Der folgende Text stellt den Abschlussvortrag zur Tagung „Europäische Grenz- und Begegnungsräume im Wandel“ dar.
[1] Grenzen jeglicher Art empfinden wir heutzutage meistens als lästig, weil sie uns aufhalten. Das gilt in Bezug auf Staatsgrenzen, deren Überschreitung ggf. mit Kontrollen, sprich Wartezeiten verbunden ist, eventuell auch mit einem höheren Aufwand, wenn ein Visum benötigt wird. Das hält nicht nur auf, sondern auch die Motive, die diese Hindernisse begründen, haben mit den Motiven der allermeisten Menschen, die an eine solche Grenze kommen, nichts zu tun.
[2] Innerhalb des Europas der Europäischen Union haben wir uns an die Freiheiten des Binnenmarkts gewöhnt, das Weiterbestehen der Grenzen der Mitgliedsstaaten stört im Normalfall nicht. Auch wenn aktuell die Option zeitlich begrenzter Grenzkontrollen im sogenannten Schengenraum gezogen wird, bleibt festzuhalten, dass nicht alle Schengen-Mitglieder diese Option ziehen, und die sie ziehen, kontrollieren nur punktuell – ein Vergleich mit dem früheren Grenzregime in Europa wäre nicht angemessen.
[3] Das mit dem Namen des luxemburgischen Örtchens Schengen verbundene Prinzip, unter bestimmten Bedingungen auf Grenzkontrollen zu verzichten und auf das sich erstmals 1985 eine Reihe von Staaten einigten, war von Anfang an mit einem anderen Prinzip verbunden, nämlich dass der Schengenraum einen Raum bildet, wo das traditionell nationale Hoheitsrecht der Grenzkontrolle an die Raumaußengrenzen verschoben wird. Dieses Prinzip wird nicht infrage gestellt, seine Realisierung wird jedoch logischerweise eingefordert und auf seine Vollzugs-Defizite reagiert. Insoweit kann, zumindest vorerst, festgestellt werden, dass – auf der Folie der Geschichte der Entwicklung harter und fix kontrollierter Staatsgrenzen – in Europa in den vergangenen 30 Jahren ein historischer Paradigmenwechsel eingetreten ist.
[4] Weiteres lässt sich feststellen: Soziale Grenzen wurden abgebaut, ihr Ursprung in sozialen Konstruktionen, deren praktische Grundlagen im Zuge der Modernisierung entfallen sind, aufgezeigt, was so viel bedeutet, wie ihre Kontraproduktivität klarzustellen. Geschlechtergrenzen wurden ebenso dekonstruiert, dasselbe gilt für ethnische Grenzziehungen, sodass sich Begriffe wie „Rasse“ als entbehrlich erweisen.
[5] Wie diese Tagung gezeigt hat, können wir uns mit Grenzwerken und -befestigungen, deren Zweck es gewesen war, den jeweils anderen Macht- oder ideellen Geltungsansprüchen harte Grenzen zu setzen, in der Perspektive des europäischen Kulturerbes auseinandersetzen. Die historischen Zwecke, die mit dem realen Verlust vieler Menschenleben verbunden waren, sind historisierbar, sie sind wie im Fall der Berliner Mauer, Teil einer Gedenkkultur bzw. einer inzwischen nicht mehr nur europäischen Geschichtskultur. Ein Element der Berliner Mauer steht in Brüssel vor dem Gebäude der EU-Kommission und bezeichnet den konstitutiven Charakter des Falls der Mauer und darüber hinaus des Eisernen Vorhangs für die jüngere Integrationsgeschichte – wir finden aber solche Elemente auch verstreut über den Globus. Ich erinnere mich sehr gut an ein solches Element, auf das ich ganz unvorbereitet in einer Einkaufspassage im kanadischen Montréal stieß. Und das ist ein beliebiges Beispiel.
