der Realität: Russland unter Präsident Putin ist kein Partner der europäischen Staaten mehr, aber es ist, was immer gegen die Putinsche Politik zu Recht einzuwenden ist, kein Feind Europas.
[11] Es gibt populistische, nationalkonservative und rechtsradikale Versuche, die Flüchtlinge, zum „Feind“ Europas zu machen. Hier werden alle historischen Vorurteile, Stereotypen und Klischees zusammengemischt. Im Gegensatz zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind jedoch Humanitarismus und zivilgesellschaftliches Engagement in Europa so stark, dass die Feindpropaganda nicht greift.
[12] Terrorismus ist kein äußerer Feind im traditionellen Sinne des Kriegsfeindes. Er wird von vielen unterschiedlichen Akteuren getragen, die Akteure kommen zum Teil aus den europäischen Gesellschaften selber. Die alte Denkfigur (nach Innen Frieden, Einigkeit und Einheit, um die Kräfte gegen den äußeren Feind zu bündeln) passt nicht und greift nicht.
[13] Schon solche wenige Beobachtungen bestärken den Eindruck, dass die derzeitige Situation Europas keinem aus der Geschichte bekannten Muster folgt. Hinzukommt, dass Gefahren, die aus ‚Innereuropa‘ kommen, anderer Natur als früher sind. Am eindeutigsten lässt sich der neue Nationalismus historisch einordnen, aber er entbehrt (vorerst?) der historischen nationalistischen Feindseligkeit, die im Kern gewaltbereit gewesen war.
[14] Die Eurokrise besitzt kein historisches Vorbild, die Konflikte, die dabei ausgetragen werden, haben ideologische Aspekte, sind aber auch darauf zurückzuführen, dass die schon im EWG-Vertrag angestrebte Angleichung der Lebensverhältnisse und der Lebensstandards in den Mitgliedsländern und ihren zum Teil armen Regionen nicht stattgefunden hat und dass, obwohl die Ökonomie seit dem Marshallplan für Europa, der OEEC/OECD, der EGKS, der EWG, der EG und immer noch der EU, das Hauptziel gewesen war, hier sehr viel weniger Fortschritt erreicht worden ist, als es der Fall hätte sein müssen, wenn das Ziel nicht nur auf dem Papier sondern auch praktisch als ein gemeinsames aufgefasst worden wäre.
[15] Es fällt auf, dass letztmalig mit dem Fall der Mauer und dem Abbau des Eisernen Vorhangs so etwas wie ein Europaplan entstand und umgesetzt wurde. Die Situation entsprach bekannten historischen Mustern, der Kern der Idee vom Ewigen Frieden passte noch zur Situation. Das Hauptziel lautete: mehr und so viel europäische Einheit wie umsetzbar. Die Neutaufe der EG, die mit dem Vertrag von Maastricht 1993 zur Europäischen Union wurde, die Vereinbarung einer Währungsunion und die Entwicklung einer Beitrittsperspektive für eine größere Zahl ehemals sozialistischer Länder konnten mit der tradierten Denkfigur bewältigt werden. Bis zur vollständigen Aufnahme aller europäischen Länder in die EU hat diese Denkfigur auch nicht ausgedient.
[16] Die größeren Probleme sind mit dieser aber nicht zu begreifen und nicht durchzudenken. Bedarf es eines neuen Typs von Europaplan, der auf einer neuen und zeitgerechten Denkfigur aufsetzt oder ist die Zeit von Europaplänen vorbei?
[17] Die Globalisierung – als Resultat wie auch als andauernder Prozess – könnte ein Argument gegen die Möglichkeit und Nützlichkeit von Europaplänen sein. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass die Globalisierung vielfältige Reaktionen hervorruft, sich mit kleineren und überschaubareren Einheiten zu identifizieren. Neue Nationalismen und Regionalismen greifen Platz, die, soweit es Europa betrifft, den Effekt eines Zerfallens europäischer Organisationen und Institutionen zur Folge haben könnten. Ein Europaplan hätte die Funktion, aus einer umfassenden Problemdiagnose eine oder auch mehr als eine Antwort vorzuschlagen, die praktikabel ist/sind.
