Das 20. Jahrhundert ist noch nicht beendet
[1] Wiederholt haben Historiker in den letzten Monaten sich aufdrängende Parallelen mit der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen (1918-1939) benannt: Bedeutungszuwachs für die äußerst rechts stehenden Parteien in Europa, gemessen an ihren Wahlerfolgen; Radikalisierung, Verrohung, Brutalisierung der politischen Sprache; Zunahme von Äußerungen des Hasses; zunehmende Attraktivität von vermeintlichen Führerfiguren; Zunahme nationalistisch begründeter Abschottung; Zunahme der Ausgrenzung von sozialen Minderheiten, Zunahme eines aggressiven Othering, Zunahme der Berufung auf ein „christliches Abendland“, um unchristliche Verhaltensweisen zu rechtfertigen, usw. usf.
[2] Tatsächlich zeigt sich, dass die Ausrufung der Postmoderne in den 1980er-Jahren eher dem Prinzip Hoffnung entsprach, als dass der Begriff eine gewordene Realität bezeichnen würde. Autoritäre Meistererzählungen sind wieder en vogue. Was die postmoderne Gesellschaft ausmacht, die soziale Zulässigkeit unterschiedlichster Lebensformen, der Abbau von längst bedeutungsentleerten sozialen Normen etc., wird angegriffen, geschmäht, beschmutzt. Die Rationalität von Wissenschaft wird in Gestalt der Genderforschung sowie der Klimaforschung infrage gestellt und in ihrem Bestand bedroht (u.a. durch AfD, Donald Trump).
[3] Die geläufige Verwendung von „post-“ oder „nach-“ oder ‚Ende von‘, um die Gegenwart als etwas geschichtlich Neuartiges zu erkennen, hat den Blick auf die Persistenz von Phänomenen, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts charakterisierten, getrübt. Auch die rasche Aneignung von „post-faktisch“ (das Englische „post-truth“ ist ein viel treffenderes Wort) in den Medien und der Politik deckt zu, dass es hier keineswegs um eine neue Erscheinung geht. Die Rechtsparteien und Nationalisten zum Beispiel arbeiten seit den 1980er-Jahren auf immer dieselbe Weise, die nun plötzlich als „post-faktisch“ entdeckt wird.
[4] Sinnvoller wäre es sich genauer zu überlegen, was es mit dem sogenannten Rechtspopulismus, dem die post-faktische Strategie hauptsächlich zugeordnet wird, auf sich hat. Was im Deutschen meistens zurückhaltend als rechtspopulistische Partei bezeichnet wird, heißt im Französischen viel konkreter „extrême droite“. Diese Wortwahl rührt daher, dass die Konservativen bereits als „droite“ bezeichnet werden, was im Deutschen unüblich ist, da die Konservativen das „christlich“ für sich beanspruchen – inzwischen ein europäischer Anachronismus.
[5] Was also ist „extrem rechts“? Wie in der Zwischenkriegszeit tendiert der Rechtsextremismus dazu, Staat und eigene Partei und „vox populi“ in eins zu setzen. Dies lässt für die moderne Demokratie keinen Platz. Die behauptete Werteorientierung besteht de facto in Menschenfeindlichkeit. Vordergründige Zielgruppen sind Flüchtlinge, Migranten, Fremde, Ausländer, Menschen, die nicht heterosexuell orientiert sind, im Hintergrund sind erste Attacken auf Behinderte auszumachen, politisch Andersdenkende werden – meistens noch mit Worten – hemmungslos angegriffen. Am Schluss richtet sich Menschenfeindlichkeit, wenn diese die Grundlage des politischen Programms ist, gegen die, deren Stimme zu sein vorgegeben worden ist.
[6] Die Ineinssetzung von Partei und Staat hier und zusätzlich Führerverehrung dort sind die Seiten derselben Medaille. Die Möchtegernstarkenmänner EU-Europas pilgern nur allzu gerne zum russischen Präsidenten Putin (Strache aus Österreich, Orbán aus Ungarn, Seehofer aus Bayern). Zu Präsident Erdoğan pilgern sie nicht, aber was genau unterscheidet denn eigentlich Putin und Erdoğan, außer dass letzterer laut herumbrüllt, was er tut, während ersterer ein stiller Arbeiter ist, der das Lautwerden auf das Leugnen offenkundiger Tatsachen bei den von Russland geschürten Konflikten beschränkt?
[7] In der Jahresbilanz 2015 habe ich die Erosion der politischen und gesellschaftlichen Mitte thematisiert. Mittlerweile hat in Deutschland die CSU ihren Parteitag abgehalten und ein Grundsatzprogramm unter dem Titel „Die Ordnung“ verabschiedet. Ein Parteiprogramm, und sei es das Grundsatzprogramm, so zu betiteln, ist Usurpation. „Die Ordnung“ ist eigentlich ein öffentliches Gut, dessen Pflege dem Staat obliegt. Der Staat ist nach dem noch gültigen Demokratieverständnis NICHT identisch mit einer Partei. Die Sorge um die Ordnung ist NICHT nur Aufgabe der Partei mit der Mehrheit im Parlament, sie obliegt vielen, egal wer regiert. Die Programmrhetorik der CSU ist eindeutig, Platz für etwas neben der CSU ist nicht vorgesehen. Man muss sich nur das Vokabular (Leit*, stark*, fest*, einzig* etc.) und die Syntax, zum Beispiel einfache Subjekt-Prädikat-Beziehungen, genauer ansehen (wie oft ist die CSU – handelndes – Subjekt und welche Verben werden dabei für die Prädikate verwendet?).
