[1] Es ist angenehmer, auf den Spuren eines Europäers wie Erasmus von Rotterdam in Rotterdam zu wandeln oder sich in Warschau zu Fuß auf die Suche nach historischen Visualisierungen Europas zu machen. Aber manchmal führt die Wanderung längs eines Weges, dessen Einmündung auf keiner Karte verzeichnet ist und die kein Navi anzugeben weiß.
[2] Nicht dass es in den vergangenen Jahren an Entscheidungsfragen irgendeinen Mangel gegeben hätte! Doch in den vergangenen zehn Tagen kam wieder einiges zusammen. Nichts davon ist wirklich beantwortet, und die ganz große Frage steht ja noch im Raum: Werden die britischen WählerInnen am 23. Juni für oder gegen den Brexit stimmen?
[3] Die Präsidentschaftsstichwahlen in Österreich am 22. Mai und deren erst am 23. Mai feststehendes Ergebnis besaßen mindestens auf der symbolischen Ebene eine europäische Dimension: Würde der Kandidat der FPÖ, Norbert Hofer, gewinnen, würde man es als Aufbruchssignal für alle rechtspopulistischen Parteien in Europa verstanden haben. Es hätte die sich andeutende ideologische Spaltung Europas vorangetrieben. Ohnehin wecken rauere politische Rhetoriken und zunehmende politisch motivierte Gewalt ‚Erinnerungen‘ an die Zwischenkriegszeit. Ob diese ‚Erinnerungen‘ bzw. Vergleiche mit der Zwischenkriegszeit bei genauer Betrachtung gerechtfertigt sind, ist zweifelhaft, aber das sich daran äußernde Unbehagen hat damit zu tun, dass die Übergangsbereiche, in denen radikale Rhetorik und tatsächliche Gewaltausübung zusammenwachsen, immer breiter werden.
[4] In diesem Zusammenhang kann man nicht umhin, Äußerungen, die von RegierungschefInnen getätigt werden, auf die ‚Goldwaage‘ zu legen. So verlautbarte die polnische Ministerpräsidentin, dass sich Polen keinem „Ultimatum“ [der EU-Kommission] „beugen“ werde, diese greife die „Souveränität Polens“ an und es gebe dort Kräfte, die die „EU zerstören“ wollten.
[5] Hierzu braucht man nun keine ‚Goldwaage‘, da tut es eine gröbere Zentnerwaage auch. Was, ernsthaft, kann eine Ministerpräsidentin veranlassen, über die EU und die Kommission dermaßen feindselig zu sprechen? Die EU-Kommission bei der Ausübung ihrer Aufgaben gemäß EU-Vertrag zu bezichtigen, Polen per Ultimatum anzugreifen und in Wirklichkeit die EU zerstören zu wollen, erfüllt den Tatbestand der Verleumdung und Diffamierung. Warum? Die äußeren Gründe sind bekannt, die Verfassungsänderungen, die die PiS vorhat bzw. faktisch praktiziert, sind auf ihre Demokratiepassung zu überprüfen. Das liegt in der Natur der EU-Mitgliedschaft.
[6] Der geltende Vertrag von Lissabon hat die Position der Nationalstaaten ohnehin gestärkt, aber er hat die Grundidee der europäischen Integration (immer engere Zusammenarbeit) nicht verändert. Die polnische Regierungsrhetorik ist über den momentanen Zielkonflikt hinaus gefährlich. Die Versuchung, zurück zu einem veralteten, historisch destruktiv wirkenden Souveränitätsprinzip zu gehen, das auf der falsifizierten Voraussetzung beruht, der Nationalstaat sei am besten allein handlungsfähig, besteht nicht nur bei der PiS, sondern auch anderswo.
[7] Was das Vereinigte Königreich angeht, werden wir bald mehr wissen. Praktisch alle EU-Mitglieder haben jedoch in der jüngsten Vergangenheit zu Abschottungsmaßnahmen gegriffen. Zwar kamen bestimmte Vereinbarungen wie etwa über Flüchtlingsaufnahmequoten noch gemeinsam am Brüsseler Verhandlungstisch zustande, aber sie werden in ungenierter Offenheit nicht realisiert. Wozu trifft man sich dann noch in Brüssel und fasst Beschlüsse, wenn der Wille, die mit der EU-Mitgliedschaft eingegangene Verpflichtung, das gemeinsam Beschlossene auch umzusetzen, nicht mehr vorhanden ist?
[8] In der Regel verweisen die Regierungen auf die Stimmung im eigenen Land. Sie sehen sich nicht mehr in der Lage, eine praktizierte europäische Solidarität zu Hause zu vertreten, ohne ihre WählerInnen zu verlieren. Ob das in Polen so stimmt, ist fraglich; zwar hat die PiS bei Wahlen die Mehrheit errungen, aber ob sie in Bezug auf die EU und vor allem die polnische Verfassung tatsächlich die BürgerInnenmehrheit vertritt, ist nicht ausgemacht.
[9] Die Wege sind insgesamt unterschiedlich, ihre Unterschiedlichkeit zeigt weniger die berühmte europäische Vielfalt als den nationalen Eigensinn. Frankreich ist sehr mit sich selber beschäftigt und vermeidet europäisches Engagement. Das geht schon einige Zeit so und schafft ein Führungsvakuum. Da die EU-Kommission nach dem Willen der Verträge keine Regierung darstellt und die meisten anderen Regierungen sich nicht anders als Frankreich verhalten – immerhin aber keine ‚Feindrhetorik‘ pflegen – rückt das Deutschland immer mehr ins Machtzentrum Europas.