[18] Was die aktuelle Situation der Weltregion angeht, zu der Europa gehört, ist der spontane Eindruck, dass bisher ‚planlos‘ verfahren wurde, wohl richtig. Denn was heißt „Plan“? Es heißt, aus einer umfassenden gemeinsamen Problemanalyse Leitlinien und Ziele für ein gemeinsames Handeln zum Wohle Aller oder möglichst Vieler zu entwickeln und dies umzusetzen versuchen. Umrisse eines Europaplanes zeichnen sich ab: Die durch das Schengen-Abkommen ermöglichte Binnenfreizügigkeit wird als europäischer Wert hochgereiht und es wird eingeräumt, dass der Erhalt dieses Wertes einen Preis hat: den wirksamen Schutz der Außengrenzen, um dem sich in Grenzzäunen und anderen Abwehrreaktionen äußernden neuen Nationalismus entgegenzuwirken, da dieser das Potenzial eines Anfangs vom Ende der EU besitzt. Das allein reicht nicht, da ein anderer hoher Wert, der Humanitarismus, nicht beschädigt werden darf. Die Außengrenze muss für Flüchtlinge passierbar und durchlässig bleiben, es darf nicht weiter geschehen dürfen, dass Menschen auf der Flucht zu Tausenden im Meer ertrinken.
[19] Ein dritter Wert – Frieden – steht als Ziel für diese Weltregion zwar außer Frage, scheint aber nicht ohne Gewalt durchsetzbar zu sein. Im Gegensatz zu den historischen Kontexten früherer Europapläne gibt es jedoch nicht den Feind, gegen den zu Felde gezogen werden soll. Die folgenreichen Irrtümer der US-Regierung unter dem zweiten Bush, die der Aktivierung dieser historischen aber funktionsuntüchtigen Denkfigur mit zu verdanken sind, sind Lehre genug. Mit dem 1995 gestarteten Barcelona-Prozess hatte es einmal so etwas wie einen Plan und eine Strategie gegeben, die Weltregion, zu der Europa gehört, stärker zusammenzuführen und den Wohlstand zu heben, der immer noch ein zentraler europäischer Wert ist, weil ein enger Zusammenhang zwischen Wohlstand, Stabilität der sozialen und politischen Ordnung sowie Frieden gesehen wird. Der Barcelona-Prozess wurde von allen Beteiligten allzu halbherzig und kurzsichtig behandelt, der ehemalige französische Präsident Sarkozy versuchte den Prozess unter dem Schlagwort einer „Union pour la Méditerranée“ einseitig zu instrumentalisieren, sodass das ganze Konzept ins Leere lief.
[20] Wenn der Barcelona-Prozess eine reale Chance beinhaltet hat, dann ist diese für lange Zeit vertan. Trotzdem ist die Grundidee, Befriedung und Friedewahrung durch sozialökonomisch wirksame Unterstützung zu erreichen, richtig und weiterhin ein Grundpfeiler eines jeden politischen Plans für diese Weltregion.
[21] Die historischen Europapläne sind allesamt mit konkreten Namen verbunden. Es waren Vordenker und Vordenkerinnen. Gibt es die noch? Die Bedingungen hierfür sind eher schlecht, auch in dieser Beziehung muss realisiert werden, dass historische Arbeitsmuster ins Leere laufen. Europa (als EU) ist auch intellektuell eine kollektive Veranstaltung. Ein Kollektiv, in dem das „Intellektuelle“ im neuen Nationalismus besteht, wird kaum zum AutorInnenkollektiv eines dringend benötigten Europaplanes avancieren.
Dokumentation:
Zur Geschichte der Europapläne: Derek Heater: Europäische Einheit – Biographie einer Idee. Übersetzt und annotiert von Wolfgang Schmale und Brigitte Leucht. Bochum: Dr. Winkler, 2005 (Herausforderungen. Historisch-politische Analysen, Band 8).
Heinz Duchhardt: Modell Europa
Winfried Böttcher (Hg.): Klassiker des europäischen Denkens. Friedens- und Europavorstellungen aus 700 Jahren europäischer Kulturgeschichte. Baden-Baden: Nomos, 2014.
