[1] Die Covid-19 Pandemie hat den Rhythmus des ganzen Jahres bestimmt. Dies wird auch mindestens 2021 so bleiben.
[2] Keinesfalls nur wegen Covid-19 sind viele neuralgische Aspekte des Digitalen Zeitalters ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.
[3] Für die künftige Geschichte der Demokratie wird sich 2020 ebenfalls als entscheidendes Jahr erweisen (Covid-19 und Grundrechte; Polen und Ungarn; Belarus; Hongkong; USA).
[4] Für die EU war 2020 ein Jahr, wo sich teilweise versteckte, aber auch weniger versteckte gestalterische Stärken gezeigt haben, zugleich hat sich erneut bestätigt, dass sie in internationalen Konflikten, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft abspielen, nach wie vor keine befriedende und gestaltende Rolle einnehmen kann.
I Covid-19 Wahrheiten
[5] Die Pandemie hat die vernetzten Abhängigkeiten in unserer Lebenswelt zum Vorschein gebracht. Sie hat freigelegt, wie wenig selbstverständlich der sonst als normal empfundene Alltag ist. Zuerst standen die globalen Lieferketten im Fokus der Aufmerksamkeit. Obwohl diese zum Teil Jahrzehnte lang flüssig funktioniert hatten, wurden sie jetzt wegen einiger Störungen bei der Versorgung infrage gestellt und die zweifellos vorhandenen Abhängigkeiten negativ bewertet wie im Fall der Mund- und Nasenschutzmasken und allgemein von Medikamenten. Störungen im Zulieferungsbetrieb haben die Frage aufgeworfen, ob nicht wieder sehr viel mehr Produkte komplett in Europa gefertigt werden müssten, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
[6] Dahinter steht ein anderes Problem: Niemand außerhalb von Wissenschaften und Gesundheitsexpert*innen mochte sich ‚in ruhigen Zeiten‘ mit der Frage der Pandemie-Vorsorge gründlich befassen. In Bezug auf Vorräte an Erdöl und Erdgas bestand eine solche Blindheit nicht. Warum in Bezug auf Pandemie-Vorsorge? Und man muss wohl hinzufügen: Warum wird kaum Vorsorge vor den Folgen des rapiden Klimawandels getroffen?
[7] Wir Zeitgenoss*innen müssen uns mehr mit wahrscheinlichen Beeinträchtigungen unseres Lebens auseinandersetzen und weniger Augenmerk auf Konsum und Annehmlichkeiten aller Art richten. Vor allem geht es um die Beantwortung der Frage, wie wir Mobilität, Flüssigkeit des Alltags und Verflechtungsketten erhalten können – trotz Pandemien, trotz Klimawandel. Würde das alles nachhaltig beschädigt, würde es schnell zu sozialen Unruhen und rapide zunehmender Gewalt in der Gesellschaft führen, weil der Wohlstand merklich abnehmen und Ungleichheiten noch weiter zunehmen würden.
[8] Auf der menschlichen Ebene hat die phasenweise Beschränkung der sozialen Kontakte deren Wert in manchmal ganz neuem Licht gezeigt. Dass das Alltägliche und Selbstverständliche nicht mehr alltäglich und selbstverständlich war, hat erhellt, wie prekär in Wirklichkeit vieles ist, was normalerweise so läuft, wie es läuft.
[9] Der schnell in den öffentlichen Diskurs geschleuderte und exklusiv gemeinte Begriff der „Systemrelevanz“ drängt eine ganz andere Erkenntnis in den Hintergrund, dass nämlich die Verflechtungsketten und daraus folgenden Vernetzungen (was hier nicht digital gemeint ist) im Ergebnis dazu führen, dass beinahe alles systemrelevant ist. Sobald in die, sich ganz offensichtlich sehr viel mehr, als es die tägliche Gesetzesflut erwarten lässt, selbstorganisierende Alltagswelt eingegriffen wird, um die Ausbreitung des Sars-CoV-2 Virus zu verlangsamen, verlagern sich Aktivitäten, wird der Ausfall von Verhaltens- und Handlungsoptionen durch andere kompensiert, die dann wieder untersagt werden, usw.
