[1] Digitale Medien erlauben eine große Vielfalt, einen ausgesprochenen Ideenreichtum und viel Kreativität, wenn es darum geht, an etwas teilzuhaben, eine ‚Gemeinde‘ zu bilden, die physische und digitale Aktivitäten miteinander kombiniert – und vieles mehr. Diese Medien erlauben eine aktive Aneignung z. B. von kulturellem Erbe, auch dann, wenn ich zunächst einmal nur Betrachterin oder Betrachter, Besucherin oder Besucher bin.
[2] Hinsichtlich Benutzbarkeit sind digitale Medien meistens niederschwellig, sie erleichtern gemeinsames Tun und tragen ohne besonderen Aufwand dazu bei, dass das gemeinsame Tun sogar weiterreichende Effekte haben kann.
[3] Das sind banale Feststellungen. Dennoch: Werden diese Eigenschaften konsequent in Bezug auf kulturelles Erbe genutzt, wird ein Erfahrungsraum geschaffen, der es Menschen mit und ohne fachliche oder sachliche Vorbildung ermöglicht, vergleichsweise intensive Beziehungen, in denen sich Wissen und Emotion verbindet, zwischen kulturellem Erbe und sich selber aufzubauen. Zugleich lassen sich damit spielerische Gestaltungselemente verbinden, die wiederum Menschen, die sich sonst vielleicht weniger mit kulturellem Erbe befassen, ansprechen können.
[4] Es ist ein geflügeltes Wort geworden, dass „digitale Daten der Rohstoff der Zukunft sind“. Dem möchte ich gerne zur Seite stellen, dass auch kulturelles Erbe zu den Rohstoffen der Zukunft zählt. Beides überschneidet sich ohnehin, da die Digitalisierung des kulturellen Erbes schnell voranschreitet und aus den digitalen Kulturerbedaten jede und jeder Nutzen ziehen kann.
[5] Dass die Verwertung des kulturellen Erbes ökonomisch immer mehr ins Gewicht fällt, ist nicht Thema meines Inputs und soll daher nur festgestellt werden. Rund um das kulturelle Erbe entstehen weitere Wertschöpfungen, die mit Lebensqualität zu tun haben. Letztere ist nicht nur eine Frage wirtschaftlichen Wohlstands, sondern betrifft auch, inwieweit man sich in der Umwelt aufgehoben fühlen kann. Dabei spielt das kulturelle Erbe inzwischen eine wichtige Rolle, weil es Teil dessen ist, was die Welt lebenswert macht und weil es Zugänge in andere Räume, also andere Länder oder Kulturen ermöglicht. Der Kontakt mit kulturellem Erbe ist längst ein Türöffner geworden, der mich sowohl meine lokale Umgebung wie ein anderes Land neu entdecken lässt. Der Kontakt mit kulturellem Erbe eignet sich bestens als Brücke für neue soziale Beziehungen, Freundschaften und Verbundenheiten. Das funktioniert auf jeder Ebene vom Lokalen bis zum Globalen.
[6] Welcher Art auch immer die Aktivität ist, ob man nur staunen möchte, sich überwältigen lassen möchte, oder selber die Kelle in die Hand nehmen möchte, Kulturerbeaktivitäten tragen zur Entwicklung humaner Qualitäten bei.
[7] Das wird durch digitale Medien unterstützt, weil sie Dinge unabhängig von physischen Räumen sichtbar machen können und weil ihre Nutzung immer Teil einer sozialen Aktivität ist.
[8] Partizipation und Teilen, in Bezug auf kulturelles Erbe, beginnt mit einfachen und im Reich der digitalen Medien gewissermaßen längst klassischen Methoden. Dazu zählt so etwas wie die Webseite <sharingheritage.de>, die die Vielfalt von Kulturerbeaktivitäten im Kulturerbejahr ausweist. Wenn ich selber an solchen Aktivitäten beteiligt bin, bildet die Seite die virtuelle Gemeinschaft der Kulturerbeaktivist*innen ab, und zwar besser als jedes andere Medium, das immer an eine bestimmte Zeit und an einen physischen Ort gebunden ist.
[9] Ich realisiere, dass ich Teil eines „Wir sind viele!“ bin. Und wenn ich die Seite nur aufrufe, um einmal zu schauen, was es gibt, merke ich: „Es sind viele“, und zwar nicht nur in Deutschland, denn viele Projekte sind, obgleich es sich um die deutsche Sharingheritage-Seite handelt, transnational angelegt.
