[1] Wieder einmal hatte das (deutsche) Bundesverfassungsgericht über ein „Kopftuchverbot“ zu entscheiden. Wie immer ist die vorliegende Begründung lesenswert, zumal auch die von der Senatsmehrheit abweichende Meinung eines Richters dargestellt ist.
[2] Der Zweite Senat entschied am 14. Januar 2020 (2 BvR 1333/17), dass das gegenüber einer hessischen Rechtsreferendarin ausgesprochene Verbot, „bei bestimmten dienstlichen Tätigkeiten ein Kopftuch zu tragen“, rechtens sei.
[3] Abzuwägen waren die vom Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit einerseits, und das weltanschauliche sowie religiöse Neutralitätsgebot des Staats, andererseits. Abzuwägen waren die zu achtende Menschenwürde, aber auch die sogenannte negative Religionsfreiheit Dritter.
[4] Der Grundkonflikt beschäftigt seit mehr als zwei Jahrzehnten die Justiz in vielen europäischen Ländern. Dass der Staat in Gestalt seiner Behörden, vor allem also Gerichte und Verwaltungen, den Bürger*innen gegenüber weltanschaulich und religiös neutral auftritt, hat sich über mehrere Jahrhunderte in einer sehr konfliktreichen Geschichte entwickelt. Dies ist ein hohes Gut, das eben nicht von ungefähr kommt und das zur inneren Befriedung von Gesellschaften und Staaten maßgeblich beigetragen hat.
[5] Wie das Bundesverfassungsgericht aber zu Recht feststellt, tritt der Staat in Gestalt handelnder Personen auf. Es kann daher zwischen der vermeintlichen Privatsache Religion und dem Neutralitätsgebot zu Konflikten kommen. Die eigentliche Religionsausübung kann zweifellos als Privatsache angesehen und so organisiert werden, aber Religion ist nun einmal Teil der individuellen Identität religiös eingestellter Menschen und kann daher nur bedingt vom öffentlichen Auftreten, etwa als Referendar*in, Richter*in, Staatsanwält*in etc. getrennt werden.
[6] Das gilt speziell in Bezug auf Bekleidungsvorschriften und eventuell vorgeschriebene Symbole, die von den Religionsangehörigen getragen werden sollen bzw. müssen. Äußerlich sichtbare Zeichen einer Zugehörigkeit zu einer Religion dürfen freilich nichts an der Neutralität derselben Person bei der Amtsausübung ändern. Das gilt faktisch für jeden Beruf, sofern dieser nicht wie bei Priester_innen, Bischöf_innen, Imam_innen, Rabbiner_innen usw. in der Ausübung der Religion selber besteht.
[7] In Europa wird die Problematik auf ein „christlich-abendländisches Europa“ versus zugewanderte Muslim*innen zugespitzt. Das BverfG verweist darauf, dass es im Christentum für Laien keine Vorgaben/Vorschriften hinsichtlich äußerlicher Zeichen der Religionszugehörigkeit gibt, sodass sich im Berufsalltag in Behörden, Gerichten, Schulen und nicht-konfessionellen Kindergärten prinzipiell kein Konfliktpotenzial ergibt. Vorkommen kann es natürlich trotzdem, aber Anlassfälle waren eher das öffentliche Aufhängen von Kreuzen in staatlichen Einrichtungen, die zur weltanschaulichen und religiösen Neutralität verpflichtet sind.
[8] Nun werden in Europa aber etliche Religionen ausgeübt, die äußerlich erkennbar sind. Es geht prinzipiell nicht nur um das Kopftuch (bis hin zum Niqab), man könnte die Kippa anführen, oder den Dastar, den Turban der Sikhs. Das Grundsätzliche an der Frage geht folglich über Islam und Christentum hinaus. Die Zuspitzung hat freilich damit zu tun, dass das Kopftuchtragen nur Frauen betrifft und, je nach Ansicht, als Zeichen der Unterdrückung von Frauen im Islam interpretiert wird, die das europäische Gesellschaftsmodell der Nachkriegszeit in Frage stelle. Frankreich hält strikt am Prinzip des laizistischen Staats fest, zugleich wird in Frankreich eine überaus kontroverse öffentliche Debatte geführt, in der die Frage, Unterdrückung oder Selbstbestimmung, intensiv diskutiert wird.