[10] Der Begriff der Systemrelevanz hat einigen Berufsgruppen – in den Krankenhäusern, bei den rettungsdiensten, in den Supermärkten etc. – öffentliche Anerkennung gebracht, die sie verdienen. Aber braucht es erst ein Wort, das die Welt in systemrelevant und nicht systemrelevant teilt, um den Menschen, die ihren Berufen nachgehen, Respekt und Anerkennung zu zollen? Braucht es eine Pandemie, um zu erkennen, dass Mitarbeiter*innen in Supermärkten Respekt verdienen?
[11] Anders ausgedrückt: Die Pandemie hat die alltäglich gewordene Verächtlichkeit, mit der viele vielen begegnen, offen gelegt. Die ist jederzeit auch anderswo zu spüren, wenn Schaulustige bei Unfällen die Rettungskräfte behindern, mit dem Handy filmen und aggressiv werden, wenn sie Platz machen sollen. Am Ende sind alle auf alle angewiesen. Der Gemeinsinn sollte gestärkt werden, nicht der Nationalismus.
[12] Dass Kultur (im engeren Wortsinn von Theater, Musik usw.) genauso systemrelevant wie anderes ist, hat die Pandemie öffentlich gemacht. Wieviel Positives Kinder und Jugendliche den Schulen abgewinnen, hat wohl manchen erstaunt; deren Schließung wegen der Pandemie hat die positiven Einschätzungen deutlich zutage gefördert.
[13] Die Pandemie hat viel positive Energie freigesetzt, aber sie hat auch viele hässliche Seiten zum Vorschein gebracht.
[14] In den europäischen Ländern hat sich im Grunde ein Konsens eingestellt, dass alles getan werden muss, um nicht die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens, konkreter der Krankenhäuser, zu sprengen, weil dies zu noch sehr viel mehr Toten führt als es ohnehin der Fall ist. Es wird um jedes von Sars-CoV-2 bedrohte Leben gekämpft, und dies ist letztlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, zu der jede*r durch angepasstes Verhalten beitragen kann, soll und muss.
[15] Nachdem dieser Umstand fast das ganze Jahr über den Kern der Pandemie-Nachrichten ausgemacht hat, sollte nun ein Erfahrungs- und Wissenstransfer angeschoben werden, weil die Verantwortung für das Leben der oder des Anderen immer besteht. Die in Nachrichtensendungen, Zeitungen und anderen Medien veröffentlichten Statistiken zu Sterblichkeit und Übersterblichkeit wegen Covid-19 zogen weitere Informationen nach sich – etwa über die hohe Zahl von Todesfällen, die Jahr für Jahr auf die permanente Feinstaubbelastung der Luft zurückzuführen ist. Zu der wiederum trägt jede*r bei, das heißt, jede*r kann seinen/ihren Anteil auch reduzieren Das ist nur ein einziges Beispiel.
[16] Die Pandemie war nicht zu verhindern gewesen, also ist es gut zu schauen, was dabei gelernt werden kann. Eines wäre, dass das Bewusstsein für die Existenz eines moralischen Imperativs gestärkt wird, demzufolge ich mein eigenes Handeln daraufhin prüfen muss, welche, am Ende der Verflechtungskette, mittelbare tödliche Auswirkung es für andere haben kann. So habe nicht nur ich ein Menschenrecht auf gesundheitliches Wohlergehen, sondern alle anderen auch. Dass sie es praktisch wahrnehmen können, hängt von jede*m ab.
[17] Alles in allem hat keine Regierung in Europa überzeugt. Natürlich ist das schwer, wenn viele Erfahrungen erstmals (seit langer Zeit) gemacht werden müssen und vieles unberechenbar bleibt. Man muss sich trotzdem mit einigen Aspekten kritisch auseinandersetzen. So wurde etwa den Familien mirnichts dirnichts der Schwarze Peter zugeschoben: Telearbeit von Zuhause aus, ggf. Kind(er) im Distance learning ebenfalls zuhause, alles ohne Vorbereitung; pflegende Angehörige allein gelassen, wenig Hilfe bei psychischen Belastungen aufgrund der Reduktion auf die eigenen vier Wände – die Aufzählung könnte sehr lang ausfallen. Mit zum Teil rechtswidrigen Ordnungsstrafen waren die zuständigen Behörden hingegen schnell bei der Hand. Da stimmt die Balance nicht.
