Am zweiten Jahrestag des Krieges der Russischen Föderation gegen die Ukraine sind die Kampfhandlungen nicht weniger intensiv, sondern intensiver als zuvor. Jeden Tag sterben in der Ukraine Zivilist*innen und Soldat*innen in großer Zahl, die psychischen Schäden und die materiellen Zerstörungen sind wohl immens. Die Ukraine ist derzeit militärisch in der Defensive und sie hat ein Mobilisierungsproblem. Zusätzlich zeichnet sich ein demografisches Problem bereits in der nahen Zukunft ab. Die einzelnen Regionen sind unterschiedlich vom Krieg betroffen, nach wie vor fliehen mehr Ukrainer*innen in andere europäische Länder als zurückkommen. Dennoch ist das Land moralisch stabil, stellt sich mit großer Intelligenz den Herausforderungen und führt Reformen durch, um eher früher als später der EU beitreten zu können.
Niemand kann sagen, wie lange die bisher bewiesene mentale Stärke und Fähigkeit zur Ausdauer wird anhalten können. In der Russischen Föderation herrscht inzwischen blanker Staatsterror, der Zwangs- und Tötungsapparat arbeitet auf Hochtouren, Menschen und Menschenleben zählen überhaupt nichts mehr. Eine Infragestellung des Krieges durch Widerstand von Innen scheint damit auf längere Zeit ausgeschlossen worden zu sein, auch wenn hinter der Fassade der Macht in Moskau weniger Einigkeit herrschen dürfte als nach außen demonstriert wird. Da aber offensichtlich der größere Teil der Bevölkerung den Krieg für gerechtfertigt hält, eröffnen sich dem trotz allem noch vorhandenen Widerstand gegen das Regime von Putin wenig Erfolgsoptionen. Der Krieg wird dauern.
Hat sich die EU strategisch auf diese Situation inzwischen eingestellt? Die Bereitschaft, mehr in die Verteidigung zu investieren, ist gestiegen, der Wille, die Ukraine mit mehr Munition und Waffen zu versorgen, ist da, ebenso der Wille, die EU mehr als bisher auch zur Verteidigungsgemeinschaft auszubauen. Nachdem Forderungen nach einer europäischen Armee im Rahmen der Überlegungen zur europäischen Einigung seit mindestens 100 Jahren auf dem Tisch liegen, sind die Fortschritte diesbezüglich nach wie vor klein. Alles braucht viele Jahre Zeit. Ob diese tatsächlich vorhanden ist, weiß niemand in der Politik so genau.
Man kann einwenden, dass die NATO die traditionsreiche Idee einer europäischen Armee obsolet gemacht habe, aber die Abhängigkeit vom US-amerikanischen Schutzschirm, die damit verbunden ist, könnte sich noch dieses Jahr als fatal erweisen, je nach Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen.
Die langjährigen russischen Bemühungen, durch Falschmeldungen, Einmischungen, klassische Propaganda, Manipulation Sozialer Medien, Cyberattacken etc. „den Westen“ zu destabilisieren, waren zum Glück unterm Strich nicht sehr erfolgreich – wohl aber in konkreten Einzelfällen – aber die EU muss sich darauf einstellen, dass das Regime in Moskau zu härteren, ggf. militärischen Provokationen übergeht.
Mit einer Re-Europäisierung der Russischen Föderation nach dem Ende des Krieges gegen die Ukraine muss niemand rechnen, zu sehr lässt sich das Regime mit China, Nordkorea, dem Iran und anderen Regimen, denen Menschen egal sind, ein, um „den Westen“ aus seinen nach wie vor zahlreichen Schlüsselpositionen zu vertreiben.
Nicht nur der kulturelle Graben zwischen der Ukraine und speziell Russland (was weniger ist als die Föderation) wird breiter und tiefer, sondern auch zwischen Europa und Russland. Die historisch interessante und fruchtbare Frage, inwieweit Russland Europa sei, hat sich erübrigt, sie muss nicht mehr gestellt werden. Die Antwort lautet eindeutig „nein“.
Angesichts dieser Situation sind die Versuche, auf die USA und besonders die Republikaner Druck auszuüben, um die Blockade der Hilfen für die Ukraine, die Präsident Biden geplant hat, und das schädliche abfällige Gerede über die Nato-Partnerländer in Europa zu beenden, viel zu gering und zaghaft. Das kontrastiert mit dem starken Bewusstsein, dass die europäische Demokratie nicht nur zu verteidigen ist, sondern verteidigenswert ist. Der Blick nach innen auf die Probleme in Europa ist geübt und routiniert, eine Anpassung daran, dass es gilt, aggressiver Machtpolitik, die sich eines Krieges bedient, strategisch entgegenzutreten, ist mühsam und zaghaft. Noch immer hält man sich damit auf, sich gegenseitig wegen der Berechnung der Ukraine-Hilfen falsche Rechenmethoden vorzuwerfen, obwohl doch klar ist, dass alles bisher nicht reicht. Es ist befremdlich, dass in der gegebenen Situation die üblichen EU-familiären Hänseleien fortgesetzt werden.
Noch ist die Bewährungsprobe, nicht nach einem Krieg, dem Zweiten Weltkrieg, sondern in einer Kriegssituation europäische Einheit zu praktizieren, nicht bestanden. Der Zweck von „europäischer Einheit“ ist nicht mehr, wie nach dem Zweiten Weltkrieg, die Länder friedlich zusammenzubringen – das ist durchaus gelungen -, sondern die Einheit als Instrument der Behauptung aller zusammen in einer ziemlich veränderten Welt zu benutzen.