[9] Würde der Frieden in der Gesellschaft und zwischen Staat und Gesellschaft tatsächlich gefährdet, wenn sich die Rechtslage ändern würde? Recht – hier in der Gestalt von Verfassungen – muss bis zu einem gewissen Grad gesellschaftlichen Entwicklungen folgen, zugleich sichern Verfassungen die Geltung von Prinzipien (Menschenwürde, Menschenrechte, Nichtdiskriminierung, etc.), die durch keine gesellschaftliche Entwicklung ausgehebelt werden dürfen. Das hat nicht zuletzt mit der historischen Erfahrung der Gewaltgeschichte Europas vom Absolutismus bis zu den Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu tun. Recht und Verfassung müssen ein Bollwerk gegen die Rückwicklung all jener Errungenschaften darstellen, die den inneren und äußeren Frieden von Gesellschaften und Staaten ermöglicht haben.
[10] Die Trennung von Staat und Religion lässt sich nicht hundertprozentig durchführen. Der Staat ist für die Gesellschaft da, und bis jetzt ist es so, dass die europäischen Gesellschaften deutlich religiös geprägt geblieben sind. Der Staat ist daher nicht „blind“ gegenüber Religion wie Justitia. In schweren Situationen wie nach blutigen Attentaten, besonders schlimmen Unfällen etc. ist es in vielen Ländern üblich, ökumenische Feiern unter Beteiligung von Politiker*innen, ggf. der Staatsspitze, zu halten.
[11] In Frankreich ist dies weniger der Fall als beispielsweise in Deutschland, aber man hat im Präsidentschaftswahlkampf 2016/2017 beobachten können, wie der konservative Kandidat François Fillon mit kaum versteckten Gesten und Aktionen seine Zugehörigkeit zum katholischen Frankreich deutlich machte und sich deshalb bei den Konservativen „überraschend“ als Präsidentschaftskandidat durchsetzte. Staatlichen Laizismus zu „zelebrieren“ wie in Frankreich seit dem Gesetz von 1905, das Staat und Kirche (und damit grundsätzlich Staat und Religion) trennte, kann offensichtlich ebenso unerwartete wie eigentlich unerwünschte Effekte haben, wo Religion dann doch wieder, und im konkreten Fall durch die Hintertüre, Einfluss auf den Staat nimmt bzw. nehmen könnte.
[12] Zugleich bilden die Religionen in Europa wichtige öffentliche Stimmen, die zu gesellschaftspolitischen Fragen gehört werden. Vielfalt, auf die Europa so stolz ist, muss sich ausdrücken können, sie muss gelebt werden können.
[13] Nach dem Zweiten Weltkrieg musste in Europa gesellschaftlich-kulturelle und religiöse Vielfalt neu gelernt werden. Bis dahin herrschte ein Nationalismus vor, der auf der Fiktion der „ethnisch reinen“ Nation beruhte, der den Nationalstaat als autark agierenden Staat sah und kaum internationales Recht respektierte. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Vertreibung von Bevölkerungsminderheiten als legitimes Mittel angesehen, homogene Nationalstaaten zu schaffen, weil man glaubte, ein homogener Nationalstaat werde Frieden schaffen. Es gab im Lauf der Geschichte wohl wenige Irrtümer, die noch schlimmer waren als dieser.
[14] Wie Tony Judt in seiner Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg feststellte, war in den europäischen Nachkriegsgesellschaften die Vielfalt, die überall einmal bestanden hatte, in einem Ausmaß reduziert worden wie nie zuvor in der Geschichte. Dazu hatte der Holocaust geführt, die Verfolgung und Ermordung von Roma und Sinti, die Verfolgung von Menschen mit diverser sexueller Orientierung, die Unterdrückung von Bevölkerungsminderheiten. Und die Vertreibungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg, bis zum, im und nach dem Zweiten Weltkrieg hatten ebenso dazu beigetragen.
[15] Vielfalt zu leben musste in Europa nach 1945 erst wieder gelernt werden, Vielfalt wieder vorstellbar werden, die Bereitschaft der Gesellschaften, Vielfalt zu leben, musste erst wieder aufgebaut werden. Natürlich waren die Ausgangssituationen in den einzelnen europäischen Ländern verschieden, aber im Grundsatz war das Problem überall sehr ähnlich. Hinzukam das Misstrauen zwischen den „Nationen“ nach zwei Weltkriegen und im Kalten Krieg.