[18] Die Pandemie hat erwiesen, dass das, was Parteien und bestimmte Politiker*innen jahrenlang als Familienpolitik angepriesen haben, sosehr an der Entwicklung der Lebenswelt vorbeiging und von intellektuellen Versäumnissen (offensichtlich überholte romantische Familienfantasien) geprägt wurde, dass die Frage nach konkreter Verantwortung zu stellen ist. Ein Stichwort dazu lautet „Digitaler Humanismus“.
[s. auch Corona, die Demokratie und die Tugend]
II Digitales Zeitalter – Digitaler Humanismus
[19] Digitaler Humanismus klingt zunächst etwas modisch, im Deutschen tauchte der Begriff erst vor 12-13 Jahren auf, im Englischen etwas früher, aber bis heute kann kaum von „gebräuchlich“ gesprochen werden.
[20] Dessen ungeachtet spricht er zentrale Themen an: Die Digitalisierung der Lebenswelt muss sich an ethischen Prinzipien orientieren (können), sie muss tatsächlich dem Menschen zugute kommen – das heitß, die faktischen Prioritäten bei der Digitalisierung müssen überprüft und ggf. korrigiert werden.
[21] Jahrelang wurde vom Internet der Dinge geschwärmt, die Frage nach der Sinnhaftigkeit wurde aber nicht nachhaltig beantwortet. Covid-19 hat bewiesen, dass es sich um falsche Prioritäten handelte, weil der ethisch-philosophische Komplex, der durch „Digitaler Humanismus“ angesprochen wird, vernachlässigt wurde.
[22] Eher ‚einfache‘ Dinge wären gefragt gewesen: Auf- und Ausbau digitaler materieller, inhaltlicher, pädagogischer und didaktischer Infrastrukturen für den kompletten Schul-, Bildungs-, Aus- und Weiterbildungssektor. Natürlich ist das nicht wirklich einfach, sondern komplexer als das Internet der Dinge, aber eben notwendiger, lebensnotwendiger.
[23] Freilich befruchten sich Digitalisierungen in verschiedenen Feldern der Lebenswelt gegenseitig, so wie die Raumfahrt vielfältigen Nutzen für Problemlösungen auf der Erde erbringt, aber das enthebt nicht der Prioritätensetzung. Zuerst die Menschenbildung, dann das andere. Zuerst die Unterstützung der Menschen, der Familien, durch professionelle und digitale Beratungsdienste, dann das andere.
[24] Digitaler Humanismus bezieht sich außerdem auf die Reflexion und Offenlegung der ethischen Prinzipien bzw. deren Fehlen bei der Programmierung von Algorithmen, die alle in unseren Alltag eingreifen – sei es bei der Suche im Web, sei es in der öffentlichen Verwaltung, sei es in jeglicher Prognostik, und so fort.
[25] Cybersicherheit kann ebenso unter dem Aspekt des Digitalen Humanismus gesehen werden. Das spielt auf allen Ebenen, bei den einzelnen Nutzer*innen von digitalen Diensten und Anwendungen, bei Regierungsstellen, bei Firmen. Cybersicherheit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die zudem nicht einzelstaatlich bewältigt werden kann. Das Nötige zu tun und dabei niemanden sitzen zu lassen, ist Digitaler Humanismus.
[26] Der Datenschutz, das am längsten von allen erkannte Problem, stellt einen anderen Aspekt im Digitalen Humanismus dar. Was tut jede*m einzeln*en gut bzw. nicht gut? Diese Frage müssen sich alle Beteiligten stellen, Digitalfirmen ebenso wie Behörden, Regierungen, die EU.