[8] Das Beispiel der CSU bedeutet, sich in der Analyse nicht nur auf die Parteien der „extrême droite“ zu konzentrieren, sondern auch bestimmte Flügel des konservativen Parteienspektrums anzusehen. Die französische Tageszeitung „Libération“ ging in der Print-Ausgabe vom 24. November 2016 der Frage nach, wieso François Fillon die Vorwahlen zur Kür des Präsidentschaftskandidaten bei den „Les Républicains“ (im Prinzip die Nachfolgepartei der früheren Gaullisten) so eindeutig und unerwartet gewinnen konnte. Sie titelte: „Primaire – Au secours, Jésus revient!“.
[9] Die sehr genaue Analyse des Warum zeigt, wie es Fillon gelungen war, katholische Wähler*innen für sich zu gewinnen, sowie, dass diese Wähler*innengruppe ausschlaggebend sein kann. Es ist notwendig, sich die Renaissance des Christentumsbezuges in der Politik in ganz Europa genauer anzuschauen. In Österreich erinnert man sich an Strache, den Vorsitzenden der FPÖ, wie er vor einigen Jahren (2009) auf einer Wahlkampfveranstaltung mit dem Kreuz in der Hand „Abendland in Christenhand“ skandierte. Auch Herr Orbán hat dieses christliche Abendland für sich entdeckt. Und nicht ohne Grund hat sich Präsident Putin frühzeitig in der Öffentlichkeit auf die Seite der russisch-orthodoxen Kirche gestellt. Das fördert seine Attraktivität außerhalb Russlands mindestens wie innerhalb Russlands.
[10] Gegen einen friedlich praktizierten christlichen Glauben, welcher Kirche und Konfession auch immer, ist nichts einzuwenden, gegen die Benutzung des Begriffs vom christlichen Abendland als politischen Kampfbegriff, der sich gegen die Europäer*innen muslimischen Glaubens sowie Flüchtlinge/Migrant*innen muslimischen Glaubens in Europa wendet, jedoch schon. Auch in dieser Beziehung fühlt man sich fatal an die Zwischenkriegszeit erinnert. Wer diesen Begriff verwendet, sollte sich vergegenwärtigen, dass die jüngere Geschichte dieses Begriffes in seiner politischen Verwendung alles andere als unschuldig war: Rechte, Faschisten, Nazis, Kollaborateure nahmen ihn für sich in Anspruch.
[11] Wir müssen uns 2017 also genauer mit der jüngeren Geschichte Europas befassen. Zwar ‚wiederholt sich Geschichte nicht‘, aber meine These lautet, dass das 20. Jahrhundert noch nicht zu Ende ist. Die Verweise auf die Zwischenkriegszeit fallen daher nicht unter ‚sich wiederholende Geschichte‘. Diese Geschichte, die aufgrund der vielen post-Wörter zu Ende zu sein schien, ist nicht zu Ende. Daher müssen die zahllosen Diagnosen eines Post-Zustandes überprüft werden: wie treffend sind diese denn eigentlich? Vermutlich zeigen sie eher Optionen an, die teilweise praktiziert werden, aber noch nicht Teil einer nachwirkenden Geschichte sind.
[12] Etwas fällt immer wieder auf und könnte einen in die Resignation treiben: In der Zwischenkriegszeit gab es zahlreiche NGOs, zum Teil mit sechsstelligen Mitgliederzahlen, die den Aufstieg der Diktaturen in Europa und deren Verbrechen genau beobachteten und dokumentierten sowie ihre Erkenntnisse der Öffentlichkeit zugänglich machten. All das Schlimme, was bereits zwischen den beiden Weltkriegen passierte, war bekannt – und es geschah trotzdem, zivilgesellschaftliches Engagement konnte nur das Wenigste verhindern.
Europa 2017
[13] Fast scheint es müßig, eine EU-Zustandsanalyse liefern zu wollen. Die von 2015 oder aus den Blogeinträgen unter dem Jahr 2016 ließen sich wiederholen. Dies kann ein Anlass sein, sich grundsätzlichen Gedanken zu widmen.
[14] Dazu zählt die Frage der europäischen Kultur. An dieser findet seit geraumer Zeit keine gemeinsame Arbeit mehr statt. Vom Ersten Weltkrieg bis in die 1960er-Jahre fanden große Kultur- bzw. Zivilisationsdebatten statt, die außerdem nicht nur europäisch ausgerichtet waren. Kulturdebatten – nicht im Sinne des verkürzten Feuilleton-Kulturbegriffs – sind Arbeit an der Kultur. Die Kontroversen, die zu solchen Debatten gehören, legen Trennendes und Gemeinsames frei.