[6] Ohne einen zwingend ursächlichen Zusammenhang behaupten zu wollen, lässt sich im Bereich von Wirtschaft und Handel feststellen, dass seit 1989 weltweit mehr multilaterale Freihandelsabkommen geschlossen wurden als zuvor und dass die Tendenz, die vielen kleineren und größeren Wirtschaftsräume zu einem letztlich Weltbinnenmarkt zu vernetzen, anhält.
[7] Dagegen lässt sich einwenden, dass das Schönfärberei ist, denn wir haben die Gegenkräfte und machtvolle Vertreter einer Politik des Errichtens von Grenzen aller Art unmittelbar vor Augen. Inzwischen umgeben sich rund 60 Staaten mit Zäunen oder Mauern und ähnlichen Grenzbefestigungen; alle aufzählbaren Gegenkräfte lassen sich im Übrigen mithilfe der Politik einer einzigen Person aufzeigen: Donald Trump.
[8] Für alles, was ich gerade in Bezug auf Entgrenzung anskizziert habe, lassen sich Gegenbeispiele nennen. Historisch gesehen handelt es sich jedoch sowohl in Bezug auf Europa wie die Welt um eine gewohnte Konstellation. Das Entgrenzen wie auch das Begrenzen stellt eine Kulturmethode dar, die zweifellos äußerst ambivalent, aber womöglich nicht hintergehbar ist, weil sie zur Grundausstattung des Menschen gehört. Soweit unsere Quellenbelege zurückreichen, können oder müssen wir immer feststellen, dass Menschen Grenzen jeglicher Art gezogen haben – um sie irgendwann in Frage zu stellen, zu dekonstruieren und durch ganz andere Grenzen zu ersetzen.
[9] Kulturgeschichtlich betrachtet gehören das Errichten wie das Abbauen von Grenzen aller Art wesentlich zur Produktion von Sinn und Bedeutung. Grenzen jeglicher Art wurden und werden materialisiert. Dabei kann es sich um einen Grenzstein, einen Schlagbaum, eine Mauer handeln, es kann sich räumlich um die Einhaltung von Abständen handeln, z. B. wenn der Untertan vor seinen Herrn trat, es kann sich um soziale Grenzen handeln, die durch Kleidungsgebote oder Kleidungsverbote oder, wie heutzutage, durch modische Zeichensetzungen, ausgedrückt werden, es kann sich um Segregation, Ghettoisierung und Apartheid handeln, also Techniken räumlicher Materialisierung. Aus naturräumlichen Gegebenheiten werden sogenannte natürliche Grenzen konstruiert – und immer wurde und wird gewusst, dass kulturell gesehen das Einhalten wie das Verletzen von Grenzen jeglicher Art untrennbar zusammengehörte.
[10] Es ist daher kulturhistorisch auch kein Unterschied zu machen zwischen Grenzen, die als Staatsgrenzen materialisiert sind, und sozialen oder anderen Grenzen. Ihre Funktion ist kulturell eigentlich immer dieselbe – und zwar oft gegen den Willen der Menschen, die konkrete Grenzen bauen, imaginieren, konstruieren und diese wollen –, nämlich die eines kulturellen Movens. Kultur entsteht, so könne man formulieren, aus dem ewigen Spiel von Abgrenzung und Entgrenzung. Jedenfalls in Europa und in seinen Beziehungen zur Welt.
[11] Diese Funktion hatte schon Rousseau erkannt. [Das Folgende greift den Blog vom 13.12.2017 zu Rousseau auf] Würde die Kultur Europa ohne die Vorstellung und ohne die Realität von Grenzen funktionieren? Folgt man Rousseau in seinem preisgekrönten „Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes“ von 1754, müsste die Antwort „nein“ lauten. Rousseaus berühmter Satz: „Le premier qui, ayant enclos un terrain, s’avisa de dire: Ceci est à moi, et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile.“ (1. Satz des 2. Teils des Discours, 1754).