[27] Zulange wurden Philosophie und Ethik in Bezug auf die Spezifika des Digitalen Zeitalters vernachlässigt. Hier besteht Nachholbedarf. Das zeigt nicht zuletzt der Missbrauch des Web, speziell der „Social Media“, für Hassrede und Bedrohung ebenso wie für die Verbreitung ungesicherter „Fakten“, von Verschwörungsideologien und ähnlichem. Verantwortungslosigkeit muss Folgen haben.
[28] Selbst wenn der Begriff „Digitales Zeitalter“ eher unscharf ist, mag er doch zur Bewusstseinsbildung beitragen. Wir müssen unser soziales, ökonomisches, kulturelles Denken stärker auf die umfassende Digitalität, die das Digitale Zeitalter ausmacht, ausrichten, um nicht von der Eigendynamik der Prozesse abgehängt zu werden.
III Demokratie
[29] Die Pandemie hat Menschen- und Grundrechtsprobleme aufgeworfen. Solche Rechte wurden im Frühjahr 2020 meistens ohne öffentliche Debatte eingeschränkt. Wenige Regierungen haben das von sich aus thematisiert und problematisiert, die meistens sahen keine Bürger*innen mit Rechten vor sich, sondern nur Untertanen. Die Rechtskultur insgesamt hat gelitten.
[30] Dass Notlagen zur Einschränkung von Grundrechten führen können, ist unstrittig, aber die Nonchalance, mit der das zum Teil geschah, hat den beunruhigenden Umstand freigelegt, dass zwar die Regierungen in Europa überwiegend aus demokratischen Wahlen hervorgegangen sind, diesen aber auch Regierungsmitglieder angehören, die keine Substanz hinsichtlich demokratischer, rechtsstaatlicher und grundrechtlicher Inhalte haben. All dies interessiert sie nicht. Viele Gerichte mussten vieles korrigieren. Gesetzgebung wurde mehrfach (z.B. in Österreich) schlampig durchgeführt.
[31] Die europäische Demokratie macht den Eindruck, mehr denn je, auf tönernen Füßen zu stehen. Demokratische Prinzipien über Bord zu werfen, sobald eine ernste Lage entsteht, das kann einen nur mit Unbehagen erfüllen. Das Problem wird sich auch nicht mit der Bewältigung der Pandemie mittels Massenimpfung erledigen. Die Folgen des Klimawandels werden immer heftiger zu spüren sein, auch in den reichen, relativ abgesicherten Ländern wie z.B. in Europa, es wird sehr ernste Lagen geben. Was wird dann aus den Grundrechten?
[32] Die Einhaltung der demokratischen und grundrechtlichen Prinzipien ist genauso Sache der Bürger*innen wie des Staats und der Unternehmen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung, z.B. in Gestalt von Demonstrationen, wird erodieren, wenn Veranstalter und Demonstrierende in Pandemiezeiten unschwer einzuhaltende Hygiene- und Abstandsregeln bewusst missachten und damit ihrer Verachtung gegenüber den Rechten der Anderen Ausdruck verleihen.
[33] Die Demokratie wird zeitgleich auf ganz anderen Gebieten herausgefordert. Nach wie vor durch Terrorismus – sowohl Frankriech wie Österreich tun sich mit Rechtsstaat-tauglichen Gesetzen schwer. Da ist die anhaltende Rechtsstaatsproblematik in Ungarn und Polen, wo zwei Parteien und ihre führenden Köpfe Staat und Partei verwechseln. Fidesz und PiS machen ihre Parteien zum Staat, den Staat zum Eigentum der Partei. Sie scheuen weder vor Hetze gegen Menschen mit diverser sexueller Orientierung noch vor der Instrumentalisierung der wissenschaftlichen Institutionen für ihre ideologisch fundierte Geschichtspolitik noch vor der Unterhöhlung der Justizgewalt zurück.
[34] Es war erhellend, wie sich ungeniert führende Mitglieder der PiS in Polen und Orbán in Ungarn öffentlich gegen den Rechtsstaatlichkeitsmaßstab bei der Vergabe der EU-Mittel zur Bekämpfung der Pandemie-Folgen geäußert haben. Nachdem bis zum Herbst 2020 beide Regierungen Wert darauf legten, dass der von ihnen bewerkstelligte Verfassungsumbau dem Rechtsstaat diene, wurde diese Positionierung nun fallen gelassen. Andernfalls wäre es nicht sinnvoll gewesen, sich dermaßen öffentlichkeitswirksam gegen eine Selbstverständlichkeit in der EU zu wehren.