Lipgens, Walter (Hg.) (1968): Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940-1945. Dokumentation. München (Schriften des Forschungsinstituts der Dt. Gesellschaft f. Auswärtige Politik; 26).
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Terror, Flüchtlinge, Ukraine: Würde ein „Europaplan“ helfen?. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/terror-fluechtlinge-ukraine-europaplan, Eintrag 18.11.2015 [Absatz Nr.].
Sehr geehrter Prof. Schmale,
vielen Dank für diesen historisch sowie aktuell gewichtigen Beitrag. Es scheint tatsächlich so, als ob Europa sich gegenwärtig (und noch weiter in die Zukunft) in einer historisch präzedenzlosen Situation neuer Struktur befindet. Hierbei kann man auch daran erinnern, dass der heutige Nukleus europäischer Integration in der EU zwar auf den Europaplänen vor 1945 und danach fußt, aber eben auch schon als Instutionalisierung regionaler Diskurse von Recht, Politik, Wirtschaft, und, ja, auch Identität, präzedenzlos ist – nämlich in der Dichte der teils supranationalen Organisation. Aber das ist ja seit langem common sense der Diskussion. Was ich an ihrem Beitrag viel spannender finde und was grundsätzlich zu diskutieren wäre, ist der Begriff und das semantische Feld von „Plan“: So wie ich das rezipiere, ist das eine moderne (oder doch auch postmodern-postkoloniale?) Diskursfigur, die auf Kontrollierbarkeit und Beherrschung vor allem der Zukunft durch einen Plan, also durch wissenschaftliche und technokratisch-technologische Prognose aufbaut. Man hat einen Plan, wenn man in die Zukunft blickt und sie durch das Bild der Kontrolle der Zukunft durch Prognose und die technologische Wahrheit bricht – soweit, so modern. Die Frage, die sich hier stellt, ist für mich diejenige, ob ein Europa“plan“ in diesem Sinne nicht genau auf der Diskursordnung vor der aktuellen Situation in Europa, auf der Lage vor Binnenfrieden, Krise, Migrationsgeschehen und Terror aufbaut? Brauchen wir ein neues Zukunftsbild Europas, das als Diskursfigur über den klassischen „Plan“ hinausgeht, das die Zukunft noch als offenen Raum im Rahmen der Weichenstellungen der Gegenwart begreift? Ist mehr „Utopie“ denn „Plan“ gefragt, im Sinne des Ausschöpfens der Möglichkeiten, die sich im Netzwerk der EU, der Globalisierung und dem noch zu schaffenden denken lassen? Das fragte ich mich.
Bitte verzeihen Sie recht herzlich, wenn ich das Bild von „Plan“ in ihrem Beitrag falsch rezipiert habe.
Beste Grüße,
Peter Pichler
Um Ihre Gedanken weiter zu spinnen: Vielleicht ist erstmals eine Situation gegeben, in der tatsächlich ein „Plan“ notwendig ist und die ‚alten‘ Theoriezugänge (mehr Europa durch spill over usw.) nicht ausreichen. Die bisherige Fokussierung auf innereuropäische Angelegenheiten reicht nicht mehr aus. Diese waren bisher mehr oder weniger durch die aufgebauten Verfahren ‚kontrollierbar‘, das gilt wohl auch für die Finanz- und Schuldenkrise. Nicht unter Kontrolle ist der neue Nationalismus, er läuft der Europaidee zuwider, und die gesamte Situation in den Nachbarregionen Europas. Die Europaidee muss weiter entwickelt werden und darf kaum in Abschottung bestehen. Ganz landläufig hätte dies planvoll zu geschehen – das neue wäre, dass Europa/EU-Europa von der Binnenfokussierung Abstand nimmt.
Ja. Das stimmt – Plan in diesem Sinne macht durchaus Sinn und entspricht dem Ausnutzen des Raums der gegebenen Möglochkeiten für Zukunftshandeln. Die Europaidee so zu modifizieren ist wichtig.
LG, Peter Pichler
Hierzu noch hochaktuell:
http://derstandard.at/2000026422657/Es-gibt-keine-einfache-Loesung