[12] Nach Rousseau (sinngemäß) ist die Entstehung von Zivilisation an die Entwicklung immer weiterer Unterscheidungsmerkmale und -kriterien gebunden. Das Umgrenzen im engeren Wortsinn eines Territoriums und dessen Erklärung zum Eigentum begründet in einem bereits fortgeschrittenen Zivilisationsstand die bürgerliche Gesellschaft, die keine Gesellschaft mehr im Naturzustand ist. Zugleich stellt er diesen Gründungsakt als Akt der Überlistung dar. Die bürgerliche Gesellschaft kennzeichnet die Zivilisation der eigenen Zeit Rousseaus.
[13] Rousseaus Discours versteht sich als allgemeine Zivilisationstheorie, nicht nur als europäische, in der er allerdings verortet ist. Um seine implizite Grundthese, dass die vielen Erscheinungsformen des Sichabgrenzens das Movens der Zivilisationsentwicklung sind, zu überprüfen, müsste man einen umfassenden Zivilisations- oder Kulturvergleich anstellen, den ich oben im Vorspann angedeutet habe. Dass das Sichabgrenzen eine wichtige Rolle spielte, ist unbestreitbar, aber in welchem Umfang geschah das? Und gehört es zur Grundausstattung menschlicher Wahrnehmung und kultureller Entfaltung?
[14] Rousseaus Ansatz beinhaltet eine Prämisse, nämlich, dass jede Abgrenzung oder Grenzziehung und in der Folge Grenzüberschreitung im Kern dasselbe Phänomen bezeichnet, dem das Schlagwort „Grenze“ gegeben werden kann. Für Rousseau führte das Sichabgrenzen, anfangs des Menschen vom Tier in einem selbstreflexiven Prozess, zur Ungleichheit zwischen den Menschen, die er bedauert. Seine zivilisationsgeschichtliche Rekonstruktion, wie es dazu gekommen ist, macht die herrschende Ungleichheit zu einem hintergehbaren Phänomen, dem der Mensch mitnichten machtlos ausgeliefert ist. Er verbindet die Kategorie der Grenze genuin mit Machtverhältnissen, woraus negative Bedeutungskonnotationen resultieren.
[15] Wenn das Sichabgrenzen das Movens der Zivilisationsentwicklung ist und zugleich zu Machtverhältnissen führt, wird Kultur oder Zivilisation zum Ausdruck von Machtverhältnissen, das Studium einer Kultur wird zum Studium von Machtverhältnissen.
[16] Auf den ersten Blick scheint das verkürzend und womöglich überholt, da wir uns im Jahr 2018 befinden, und Rousseau 1754 auf dem Hintergrund eines sehr viel begrenzteren empirischen Wissens um die Entstehungsgeschichten von Zivilisationen schrieb. Auf den zweiten Blick erweist sich aber die Erklärungskraft seines Denkschemas, wenn man es konsequent auf die Kultur Europa anwendet.
[17] Jegliche Art von Abgrenzung oder Grenzziehung hat einen mindestens doppelten Effekt, wie eingangs bemerkt: den der Abgrenzung und den der Infragestellung der Abgrenzung. Zugleich schafft jegliche Grenze einen Raum um sich, der zum Begegnungs-, zum Übergangs-, zum Übersetzungsraum oder zum Konflikt- und Kampfraum werden kann. Das gilt für politische Hoheitsgebiete wie für die Gesellschaft wie für die Wirtschaft wie für die Religion etc.
[18] Was bedeutet Grenze oder Grenzziehung jeglicher Art? Zum einen handelt es sich um eine grundlegende Vorstellung, mit der die nähere und fernere Welt imaginär eingeteilt und unterteilt wird, um sie irgendwie verstehen zu können. Das ist ebenso ein individueller und subjektiver Vorgang wie es auch ein Vorgang kollektiver Konstruktion ist.