[35] Obwohl sich in der EU die Tendenz der Stärkung eher gemäßigter Parteien aus dem Jahr 2019 im Jahr 2020 fortsetzte, hat die Passivität der EU gegenüber Belarus und Hongkong wohl kaum zur Stärkung der Demokratie beigetragen. Hier fehlt freilich auch der Druck aus der Zivilgesellschaft, die sich wenig für die Demokratiebewegungen in den beiden Ländern, und auch nicht in anderen, bewegt.
[36] Solange die Zivilgesellschaft, die grundsätzlich über europäische Netzwerke verfügt, nicht sozusagen als 28. EU-Mitglied mit am Tisch sitzt, wird sich hier wenig voranbringen lassen. Anders ausgedrückt: In der EU muss mehr darin investiert werden, Demokratie weiter zu entwickeln, indem neue Wege gegangen werden.
[37] Vertrauen in Polizei und Sicherheitsbehörden hat 2020 gelitten. In der Mehrheit der Fälle terroristischer Attentate waren die Täter den Behörden schon vorher aufgefallen, zum Teil als Gefährder eingestuft. Trotzdem bleibt die Diskussion darüber, was tatsächlich verbessert werden könnte, oberflächlich.
[38] Ähnlich wie in den USA hat sich in Europa immer wieder rassistisch motivierte Polizeigewalt manifestiert. Die zuständigen Innenminister*innen tun sich schwer mit dem Gegensteuern, obwohl die Mehrheit der Polizist*innen das genauso verurteilt wie die meisten Menschen.
[39] Die Zunahme des Antisemitismus und antisemitisch motivierter Gewalt konnte in 2020 nicht gestoppt werden. Immer mehr Gewalt bricht sich Bahn.
[s. auch Corona-Pandemie und Demokratie]
IV Stärken und Schwächen der EU
[40] Nach Innen hat die EU Stärken gezeigt. In der Pandemiebekämpfung hatte sie keine Zuständigkeit, aber es hat sich gezeigt, dass eine Abstimmung untereinander in der EU allen Vorteile bringt. Kräfte in der Forschung zum Virus und zu Impfstoffen konnten besser gebündelt werden. Im Herbst, als sich die „zweite Welle“ der Pandemie aufbaute, wurde das unkoordinierte und schädliche Durcheinander mit Grenzschließungen im Frühjahr überwiegend vermieden.
[41] Eine optimistisch stimmende Stärke wurde an den Tag gelegt, als das vorher unwahrscheinlich Erscheinende doch vorgeschlagen und beschlossen wurde, das 750-Milliarden-Paket zur Bekämpfung der langfristigen Folgen der Pandemie – Geld, das im günstigeren Fall der nachhaltigen Umstellung der Wirtschaft auf klimaneutrale Arbeits- und Produktionsweisen unter Einbeziehung von Digitalisierungsstrategien dienen wird.
[42] EU-verfassungsgeschichtlich ist die Schuldenaufnahme durch die EU von Interesse, da diese, im Fall, dass es funktioniert wie gedacht, die Bereitschaft in der Union zu weiterer gemeinschaftlicher Schuldenaufnahme verbessern könnte. Davor stehen etliche Wenn und Aber, doch würde wohl schon ein respektabler Teilerfolg beim Einsatz der 750 Milliarden die seit den Anfängen der Vorgängerinstitutionen der EU in den 1950er Jahren auf dem Programm stehende ökonomische Integration dermaßen befördern, dass die Lust auf mehr davon größer werden könnte als die Bedenken gegen die sogenannte „Schuldenunion“.