[16] Die wieder zu erlernende Vielfalt entwickelte sich aber nicht nur anhand der historischen Vorbilder. Mehrere Jahrzehnte lang hatte Migration in Europa vor allem aus zwei Faktoren bestanden: Emigration (z.B. nach Amerika) und europäische Binnenmigration.
[17] Nach 1945 emigrierte ein weiterer Teil der wenigen überlebenden Jüd*innen in die USA und nach Palästina bzw. in den neu gegründeten Staat Israel. Die Frage lautete daher, wie ein jüdisches Leben nach dem Holocaust in Europa ermöglicht werden könne? Anders ausgedrückt: Ein antisemitisches Europa musste lernen, jüdisches Leben zu ermöglichen und als konstruktiven Teil seiner selbst zu erkennen.
[18] Nach 1945 wanderten Menschen aus Weltregionen nach Europa zu, aus denen es früher keine nennenswerte Zuwanderung gegeben hatte. Dies betrifft Muslim*innen, zunächst aus der Türkei, zunehmend aber auch aus anderen muslimisch geprägten Ländern (Maghreb, Naher Osten, Pakistan, Afghanistan usw.). Dies betrifft Menschen mit anderen Religionszugehörigkeiten, dies betrifft vor allem seit den 1990ern zunehmend Afrikaner*innen. Diese Aufzählung ist unvollständig.
[19] Die Vielfalt, die sich religiös und kulturell nach 1945 langsam entwickelt hat, ist eine andere als die historische in Europa. Nicht zuletzt durch Migration, aber auch durch die Globalisierung, die viele Europäer*innen verändert hat – ein Teil wurde weltoffener und legte den Nationalismus ab, ein anderer Teil wurde verschlossener und hängt nun einer identitären Ideologie an.
[20] Zurück zum „Kopftuchurteil“ des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Januar 2020. Es betrifft einen konkreten individuellen Fall, der aber Teil dieses kurz skizzierten historischen Kontextes ist, in dem eine neue Vielfalt entstanden ist.
[21] Vielfalt hält nicht still, sondern wandelt sich fortlaufend. Vielfalt ist gesellschaftlicher Normalzustand. Das heißt, Vielfalt ist jederzeit Teil des lebenslangen Lernens, von der Kindheit bis ins hohe Alter. Dass der Staat, repräsentiert durch seine Vertreter*innen, weltanschaulich und religiös nicht neutral sei, kann nur dann so sein oder nur dann kann der Eindruck so entstehen, wenn die Gesellschaft den Umgang mit Vielfalt nicht gelernt hat, oder nicht lernen will, oder aus diesen oder jenen Gründen (noch) nicht beherrscht.
[22] Zum Erlernen der Vielfalt gehört dazu, die eigene religiöse Identität NICHT zum gesellschaftlichen Werte-Maßstab zu machen. Der gesellschaftliche Werte-Maßstab ist in der Verfassung, im Grundgesetz niedergelegt.
[23] Bei der Zusammensetzung von Regierungen wird heute bewusst Wert auf sichtbare Diversität gelegt. Das Bewusste oder Bewusstmachen bezieht sich vorrangig auf diverse sexuelle Orientierungen, während religiöse Orientierungen meistens diskreter gehandhabt werden. Aber beide – und etliche andere – Diversitäten gehören zur Vielfalt. Der Ansatzpunkt zum Nachdenken lautet daher Vielfalt, nicht Religion, da diese zusammen mit anderen Ausprägungen lediglich TEIL von Vielfalt ist.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Nach dem „Kopftuchurteil“ des Bundesverfassungsgerichts – Staat, Gesellschaft, Religion und die Vielfalt im 21. Jahrhundert. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/kopftuchurteil-bverfg-januar-2020, Eintrag 29.02.2020 [Absatz Nr.].
„Es geht prinzipiell nicht nur um das Kopftuch (bis hin zum Niqab), man könnte die Kippa anführen, oder den Dastar, den Turban der Sikhs.“
Das Tragen von Kopftüchern ist im Übrigen auch nicht nur im Islam üblich, sondern ebenso im orthodoxen Judentum (bei verheirateten Frauen). Das kann man z. B. auch in Berlin sehen.
https://en.wikipedia.org/wiki/Tichel