[19] Grenzen umgrenzen physisch etwas, was eine distinkte Einheit darstellt; das geht vom Garten bis zum Staat. Es handelt sich um künstliche Grenzziehungen, die nur kulturell erklärbar sind und nur als kulturelles Phänomen Sinn machen, auch dann, wenn sie die Grundlage von Politik geworden sind.
[20] „Natürliche Grenzen“ sind praktisch imaginär, sie bezeugen einen Blick auf die Natur, der gänzlich von Imaginationen und Fantasien bestimmt ist. Weder Bergketten noch Flüsse noch Meere noch Wüsten noch Urwälder noch die Erdatmosphäre haben jemals Menschen vom Vorwärtsgehen abgehalten. „Natürliche Grenzen“ gibt es nicht, es gibt nur vom Menschen gemachte, die er materialisiert hat oder die in seiner Vorstellung existieren und verhaltensbestimmend werden.
[21] Die Grenzziehung gilt auch für den Einzelnen. Ihm werden Grenzen gezogen, er oder sie zieht sich selber Grenzen – und beides wird nach Bedarf überschritten und überwunden. Grenzziehungen dienen der Identifizierung, ohne Grenzziehung keinerlei Identität.
[22] Trotzdem ist dies alles nicht naturgegeben, das ist vielleicht die wichtigste und beständigste Erkenntnis aus Rousseaus Discours. Selbst wenn die menschliche Wahrnehmung tatsächlich nicht ohne Grenzziehungen funktioniert, so sagt dies nichts über Umfang und Ausmaß und Unverrückbarkeit aus. Zumindest dies alles ist kulturell und daher unstet. Kulturell ist auch, ob dem Raum, den jegliche Grenzziehung schafft, die größere Bedeutung zugemessen wird, oder der harten Abgrenzung, die Räume der Begegnung und des Übergangs reduziert, ihnen den Rücken zukehrt oder einfach eine Mauer errichtet. Das gilt immer in Bezug auf materialisierte und territoriale Grenzen, in Bezug auf psychische, in Bezug auf alle imaginierten Grenzen. Soziale Kollektive grenzen sich ab, um identifizierbar zu werden, aber ob sie das in offener und inklusiver oder exklusiver Weise tun, ist eine Frage optionalen kulturellen Verhaltens.
[23] Was heißt das alles mit Blick auf die Kultur Europa?
[24] Über Jahrhunderte wird die Kultur Europa von einer Dynamik immer neuer und weiterer und immer rigiderer Grenzziehungen gekennzeichnet. Dies hat einesteils mit der forschenden Wahrnehmung der Welt insgesamt und der europäischen Welt insbesondere zu tun, andernteils hat es mit der Ausweitung bzw. Bekämpfung von Macht zu tun. Seit einigen Jahrzehnten hingegen wird die Kategorie der Grenze fundamental hinterfragt, sodass zu diskutieren sein wird, ob Grenze die zentrale Funktion eines Movens der Zivilisationsentwicklung verliert. Im Moment handelt es sich häufig um ein Vortasten, gefolgt von Rückzügen und neuen Anläufen.
[25] Einige Beispiele:
[26] Das deutsche Bundesverfassungsgericht entschied am 8. November 2017, dass im Geburtsregister nicht zwingend eines von zwei Geschlechtern (männlich oder weiblich) einzutragen ist, sondern dass dies auch intersexuell oder divers sein kann. Dass der Mensch durch eine eindeutig abgrenzbare Geschlechtsidentität bestimmt würde, hat sich erst spät, in der Aufklärung, als allgemeine Geschlechtertheorie durchgesetzt. Diese Grenzziehung, die in eine bürokratisch verpflichtende Grenzziehung eingebracht wurde, wird damit infrage gestellt. Zugleich verliert die Vorstellung, dass Geschlecht so sehr Identität grundlegt, dass es immer mit ausgedrückt werden muss, an sozialer Verbindlichkeit.