[10] Digitale Medien bringen das kulturelle Erbe in den Alltag. Das kann beiläufig geschehen oder organisiert. Das Beiläufige kann ein Klicken auf das Like-Symbol in den Sozialen Medien sein, es kann ein eigener Tweet sein. Das Beiläufige soll nicht unterschätzt werden, es trägt zur Präsenz von Aspekten – wie kulturelles Erbe – bei, die früher eines speziellen Aufwands bedurft hätten und wahrscheinlich sozial selektiv gewesen wären. Es ergeben sich Anknüpfungspunkte, die bei irgendeiner anderen Gelegenheit aktiviert werden und dann vielleicht mehr Bedeutung erhalten. Beiläufigkeit führt dazu, dass uns viele Dinge im Grunde schon einmal, und sei es digital virtuell, untergekommen sind und wir etwas abrufen können. Die Masse verfügbarer Informationen steigt an, und damit steigt der Anteil zunächst nur beiläufiger Informationen. Es ist wichtig, dass Informationen aus dem Bereich Kulturerbe Eingang in den beiläufigen Informationsfluss finden.
[11] Darüber hinaus lassen sich mithilfe digitaler Medien unterschiedlichste Stufen oder Intensitätsgrade von Teilhaben oder Tun realisieren.
[12] Schon länger gibt es Partizipationsprojekte, die unter dem Dachbegriff des Crowdsourcing zusammengefasst werden können. Über eine interaktive Webseite finden sich einige oder auch viele Interessierte zu einem Kulturerbethema zusammen und tragen zu dessen Aufbereitung und Ausarbeitung bei.
[13] Crowdsourcing nutzt z. B. den Umstand, dass in vielen Familien mehr oder weniger weit zurückreichende fotografische und oft auch autobiografische Dokumente vorhanden sind, die sich z. B. für die Rekonstruktion der Entwicklung lokaler urbaner oder dörflicher Räume nutzen lassen. Es kann sich um eigene Fotos handeln oder ältere Ansichtskarten oder anderes. In Historypin-Projekten wird solches Material genutzt, um virtuell in eine Straßenansicht von heute mittels älterer Fotos oder Ansichtskarten einen früheren Stand urbaner Entwicklung einzuspielen. Das heißt, dass zwei oder noch mehr Zeitebenen vergegenwärtigt werden können, die meinem lebensweltlichen Bezug zur Straße, dem Viertel oder der Örtlichkeit, wo ich wohne, eine gewisse historische Tiefendimension hinzufügen.
[14] Crowdsourcing nutzt aber auch Kompetenzen, die Menschen besitzen, die sich untereinander nicht unbedingt kennen, die verstreut leben, die sich aber für ein Kulturerbethema begeistern können oder sich zumindest dafür interessieren. So können mittels Crowdsourcing, wiederum über eine interaktive Webseite, Transkriptionen von handschriftlichen Dokumenten wie Briefen, deren Zahl die Möglichkeiten einer Einzelperson übersteigt, angefertigt und open access zur Verfügung gestellt werden. Oft sind es die Alltagsdimensionen des kulturellen Erbes, die auf diese Weise zum Vorschein gebracht werden.
[15] Spezielle Kompetenzen entstehen im Zusammenhang mit dieser oder jener Sammelleidenschaft. Crowdsourcing nutzt diese Spezialisierungen, die sich auf ein sonst nicht vorhandenes oder verlorenes Sachwissen beziehen. Es gibt nichts, was nicht von irgendjemand bzw. meistens mehreren gesammelt würde. Diesbezügliche translokale Gemeinschaften wurden schon vor der Entwicklung digitaler Medien gebildet, aber letztere ermöglichen die Einspeisung in eine weitere Öffentlichkeit.
[16] Sammelleidenschaften werden gelegentlich belächelt, von denen, die nicht sammeln, aber man muss sich im Klaren sein, dass vieles aus der Alltagskultur, die genauso Teil des kulturellen Erbes ist wie die Trajansäule in Rom, Notre Dame in Paris oder die „Nachtwache“ von Rembrandt in Amsterdam, erst über solche privaten Sammelinitiativen umfassend dokumentiert wird und unser kulturelles Erbe vervollständigt.
[17] Man braucht nur einmal das Suchwort „Kronkorkensammlung“ einzugeben: Jemand hat vor vierzehn Jahren mit dem Sammeln begonnen und zeigt nun rund 30.000 Kronkorken aus 173 Ländern. Ein Gästebuch, das natürlich für Vernetzungen interessant ist, wurde vom Sammler nach einigen Jahren wegen zu viel Spam wieder geschlossen. Dafür gibt es eine Liste der Tauschpartner und der Link zu einer Tauschpartnerseite. Ruck Zuck findet man sich in einem globalen Netzwerk.