[15] Zu den Debatten zählte die Frage, was den Europäer ausmacht (bis in die 1960er-Jahre wurde fast ausschließlich die maskuline Form verwendet). Stellt man diese Frage heute, möchte man eine sehr pessimistische Antwort geben. Die Beschäftigung mit sich selbst ist der Europäer*innen liebste Betätigung, mag die geografische und historische Nachbarschaft des Nahen Ostens und Nordafrikas sowie des östlichen Osteuropas (z.B. Ukraine) noch so sehr an ökonomischen, kriegerischen, terroristischen und sozialen Problemen leiden. Die Beschäftigung mit sich selbst hat einen nationalistischen Kern, sodass auch den europäischen Nachbarn gegenüber keine Solidarität geübt wird.
[16] Auf alles wird mit Abschottung und Stigmatisierung reagiert. Das lässt auf eine schwach ausgebildete Persönlichkeit und wenig Selbstvertrauen schließen. Starkwortrhetorik findet immer mehr Anhänger*innen und Akteur*innen, was eben diese Schwächen kennzeichnet. Wer in sich ruht, braucht keine Starkwortrhetorik und bleibt offen, reagiert mit Augenmaß, schaut um sich, denkt in längeren Zeiträumen.
[17] Die negativen Feststellungen treffen aber nicht auf alle Europäer*innen zu, vielleicht nur auf 30 oder 40%. Aber diese umfängliche Minderheit reicht aus, um Europa zu blockieren. Bis 2018 könnte daraus eine Mehrheit werden. Das wird sehr vom Ausgang der Präsidentschaftswahlen in Frankreich abhängen.
[18] Die Linke in Frankreich ist gespalten und verteilt sich auf mehrere Orientierungen, von denen jede mit einem eigenen Kandidaten antreten wird. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Stichwahl zwischen Fillon und Marine Le Pen stattfindet. Möglicherweise wählen dann auch linke Wähler*innen wieder rational, indem sie Fillon als das aus ihrer Sicht kleinere Übel wählen, um Le Pen zu verhindern, aber angesichts dessen neoliberalen Programms könnte es auch eine hohe Zahl an linken Nichtwähler*innen geben, die Le Pen zugutekommt. Würde Fillon gewählt, wird sein Programm zu sozialen Konflikten führen. Das kann sich auf die Länder auswirken, die solche Programme satt haben und wo Bewegungen wie Podemos in Spanien wieder attraktiver würden. Ähnliches gilt für Portugal, Italien und Griechenland.
[19] In mehreren EU-Ländern könnte es vorzeitig zu Neuwahlen kommen: Griechenland, Italien, Spanien, Österreich. In Deutschland und den Niederlanden, wo regulär 2017 gewählt wird, ist mit einer prozentualen Zunahme der „extrême droite“ (im Sinne des französischen Wortgebrauchs) zu rechnen. Außerdem werden die Brexit-Verhandlungen beginnen; es wird eine Phase der Ungewissheit geben, was sich auf die Mobilitätsströme innerhalb der EU auswirken kann.
[20] Vielleicht bringt 2017 den Bruch zwischen der Türkei und der EU. Ob das die Flüchtlingssituation für Europa verändert, ist schwer vorherzusagen, das wahrscheinlichste ist eine Zunahme türkischer Asylsuchender/Flüchtlinge.
[21] Die sich abzeichnende Nahost-Politik von Donald Trump kann über kurz oder lang zu neuen Konflikten bzw. Konfliktverlagerungen führen. Ist die EU, sind die EU-Länder darauf vorbereitet oder dreht man sich wieder einfach um und schaut woanders hin?
[22] Der Terror wird bleiben, und trotzdem wird die europäische Zusammenarbeit zur Terrorbekämpfung wie in den Vorjahren nicht entscheidend vorankommen. Lieber hält man an der Tradition des gegenseitigen Misstrauens und der gegenseitigen Spionage fest, statt sich gegenseitig aus den jeweiligen Erfahrungen heraus zu trainieren.
[23] Und damit stehen wir wieder bei der Kulturdebatte: Eine europäische Kultur im Singular mag es vielleicht einmal gegeben haben, aber heute ist sie auf erschreckende Weise national zersplittert. Das hat nichts mehr mit der oft zitierten europäischen Vielfalt zu tun. Hier muss das Umdenken ansetzen.
[24] Sollte 2017 Marine Le Pen in Frankreich Präsidentin werden, wird sie eine Volksabstimmung über die Frage ansetzen, ob ein Austritt Frankreichs aus der EU Regierungsprogramm sein soll. In dem Moment werden sich die Länder, die am Wert der Union als Ergebnis von annähernd 70 Jahren europäischer Integrationspolitik festhalten, zu einer gemeinsamen Strategie entscheiden müssen.
Dokumentation: Coverbild: Screenshot von: http://www.politico.eu/article/front-national-marine-le-pens-post-brexit-hangover-referendum/ (29.12.2016)
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europa 2016 – eine Bilanz. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europa-2016-bilanz, Eintrag 29.12.2016 [Absatz Nr.].