[27] Die in der Aufklärung ausgefeilte Theorie von zwei Geschlechtsidentitäten schuf gesellschaftliche Machtverhältnisse, die heute unter dem Stichwort „hegemoniale Männlichkeit“ bzw. noch ausdruckstärker unter dem Stichwort „toxische Männlichkeit“ erforscht werden (Schmale, Geschichte der Männlichkeit; Enderlin-Mahr, Toxische Männlichkeit). Die jüngste Entwicklung zeigt die Infragestellung dieser Machtverhältnisse, die auf einer strikten Abgrenzung der Geschlechter voneinander beruhten.
[28] Mit dem Schengen-Abkommen von 1985 wurde in Europa (EG/EU/Europa) eine Relativierung einer der historischsten Formen von Grenze eingeleitet, der Staatsgrenze. Diese besteht juristisch fort mit allen Implikationen, aber sie hält, von Ausnahmesituationen abgesehen, die Menschen bei ihrer Mobilität im Raum nicht mehr an. Dies findet seine Fortsetzung im Binnenmarkt, in dem auch Waren und Kapital und konkret Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht mehr angehalten werden, sondern zollfrei und frei fließen bzw. ihre Dienste anbieten können. Für alle gelten dieselben Regeln und Vorschriften, diese wechseln im Binnenmarkt nicht mehr an der Grenze bzw. enden dort nicht mehr.
[29] Schengen und Binnenmarkt beenden im Hinblick auf historische Grenzziehungsdynamiken verschiedene Epochen. Zollgrenzen reichen ins Mittelalter zurück, Staats- oder Reichsgrenzen wie der Limes in die Antike, Arbeitsmigration unterlag immer wechselnden Regimen, war aber noch nie so freizügig wie im EU-Binnenmarkt.
[30] Auch damit werden eindeutig historische Machtverhältnisse, nämlich zwischen den Nationalstaaten untereinander, infrage gestellt und abgebaut. Dazu kommt, dass die EU als Friedensraum die Verschiebung von Landesgrenzen ausschließt und als einheitlicher Raum die klassische Grenzproblematik zwischen Staaten bzw. Nationalstaaten zum Verschwinden bringt. Faktisch sind alle Gründe, die früher das Verlangen nach Veränderung der Staatgrenze auslösten, ad absurdum geführt worden.
[31] Natürlich kann man nie wissen, was wird: Das Vereinigte Königreich verlässt diesen Raum; andere erwägen den Austritt aus ihrem Staatsverband wie Katalonien oder Schottland, aber diese würden nach einem Austritt in der EU bleiben oder umgehend eintreten wollen, wieder andere sind nach Volksentscheiden nicht beigetreten wie Norwegen und die Schweiz. Es ist 25 Jahre her, dass sich die Tschechoslowakei in zwei Staaten teilte, aber beide sind EU-Mitglieder. Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens sind teils Mitglied der EU oder auf dem Weg dorthin, mit vorläufiger Ausnahme des Kosovo. Aus Sicht des Friedensraums EU spielen sich Grenzkonflikte wie früher in der ganzen europäischen Geschichte an der Peripherie in der Nachbarschaft ab und machen, wie die Annexion der Krim durch Russland einen anachronistischen Eindruck, weil dort immer noch geglaubt wird, entscheidend sei der staatliche Besitz einer Region.
[32] Rousseaus Ausgangsbeispiel war der Vorgang der Ab- und Eingrenzung, um das Eigentum an einem Stück Land zu behaupten. Eigentum zählt im Europa des 21. Jahrhunderts unverändert zu den verfassungsmäßig garantierten Grundrechten, im sozialen Verhalten treten aber signifikante Veränderungen auf: die Kultur des Teilens. Carsharing, Jobsharing, sharing economy, usw. usf. sind bekannte Schlagworte. In den digitalen Medien, speziell den sogenannten Sozialen Medien, spielt das Teilen eine geradezu konstitutive Rolle. Eine unspezifische Suche nach „Kultur des Teilens“ im Web produziert in erster Linie Links zu Seiten, die Teilen und Digitalität behandeln. Hinter open access steht die Philosophie des Teilens, ebenso wie hinter Crowdfunding und dem Crowdsourcing, das zu einer Stütze der Public History geworden ist. Die Erosion des Urheberrechts gehört zur Kultur des Teilens dazu, und an diesem Beispiel zeigt sich, dass eine Kultur des Teilens ggf. nicht weniger mit Machtausübung zu tun hat als die Kultur der Grenze. Keine Kultur hat nur positive Seiten, ebenso wenig also die Kultur des Teilens.
