[1] Im Blog vom 19. März 2016 schrieb ich, dass die Türkei die EU brauche. Ein Jahr weiter, im April 2017, gilt das erst recht. Nach dem Referendum, das mit 51,18% knapp zugunsten des Präsidialsystems ausging, reichen die politischen Reaktionen in Europa von Abwehrreflexen bis zur Mahnung, dass die Türkei trotz allem ein unverzichtbarer Partner bleibe.
[2] Im Moment liegt weder das endgültige offizielle Wahlergebnis vor, noch der abschließende OSZE-Bericht, noch ist über eine Reihe von Abstimmungsanfechtungen endgültig entschieden (nach dem Nein der Wahlkommission geht die Beschwerde zunächst ans türkische Verfassungsgericht), allerdings rechnet niemand damit, dass nun plötzlich in der Türkei wieder die korrekte Anwendung des türkischen Rechts nach rechtsstaatlichen Prinzipien die Oberhand gewinnen würde.
[3] Die Bewerbung des zur Abstimmung gestellten Präsidialsystems durch den türkischen Präsidenten, seine Regierung und generell die AKP, war schmutzig inszeniert. Führende kurdische Oppositionspolitiker wurden inhaftiert, ebenso über 100 JournalistInnen, Zeitungen und andere Medien wurden geschlossen, sodass vor allem regimetreue Medien agierten. Der Terrorismusvorwurf wurde ungeniert so überdehnt, dass jeder damit inhaftiert werden konnte. Mit dem Argument des Putsches vom Vorjahr 2016 wurde der Ausnahmezustand mehrfach verlängert, der willkürlichen Inhaftierungen auf unbestimmte Zeit Vorschub leistet. Über 100.000 Menschen wurden entlassen, weil sie angeblich mit der Gülen-Bewegung zusammengearbeitet hätten, die der türkische Präsident zur treibenden Kraft des Putsches erklärt hat. Gegen die Kurden führt die Regierung wieder im eigenen Land Krieg. Europa wurde als undemokratisch, faschistisch, nationalsozialistisch beschimpft, der Präsident schreckte nicht einmal vor konkreten Beleidigungen europäischer PolitikerInnen zurück. Die Türkei ist im Jahre 2017 kein Rechtsstaat mehr.
[4] PolitikerInnen in Europa zeigen sich irritiert, dass das „Ja“ unter den in Europa lebenden abstimmungsberechtigten TürkInnen eine wesentlich stärkere Mehrheit (in Deutschland z.B. 63,1%) erreicht hat, als in der Türkei selbst. Sofort wird der Schluss gezogen, die Integration sei fehlgeschlagen. Dieser Schluss ist aber voreilig.
[5] Muss wirklich in Erinnerung gerufen werden, dass die Meinungsfreiheit auch für TürkInnen gilt, und zwar auch dann, wenn vermutlich die Mehrheit der EuropäerInnen eine andere Meinung (Nein zum türkischen Präsidialsystem) vertritt? Die vielen WissenschaftlerInnen, die über Einwanderung und Integration forschen, werden sich wieder einmal gefoppt fühlen, weil ihre Forschungsergebnisse keine Rolle spielen, sondern politische Reflexe ohne Rückkopplung an vorhandene Erkenntnisse ablaufen dürfen.
[6] Gemeint ist damit, dass der Zusammenhang zwischen Herkunftskultur und aufnehmender Kultur immer komplex ist und einer eigenen Dynamik unterliegt. Selbst wer zuhause verfolgt und vielleicht gefoltert wurde, bricht als anerkannter Asylant in einem europäischen Land nicht zwangsläufig den Stab über seine Heimat, denn diese ist immer mehr als das herrschende (Unterdrückungs-)Regime.
[7] Wie europäische WählerInnen es auch tun, wenn sie zu den Wahlurnen gerufen werden, haben die TürkInnen in Europa, die mit „Ja“ gestimmt haben, Gewichtungen vorgenommen. Die Leistungen Erdoğans, früher als Regierungschef, heute als Präsident, haben sie offenbar höher bewertet als die Gefahr der Errichtung einer Diktatur. Sie schätzen die Glaubwürdigkeit des Präsidenten in Bezug auf die Putsch-Verantwortlichen höher ein als „wir“ es tun. Nicht zu vergessen ist, dass z.B. in Deutschland nur rund die Hälfte der Abstimmungsberechtigten TürkInnen vom Stimmrecht Gebrauch gemacht hat. Die Ja-Sager repräsentieren mitnichten, weder in Deutschland, noch in einem anderen europäischen Land, die Mehrheit der TürkInnen, die in den Ländern leben.