[10] Das wird anhaltend kritisiert, aber was wäre, wenn die deutsche Bundesregierung Europa Europa sein ließe und auch die EU-Fahnen wegräumen ließe und nur noch Deutschlandfahnen zuließe? Oder, im Falle eines Brexit, seine historische Doppelneigung ebenso zu Frankreich wie zu Großbritannien pragmatischerweise zugunsten Großbritanniens modifizieren würde? Frankreich scheint keine Europaidee mehr zu haben, die britische ist mit den deutschen Auffassungen relativ leicht kompatibel. Schaut man in die Runde, welche Regierungen in der letzten Zeit die Kraft und den Willen aufgebracht haben, Europa im ureigenen Interesse als Akteur in der internationalen Politik zu halten, ist man versucht, zum Optiker zu gehen, um die Brille überprüfen zu lassen, da man nichts sehen kann.
[11] Es ist nicht illegitim zu fordern, dass die Regierungen europäischer Staaten auf der Höhe der Problemkonstellation sein müssen, denn diese ist nicht national, sondern im Grundsatz global bzw. hat sie sich in der breiteren historischen Nachbarschaft Europas entwickelt. Darum muss sich Europa aus purem Eigeninteresse kümmern, auch wenn es einen nicht betrüben müsste, wenn auch ein ganz klein wenig Platz für aufrichtigen Humanitarismus und moralisch begründetes Handeln vorhanden wäre.
[12] Meiner Ansicht nach braucht die Türkei Europa, weshalb es notwendig ist, sich mit ihr auseinanderzusetzen. EU-Europa kann sich hier nicht abschotten und die Türkei sich selbst überlassen. Die Kritik am Flüchtlingsabkommen enthält viel Zutreffendes, aber nachdem die EU-Mitglieder Zweierlei bewiesen haben, nämlich, dass sie eine rein humanitäre Antwort (Flüchtlinge aufnehmen, komme, was wolle) nicht geben werden und dass sie ‚alternativ‘ weder gewillt noch in der Lage sind, eine gesicherte EU-Außengrenze im Mittelmeer herzustellen, sprich, tatsächlich die ‚Festung Europa‘ zu bauen (was viele zu recht ablehnen), blieb kaum etwas anderes übrig.
[13] Doch wie lange wird es noch gut gehen, dass die EU-Mitglieder am liebsten den Kopf in den Sand stecken?
[14] Freilich ist es müßig ‚vorzurechnen‘, wieviel Immigration aus demografischen und wirtschaftlichen Gründen objektiv notwendig ist, um den europäischen Lebensstandard zu halten, dem Pflegenotstand und einer breiten Altersarmut vorzubeugen. Freilich ist es richtig, nicht an den ablehnenden Voten in Volksabstimmungen seit mehr als zehn Jahren einfach vorbeizusehen; und so fort. Was aber auch richtig und keineswegs müßig ist, ist, dass es hierzu zukunftsfähige politische Antworten braucht, die schlechterdings nur gemeinsam und nicht national gegeben werden können.
[15] Niemand jedoch scheint darauf Lust zu haben. Ist der Grund dafür darin zu suchen, dass niemand mehr daran glaubt, dass die Mehrheit der EuropäerInnen genug Europabewusstsein besitzt, um eine europäische Politik mitzutragen?
[16] Dies führt auf den anfänglichen Punkt der zunehmenden ideologischen Teilung Europas zurück. Sollten sich die BritInnen für den Verbleib in der EU aussprechen, wäre das eine Wende, so wie dann auch die österreichische Präsidentschaftswahl mit ihrem europäischen Subtext eine stärkere konstruktiv-europäische Wirkung entfalten würde (die Amtseinführung des neuen österreichischen Bundespräsidenten findet ja nach dem britischen Referendum statt). Dementsprechend würde der Umstand, dass der französische Front National bei den letzten Regionalwahlen in der Stichwahl erstaunlich weit vom Durchmarsch entfernt blieb, als Votum der WählerInnen, dass ihnen das Proeuropäische eben doch wichtig ist, interpretiert werden können, wie es im Europa-Leitartikel von Arnaud Leparmentier in Le Monde vom 26. Mai 2016 vorgeschlagen wird. Und ebenso würde das Argument an Gewicht gewinnen, dass bei den deutschen Bundesländerwahlen die Parteien, die in der Flüchtlingsfrage ihren humanitären Prinzipien treu geblieben sind (Grüne in Baden-Württemberg, Sozialdemokraten in Rheinland-Pfalz), nur geringfügige Stimmeneinbußen zu verzeichnen hatten, den richtigen Weg gegangen sind. Wie es im Prinzip richtig heißt: Wer eine ganz bestimmte Politik will (z.B. Ablehnung von Flüchtlingen, Ausgrenzung der islamischen Religion), wählt das Original und nicht die Nachahmer-Partei. Das hat in Deutschland vorwiegend die CDU erfahren müssen, in Österreich sind es die ÖVP und die SPÖ.
[17] Es ist keineswegs ausgemacht, dass die EuropäerInnen, die mit Rechtspopulismus und seinen Nachahmern in ehemaligen Volksparteien der Mitte nicht einverstanden sind, in Europa die Minderheit darstellen. Genau das wird in naher Zukunft ‚ausgehandelt‘ werden, es kommt einiges auf uns zu.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Zehn Tage unterwegs auf dem europäischen Weg der ideologischen Spaltung. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/ideologische-spaltung, Eintrag 29.05.2016 [Absatz Nr.].