[33] Auch das Europäische Kulturerbejahr 2018 ist unter das Stichwort „sharing heritage“ gestellt worden. Hier bezieht sich das Teilen darauf, dass das kulturelle Erbe nicht mehr bzw. nicht mehr nur national identifiziert wird, sondern seine Bedeutung in der individuellen Betrachtung und/oder in der gemeinsamen grenzüberschreitenden Pflege erlangt. Sowohl das europäische Kulturerbesiegel wie auch der Status als UNESCO-Welterbe sind Ausdruck dieser modernen Kultur des Teilens. Das schließt das Fortdauern einer nationalen Bedeutung und Relevanz einer Kulturstätte nicht aus, aber diese Bedeutung ist nur eine unter mehreren, die von Menschen aus aller Welt geteilt werden können.
[34] Viele Orte der Kultur erstrecken sich über mehrere Epochen und haben ihre Bedeutung jeweils gewandelt; hier findet keine isolierte Identifizierung mehr statt, sondern es werden die verschiedenen historischen Bedeutungen sichtbar gemacht. Religiöse kulturelle Orte haben oft sukzessive verschiedenen Religionen gedient [Das Folgende greift den Blog vom 16.7.2017 ab Abs. 35 auf]. Tempel wurden zu Kirchen, diese zu Moscheen, und dann vielleicht wieder zur Kirche… Die Ausmerzung der früheren Bedeutungen war gängige Praxis der „Siegerreligion“, eine Machtdemonstration, die auf der vollständigen Ausgrenzung der anderen Bedeutung beruhte. Sharing Heritage hebt diese Machtfunktion der Ausgrenzung auf.
[35] Die genaue Abgrenzung nach „mein“ und „dein“ wird aufgeweicht, da sie sozial unproduktiv wird bzw. wird vieles, was eigentlich gar nicht „mein“ oder „dein“ ist, zu „mein“ und „dein“ gemacht. Man kann dies als Phänomen der Personalisierung bezeichnen, das uns in Gestalt personalisierter Werbung im Internet bekannt ist, das sich aber freilich nicht darauf beschränkt. Ich möchte dies kurz am Beispiel der Wortkombination „mein Europa“ ausführen, die eine individuelle Aneignung suggeriert, welche Europas historische „Kultur der Grenze“ in den Bereich des musealisierten Kulturerbes zu verweisen scheint.
[36] [Das Folgende greift den Blog vom 1.2.1018 Praxeologie I auf] Zunächst mag erstaunen, dass „mein Europa“ schon im 19. Jahrhundert wenigstens vereinzelt vorkommt, es scheint aber eher satirisch verwendet worden zu sein, um das Europa der nationalen Vorurteile und Grenzziehungen aufzuspießen. Unschwer lassen sich für die letzten 20 Jahre und insbesondere für die letzten 5 bis 10 Jahre eine Reihe von Buchtiteln identifizieren (die folgende Liste beinhaltet keinerlei Bewertung des Inhalts, es geht nur um den Gebrauch der Kombination im Buchtitel, also an prominenter Stelle): „Mein Europa“ (1999); „Mein Europa: Auf der Suche nach Sicherheit und Freiheit“ (1999); „»Mein Europa«. Texte der amerikanischen Schriftsteller Louis Begley, Stewart O’Nan, Robert Coover und Scott Bradfield“ (2001); „Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa“ (2004); „Mein Europa ist überall: wie haben Spanier, Franzosen und Briten die Welt geprägt?“ (2008); „Mein Europa: wissen, verstehen, mitreden; mit Informationen zum Vertrag von Lissabon“ (2010, auch 2013); „Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers“ (2013); „Mein Europa. Reden und Aufsätze [Helmut Schmid]. Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer“ (2013); „Mein Europa: Werte, Überzeugungen, Ziele in Zitaten“ (2015); „Mein Europa: Sechzig biografische Streifzüge 1955-2015“ (2015); „Mein Europa – quo vadis?“ (2015). Die Süddeutsche Zeitung (SZ) brachte 2014-2015 zusammen mit der Körber-Stiftung einer Serie von Gastbeiträgen junger Leute unter der Rubriküberschrift „Mein Europa“. Meinen Europablog, den ich seit 2015 betreibe, habe ich ebenfalls unter den Obertitel „Mein Europa“ gesetzt.