[18] In der Regel handelt es sich um Egonetzwerke, das heißt, ein Sammler oder eine Sammlerin präsentiert die eigene Sammlung mit Fotos und Beschriftungen, bietet Tausch- und Kontaktmöglichkeiten an, macht eine Liste mit Links etc. Der Grad der Interaktivität der Seite selber ist somit begrenzt, aber sie eröffnet den Blick in ein globales Netzwerk.
[19] Man kann beliebig nach Sammlungen recherchieren: Jemand sammelt Gummihandschuhe, jemand Schnürsenkel, jemand Weihnachtspapier – ganz zu schweigen von den Klassikern wie Briefmarken, Münzen, Erotika oder Auto- bzw. Eisenbahnmodellen – usw. usf. Manchmal gehen Sammlungen aus einer ehemaligen Produktionsstätte hervor und gelangen in Museen. So wurde eine Sammlung sowjetischer Unterwäsche mehrfach in Museen gezeigt, 2001 in Moskau und Krasnojarsk, 2003 im Wiener Volkskundemuseum.
[20] Solche in Ausstellungen gezeigten Sammlungen haben längst, nachdem die Ausstellung beendet ist, ein digitales Nachleben, prinzipiell also ein ewiges virtuelles Leben durch die archivierten Webseiten der Museen oder Ausstellungsstätten, Zeitungsartikel, womöglich Leser*innenkommentare etc. Digitale Medien schaffen eine Verfügbarkeit und Abrufbarkeit – vielleicht nicht der ganzen Sammlung und Ausstellung, aber gewisser wesentlicher Informationen – unabhängig von Ort und Zeit. Die Informationen können beliebig eingebunden werden in andere Kontexte des kulturellen Erbes.
[21] Aber zurück zu Gemeinschaftsaktivitäten. Als Beispiel nehme ich Twitter, wobei die Methoden im Prinzip auch in anderen Sozialen Medien eingesetzt werden können. Die thematische Zusammengehörigkeit von Tweets wird durch immer denselben Hashtag – z. B. #meineuropa bzw. #myeurope bzw. #moneurope etc. – hergestellt und ausgewiesen. Im Prinzip kann man auch einen entsprechenden Account herstellen, z. B. @meineuropa und sich in den Tweets darauf beziehen. Beides lässt sich kombinieren.
[22] Mit einem einzigen Tweet lassen sich außer dem kurzen Text auch Bilder, Videos, Links verbreiten, dazu können auch mehrere Hashtags und Accounts kommen. Man kann den Tweet liken, retweeten, antworten/reagieren und schließlich individuell an den Absender oder die Absenderin eine Direktnachricht schicken, die nicht öffentlich einsehbar ist.
[23] Diese Form des Microbloggings kann man beliebig kurz oder lang, systematisch oder unsystematisch zu einem bestimmten Hashtag mit einem Kulturerbethema betreiben. Institutionen wie Archive, Museen etc. nutzen dies ebenso wie Individuen, um sich thematisch zu vernetzen und mit leicht verarbeitbaren Informationen zu versorgen, auf dem Laufenden zu halten oder zu unterhalten.
[24] Dabei haben sich spezielle Muster entwickelt wie z. B. „twhistory“ (aus: Twitter + History), wo bestimmte Themen aus der Geschichte, mithin aus dem kulturellen Erbe, in einer völlig offenen Community verhandelt werden. Dies geht bis zum Nachspielen (reenactement) von Geschichte auf der Grundlage tatsächlicher historischer Quellen (z.T. auch als #reentweetment bezeichnet).[1]
[25] So könnte man die Entstehung eines Denkmals nachspielen, wenn genug Quellen vorhanden sind und diese von den Teilnehmer*innen ausfindig gemacht wurden. Man kann das dann im Prinzip genau zu den Daten und ggf. sogar Uhrzeiten, nur eben um Jahre versetzt, nachspielen.
[26] Damit sind wir zum Abschluss in die Sphäre der hohen Kunst des Teilhabens und Teilens mittels digitaler sozialer Medien gelangt.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert): Wolfgang Schmale: Digitale Medien für Kulturerbeprojekte. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/digitale-Medien-uer-Kulturerbeprojekte, Eintrag 17.06.2018 [Absatz Nr.].
[1] Bei #twhistory oder #reentweetment trifft man u.a. auf Maddalena Vrhovec (@MadVrh), die sich damit auch in ihrer Master-Arbeit befasst: „Geschichtsdarstellung 2.0: Die Reinszenierung historischer Ereignisse mittels Twitter“ (Universität Wien, Juni 2018).