Die Pressekonferenz von Emmanuel Macron, 9. Dezember 2021 – Eine Kritik
Teil 1; Teil 2; Teil 3; Teil 4
[58] Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron stellte an den Anfang seiner Pressekonferenz vom 9. Dezember 2021 aus Anlass der kommenden EU-Ratspräsidentschaft das Thema der EU-Außengrenzen und der Reformierung des Schengen-Abkommens. Die erste Überschrift lautet „Ein souveräneres Europa“, darunter folgen drei Punkte:
[59] Macron spricht von einer „maîtrise des frontières“, die einer politischen Steuerung bedürfe. Im Falle einer Krise solle es rasch Unterstützung geben. Er geht offensichtlich davon aus, dass die EU-Länder die volle Herrschaft über jene Grenzen, die zugleich die EU-Außengrenze bilden, verloren haben. Daher fordert er erneut ein „souveräneres Europa“, ein „Europa der Verteidigung“, eine Definition der gemeinsamen Interessen und eine gemeinsame Strategie.
[60] Der zweite Punkt betrifft einen für den kommenden Februar geplanten Gipfel zwischen der EU und der Afrikanischen Union, um den jungen Menschen in Afrika mehr Perspektiven zu bieten. Dazu soll universitärer, wissenschaftlicher und künstlerischer Austausch zwischen der europäischen Zivilgesellschaft und jungen Menschen in Europa gefördert werden. Kritisch lässt sich anmerken, dass es dazu sicher auch finanziell gut ausgestatteter Programme bedürfen wird und dass die sehr enge Verknüpfung mit dem Vorhaben, die Migration aus Afrika zu verringern, als Motiv zu schwach ist.
[61] Im Juni, dem letzten Monat der französischen Ratspräsidentschaft, soll es einen Westbalkan-Gipfel geben, um diesen Ländern „kurzfristig“ Perspektiven zu bieten. Was das genau bedeuten soll, wird spannend werden, nachdem Macron bisher wenig Neigung entwickelt hat, den EU-Beitritt der Westbalkan-Staaten zu beschleunigen.
[62] Die nachfolgende Überschrift lautet „Ein neues europäisches Modell“. Muss Europa immer gleich Modell sein – diese Frage drängt sich auf! Inhaltlich geht es um die nachdrückliche Beförderung der Klimaziele und um die Digitalisierung, zwei in letzter Zeit oft gemeinsam genannte Aspekte, die in der Pressekonferenz aber nur nebeneinander unter derselben Überschrift stehen. Inhaltlich geht es um den Schutz der Daten, die Bekämpfung von Monopolstellungen bei den ganz großen Digitalkonzernen und um die Bekämpfung von Hass in digitalen Medien.
[63] Macron will sich für ein sozialeres Europa einsetzen, u.a. für den Mindestlohn. Gelänge es nicht, die sozial Schwachen besser zu schützen, werde es weitere ‚Brexits‘ geben. Das allerdings klingt einigermaßen schräg, da das Vereinigte Königreich während seiner EU-Mitgliedschaft systematisch die Initiativen für eine Sozialunion und ein sozialeres Europa blockiert hat und ganz gewiss nicht ausgetreten ist, weil die EU keine Bereitschaft gezeigt hätte, soziale Absicherung mehr zu fördern.
[64] Für die Presse gibt es ein kleines Dossier von 36 Seiten, in dem die Ratspräsidentschaft in die Kontinuität der Europa-Initiativen E. Macrons, speziell seit der Europa-Rede an der Sorbonne vom 26.9.2017, gestellt wird.
[65] Die Ratspräsidentschaft wird mehr sein, als das, was hier eher enttäuschend vorgestellt wurde, aber der Wortlaut der Statements für die Presse gibt natürlich zu denken. Das Motiv, Migration von der EU wegzuhalten, ist viel zu dominant. Es darf die europäisch-afrikanischen Beziehungen nicht dominieren.
[66] Je mehr sich die EU abschottet, desto weniger werden legale Möglichkeiten, aus „Drittländern“ in die EU zu reisen und desto mehr intensivieren sich die Aktivitäten von Schleusern und Schleppern. Deren Bekämpfung könnte effektiver sein; dass sie es nicht ist, liegt am Unwillen der EU-Mitglieder, hier zu investieren. Dass im Krisenfall rascher gehandelt werden können muss, ist zutreffend. Die kleine diplomatische Offensive der EU im Fall von Belarus und die Vorbereitung von Sanktionen gegen Fluggesellschaften, die sich am Schleusen und Schleppen von Flüchtlingen beteiligt haben, waren durchaus effektiv, hätten aber noch mehr Wirkung gehabt, wenn sie umgehend hätten erfolgen können.
[67] Nichts davon löst jedoch die grundlegenden Probleme. Es fehlt ein Vorstoß des französischen Präsidenten, in der EU die Diskussion um eine europäische Einwanderungspolitik voranzubringen. Er wird diesen Vorstoß nicht unternehmen (können), da er sich (für seine Person noch nicht offiziell) im Präsidentschaftswahlkampf befindet. Der Rechtsextremismus ist in Frankreich derzeit stark wie nie, Valérie Pécresse (Les Républicains), Eric Zemmour (Rechtsextremist) und Marine Le Pen (Rassemblement national) warten nur darauf, dass sich Macron auf das Migrations- und Flüchtlingsthema in anderer Weise als Abschottung einlässt.
[68] Das Europa-Thema macht hingegen niemand unter den Präsidentschaftskandidat*innen in Frankreich E. Macron streitig. Das kürzliche Treffen der rechtsextremen Parteien in Warschau, an dem Marine Le Pen teilgenommen hat, hat erwartungsgemäß – ebenso wenig wie die früheren ähnlichen Treffen – zu keinem Schulterschluss für ein „anderes Europa“, wie es sich die PiS und Fidesz wünschen, geführt.
[69] Macron wird sich daher an seine bisherige Europalinie halten und nicht müde werden, wo immer in der EU seit 2017 Fortschritte erzielt wurden, diese auf vor allem französische (seine) Initiativen zurückzuführen bzw. den französischen Anteil herauszustreichen, in der Hoffnung, damit Wahlprozente zu halten oder hinzu zu gewinnen.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: In Erwartung der französischen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 (Teil 5). In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/franzoesische-ratspraesidentschaft-2022-teil-5, Eintrag 10.12.2021 [Absatz Nr.] Lies mal wieder: Was wird aus der Europäischen Union? Geschichte und Zukunft!