[37] Bevor „mein Europa“ prominent in die Buchtitel wanderte, existierte „mein Europa“ als Kapitel- oder Buchteilüberschrift in Inhaltsverzeichnissen. Der dritte Teil von Paul Cohen-Portheims Buch „Die Entdeckung Europas“ (1933) ist mit „Mein Europa“ betitelt. Es gibt weitere Vorläufer wie Peter Härtlings Essay „Mein Europa“, den er zu einem von Thilo Koch 1973 herausgegebenen Essayband beisteuerte. Der Band trägt den Haupttitel „Europa persönlich“ (Untertitel: Erlebnisse und Betrachtungen deutscher P.E.N.-Autoren [siebzehn Schriftsteller fragen, schildern und bekennen]). Im Jahrgang 1982 der Zeitschrift „Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“ wurde der Essay „Mein Europa“ von Léopold Sédar Senghor abgedruckt. Noch ein Essay „Mein Europa“ stammt von Zafer Şenocak (2001) und Hans-Christian Riechers trug mit einem kurzen „Mein Europa der Grenzen“ zu einem Essay-Sammelband (2008) bei.
[38] Hintergrund bei diesen Büchern, Sammlungen und Essays ist mehrheitlich ein Beruf (Schriftsteller, Journalist, Politiker, Unternehmer, Wissenschaftler), der Mobilität, speziell auch im europäischen Raum mit sich bringt und insoweit für ein gelebtes oder erfahrenes „mein Europa“ sorgt.
[39] Die Wortkombination „mein Europa“ innerhalb von Texten deutet (willkürlich durchgeführten Stichproben zufolge) kaum auf ausgearbeitete Konzepte, sondern mehr auf eine emotionale Sprachgeste hin, die aber häufiger wird. Was sich am Deutschen untersuchen lässt, funktioniert genauso gut mit anderen Sprachen. Gibt man auf Twitter den Hashtag „MyEurope“ oder „MonEurope“ ein, erhält man weitere Hinweise auf entsprechende Publikationen oder eben Tweets, in denen höchst unterschiedliche „MeinEuropa(s)“ auftauchen.
[40] Die Wortkombination „Mein Europa“ ist ein Zeichen für eine individuelle Aneignung Europas, die vor einigen Jahrzehnten kaum Sinn gemacht hätte und die entsprechend früher nur vereinzelt auftrat – im Gegensatz zu den letzten Jahren. Ich sehe dies als ein Element unter vielen anderen, die die Kultur des miteinander Teilens charakterisieren. Diese Kultur ist prinzipiell inklusiv. Bestimmte aus der Geschichte bekannte Grenzziehungen und Abgrenzungen erweisen sich mittlerweile als dysfunktional oder besitzen wie die Staatsgrenzen im Schengenraum bzw. im Binnenmarkt nur mehr die Eigenschaft einer Reserveoption, die gezogen wird, wenn Gefahr im Verzug ist, die aber nicht mehr den Alltag bestimmt.