[43] Der letzte EU-Gipfel des Jahres 2020 im Dezember legte noch mehr an Stärken frei. So wurde das Ziel, den Co2-Ausstoß nachhaltig zu senken, noch ambitionierter definiert. Damit ist es noch nicht umgesetzt, aber es wurde einstimmig beschlossen. Eintimmigkeit ist oft in der EU die Achillesferse, weil der notwendige Kompromiss ganz unten, jenseits dessen, was man noch „Ambition“ nennen kann, angesiedelt ist, aber dieses Mal war die Einstimmigkeit ein Ausdruck von Stärke. Gut so, weiter so!
[44] Das EU-Parlament ist Teil dieser Stärken, seine Arbeit (der Mehrheit) entspricht am besten dem Art. 2 des Vertrags über die EU, in dem ein zukunftsträchtiges Gesellschaftsmodell festgehalten ist. Würde der EU-Vertrag heute, 2020 oder 2021, neu zu verhandeln sein, wäre es fraglich, ob wieder ein solcher Artikel 2 zustande kommen könnte. Umso wichtiger ist die Haltung der Mehrheit des EU-Parlaments, den Artikel umzusetzen.
[45] Als stark kann auch die deutsch-französische Zusammenarbeit zugunsten der EU, und manchmal eine gewisse Arbeitsteiligkeit, bezeichnet werden. Arbeitsteiligkeit hat sich aus der unterschiedlichen politischen Arbeitsweise von Emmanuel Macron und Angela Merkel ergeben. Macron hat kaum die Geduld für Kompromisse, seine Stärke ist die Provokation, das Anrühren von Tabus, verbunden mit der Entwicklung von Gestaltungsprinzipien für die Zukunft der EU. Merkels Stärke ist das nächtelange Verhandeln, das Kompromissefinden, die Gabe, selbst bei deutlichen inhaltlichen Differenzen wie im Fall der Rechtsstaatlichkeit dem Gegenüber eine billig zu erreichende Demütigung zu ersparen, weil aus Demütigungen politisch nichts wächst.
[46] Beides braucht die EU, das tut ihr gut – was nicht heißt, dass die Kommissionspräsidentin, der Vorsitzende des Europäischen Rats und viele andere nicht ihr Schärflein zur Problemlösung beitragen würden.
[47] Alles in allem scheint das Jahr 2020 der EU nach innen neuen Schwung gebracht zu haben.
[48] Schwächen gibt es nach außen. Im konflikt- und gewaltreichen Geschehen an den südlichen und östlichen Außengrenzen der EU und in der nahen Nachbarschaft wie Armenien/Aserbaidschan besitzt die EU keinerlei Gestaltungsmacht. Grundsätzlich ist es richtig, dass die EU vermeidet, alle Brücken zu Aggressoren wie dem Präsidenten der Türkei abzubrechen, weil damit kein einziges Problem gelöst wird. Es ist auch richtig, dass die EU als Trägerin des Friedensnobelpreises anders als die Türkei, die USA und Russland, nicht militärisch in Konflikte interveniert, sondern sich, wenn, dann auf die Beteiligung an friedenssichernden Maßnahmen beschränkt, flankiert von humanitärer Unterstützung und dem Bestreben, mehr Rechtlichkeit in die Verhaltensweisen von Akteur*innen einzuführen.
[49] Die Schwäche der EU resultiert zum Teil daraus, dass Außenpolitik überwiegend eine nationale Prärogative geblieben ist. Aber würde sie ein „diplomatischer Riese“ werden, wenn es anders wäre?
[50] Macron pusht das Thema „europäische Souveränität“ (ökonomisch, währungspolitisch, verteidigungs- und außenpolitisch, wissenschaftlich, digital). Das ist im Moment der realistischste Ansatz, zielt aber letztlich auf eine defensive Autarkie. Nicht von den USA abhängen, nicht von China abhängen, von niemandem abhängen. Wohin und wieweit käme die EU damit? Die Frage steht im Raum. Das alles beantwortet noch nicht die Frage, inwieweit die EU in Bezug auf Belarus und Hongkong hinter ihren Möglichkeiten, etwas für die dortigen Demokratiebewegungen zu tun, geblieben ist.
s. auch:
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert): Wolfgang Schmale: Europa 2020 – Eine Bilanz. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europa-2020-bilanz, Eintrag 21.12.2020 [Absatz Nr.].