[8] Das mehrheitliche Ja hat nichts mit gescheiterter Integration zu tun. Mehr damit hat zu tun, dass viele TürkInnen in Europa das Gefühl haben, weniger respektiert zu werden, als es EuropäerInnen meistens untereinander tun. Gemeint ist die für die europäischen Gesellschaften gut nachgewiesene verbreitete subkutane Fremdenfeindlichkeit, auf die AusländerInnen (auch aus dem europäischen Ausland) im Alltag treffen können. Eine ungute Erfahrung von Ablehnung aufgrund der Herkunft und/oder der Religion macht zehn gute Erfahrungen zunichte. Das geht nicht nur TürkInnen so… Erdoğan hat deren Stolz bedient, das war entscheidend. Die deutsche oder französische oder österreichische Demokratie usw. tritt den Türkinnen anders gegenüber als den eigenen StaatsbürgerInnen. Was sehr zur Integration beiträgt, ist mindestens das kommunale Wahlrecht, das ab einer gewissen Aufenthaltsdauer gewährt werden könnte.
[9] Das alles muss natürlich, wenn ein bisschen Abstand gewonnen wurde, intensiver analysiert werden, aber die europäischen Länder sollten sich stärker mit den in Europa lebenden TürkInnen befassen. Vorschnelle Schlüsse sind nicht hilfreich.
[10] Generell gilt, dass die türkische Gesellschaft im türkischen Inland sowie im Ausland gespalten ist. Im Ausland haben (weltweit) 59,1% für die Präsidialverfassung gestimmt (Zahlen nach NZZ und Anadolu Agency). In den USA, Großbritannien und der Schweiz überwog das Nein, die höchsten Ja-Werte wurden in den Niederlanden, in Österreich und in Belgien erzielt. Auch in Deutschland und Frankreich lagen die Ja-Werte bei über 60%.
[11] Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Auftrittsverbote in Europa für türkische PolitikerInnen die Ja-Sager motiviert haben. Da sich TürkInnen im Ausland überwiegend mittels der staatsnahen türkischen Presse informieren, lohnt ein Blick auf die Seite der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu Agency, die den Eindruck erweckt, dass Auftritten von PolitikerInnen, die für die Präsidialverfassung waren, häufig untersagt worden seien, während das Nein-Lager inkl. angeblichen PKK-Anhängern hätte demonstrieren und sich gut bemerkbar machen können. Anadolu Agency wählte als Überschrift über einen entsprechenden Bericht vom 19.4.2017 den folgenden Titel: „Europe banned Turkish Yes campaigners in referendum“.
[12] Der Umgang mit Auftritten türkischer PolitikerInnen fiel nicht in die Kompetenz der EU, sondern der Nationalstaaten. Maßgeblich war und ist die jeweilige nationale Rechtslage, inkl. politischer Stimmungen. Ob der Ruf, z.B. des österreichischen Bundeskanzlers, das Thema einer EU-Regelung zuzuführen, sinnvoll ist, bleibt fraglich, denn die Auftrittsverbote wären kaum erfolgt oder nötig geworden, wenn es von der türkischen Seite bei einem ‚normalen‘ Ausmaß an Polemik und Emotion geblieben wäre. Hierauf haben aber weder die EU noch die einzelnen europäischen Länder wirklich Einfluss.
[13] In der Türkei läuft derweil die Verfolgungsmaschine unter täglicher Missachtung auch türkischen Rechts weiter, die offensichtliche Spaltung der Türkei wird ebenso vorangetrieben wie die Entfremdung von Europa. Eigentlich ist nur eine Frage offen: Ab wann ist die Entfremdung und der Aufbau der Diktatur in der Türkei soweit gediehen, dass das Mantra europäischer PolitkerInnen, die Türkei sei ein notwendiger geopolitischer Partner, sich von selbst erledigt hat?
[14] Damit soll gesagt werden, dass das Mantra wohl nicht ausreicht. Ohne eine akkordierte EUropäische Türkeistrategie wird es nicht gehen. Jetzt müssten Vorschläge von der Außenbeauftragten der EU, Mogherini, kommen.
Bildquelle: Deutschlandfunk: Quelle http://www.deutschlandfunk.de/tuerkischer-wahlkampf-erdogan-sollte-in-deutschland.1818.de.html?dram:article_id=379814 (Artikel 24..2.2017, Gespräch mit Can Dündar).
Lesenswert: Osman İşçi: The History of 20th-century Human Rights Movements in Turkey. In: Wolfgang Schmale, Christopher Treiblmayr (eds.): Human Rights Leagues in Europe (1898-2016), Stuttgart 2017, S. 257-280.