[41] Bis zu einem gewissen Grad hat sich Europas „Kultur der Grenze“, wie wir sie aus der längsten Zeit der europäischen Geschichte kennen, nach dem Zweiten Weltkrieg in eine „Kultur des Teilens“ transformieren können. Dies war möglich, weil sich Europa auf die eigene kulturelle Entwicklung konzentrieren konnte, die üblicherweise als Europäische Integration bekannt ist.
[42] Inzwischen hat sich jedoch das Umfeld Europas, gerade auch im geografischen und geopolitischen Sinn, stark gewandelt, es ist vom Donbass über die Türkei und den Nahen Osten bis in den Maghreb-Raum hinein instabil geworden. Die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Kultur des Teilens steht vor ihrer Bewährungsprobe, denn sie hatte eines zur Voraussetzung, was von Anfang nicht in Europa lag: stabile Staaten in der Nachbarschaft und unter Kontrolle gehaltene Konflikte.
[43] Kaum hat sich dieses Umfeld zum Nachteil Europas geändert und ist Europa durch ein Ansteigen von Zuwanderung betroffen, beginnt das Spiel mit der Abgrenzung erneut. Dass die EU ihre Außengrenzen kontrollieren können möchte, ist dabei nicht das Problem. Eher problematisch ist, dass die Kultur des Teilens vorwiegend auf Europa beschränkt blieb und an ethnischen sowie religiösen Ab- und Ausgrenzungen ‚nach außen‘ festhielt. Immerhin, so kann man feststellen, wird darüber öffentlich und kontrovers debattiert, es ist folglich nichts verloren.
[44] Wenn meine These stimmt, dass sich Europa, vor allem und beschleunigt nach dem Zweiten Weltkrieg, von der historisch zunächst vorgefundenen Kultur der Grenze zu einer Kultur des Teilens entwickelt hat, dann wird deutlich, dass im Moment sehr viel auf dem Spiel steht. Das Verbalisieren sowie Materialisieren von Abgrenzungen wird von bestimmten politischen und gesellschaftlichen Formationen vehement betrieben und verändert die Kultur Europa wieder zu einer Kultur der Grenze. Niemand kann vorhersagen, bei welchen Abgrenzungen und Grenzziehungen das enden wird.
[45] Sharing Heritage als leitender Slogan im europäischen Kulturerbejahr hält dem entgegen den Aspekt des Teilens hoch, und das Teilen hat inklusiven Charakter. Es bezieht sich auf Europa – kulturelles Erbe, wo auch immer in Europa, ist unser aller Erbe, das ist sozusagen die Philosophie dahinter. Es betrifft aber auch den Tourismus, der nicht nur europäisch ist. Kulturtourismus ist, auch wenn man keineswegs die Augen vor manchen negativen Aspekten verschließt, eine Praxis des Teilens – weshalb Terrorgruppen wie der IS und andere Kulturstätten zerstört haben und zerstören. Der Terror richtet sich gegen die Kultur des Teilens, nicht nur bezüglich des kulturellen Erbes, sondern auch in Bezug auf Gesellschaft und Politik.
[46] Geradezu unversehens führt uns also das europäische Kulturerbejahr an eine Weggabelung: Der eine Weg führt in eine Kultur der Grenze, da aber gleich nach der Gabelung eine erste Kurve folgt, können wir nicht sehen, wohin genau er führt und ob es nicht ein Umweg zurück ist. Der andere Weg setzt den, auf dem wir uns zuletzt befunden haben, fort, der Weg der Kultur des Teilens.
[47] Ohne diesen zwei Tagen an Vorträgen und Diskussionen ein einfaches Label verpassen zu wollen, glaube ich doch, dass sie das Werden und das Funktionieren einer Kultur des Teilens recht eindrucksvoll ausgewiesen haben, wofür ich mich bei allen Mitwirkenden sehr herzlich bedanken möchte.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Die Kultur der Grenze in Europa . In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, https://wolfgangschmale.eu/kultur-der-grenze, Eintrag 14.04.2018 [Absatz Nr.].