Das Jahr 2022 dürfte eines jener Jahre sein, die aufgrund der Vielzahl von Weichenstellungen epochalen Charakter haben und als symbolisches Datumsjahr für einen Epochenwechsel stehen.
Der Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 hat den Krieg in einer Weise nach Europa zurückgebracht, wie es niemand erwartet hatte und auch nicht erwarten konnte.
Die Zahl der von russischen Truppen begangenen Kriegsverbrechen ist enorm und die Verbrechen werden von der russischen Regierung und dem Präsidenten gedeckt, geduldet und offiziell abgestritten. Der russischen Politik und dem russischen Militär (und seinen Helfern) gilt ein Menschenleben nichts. Das bezieht sich auf die Ukrainische Bevölkerung genauso wie auf die eigene Bevölkerung. Schlecht ausgebildete und schlecht ausgerüstete Rekruten werden an die Front geschickt, wo sie zu Tausenden sterben. In der Föderation selber wird der geringste Widerspruch gegen den Krieg mit Gefängnis und Lagerhaft bestraft. Die Zahl der ‚ungeklärten‘ Todesfälle bei Personen, die eigentlich dem Regime nahestanden, aber sich wegen des Krieges davon ein wenig oder auch mehr distanziert haben, steigt. Alles wird als Waffe eingesetzt; das gesamte Netz internationaler Beziehungen und Verflechtungen, gerade auch im wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Bereich wird, wo es geht, eingerissen. Doch noch hält es.
Die europäischen und allgemein westlichen Demokratien haben sich als stabilisierende politische und ökonomische Akteurinnen erwiesen. Sie haben die Kraft gefunden, moralische Kriterien über wirtschaftliche Interessen, unter denen billiges Gas und Öl sowie Kohle in der Vergangenheit eine Hauptrolle spielten, zu setzen.
In der EU ist klar geworden, dass die Epoche der EU als Softpower vorbei ist. Putins Krieg gilt nicht nur der Ukraine, sondern auch dem demokratischen Westen. Irgendwann wird der Krieg zu Ende sein, aber die internationale Lage wird eine völlig veränderte sein. Für die EU heißt das, dass sie ihre Raison d’être zwar nicht neu definieren, aber modifizieren muss. Die Friedensaktien, auf die nach dem Ende des Kalten Krieges Friedensdividenden gezahlt wurden, gibt es nicht mehr. Das Unternehmen Frieden ist in Konkurs gegangen, weil die Verhältnisse so waren und sind, dass ein einziges Land und im Grunde ein einzelner Machthaber – Putin – darüber entscheiden kann, ohne aufgehalten werden zu können.
Das soll heißen, dass es besser ist, sich keinen Illusionen hinzugeben, der Frieden kehre wieder, wenn der Krieg Russlands gegen die Ukraine beendet sei. Wie soll der Frieden gestaltet werden? Darauf haben nicht einmal die eine Antwort, die zu Recht auf Gespräche drängen. Da sich Russland schon jetzt immer enger an zwei/drei Hardcore-Diktaturen anlehnt (Iran und Nordkorea sowie Belarus), für die Menschenleben nicht mehr gelten als ein Grashalm, auf den man beim Gehen tritt, wird es höchstwahrscheinlich nur ein einziges Sicherheitsszenario geben, das der Ukraine in Zukunft Sicherheit garantiert – die Mitgliedschaft in der Nato und natürlich in der EU. Für einen Neutralitätsstatus à la Österreich dürfte es zu spät sein.
Ist die EU 2022 vorangekommen?
Es wird sich erst nach und nach zeigen, ob die EU aus 2022 gelernt hat und vorangekommen ist bzw. vorankommen wird. Den Beitritt der Westbalkanstaaten sowie der Ukraine und Moldowas fester zu betreiben, ist richtig, aber es muss gemacht werden. Das demokratische Europa hat sich als Stabilitätsfaktor erwiesen, aber die Demokratie verändert sich in bedenklicher Weise, da immer mehr illiberale Elemente implementiert werden. Das betrifft nicht nur Polen und Ungarn. Weder die Schwedendemokraten noch die Fratelli d’Italia (plus Lega und Forza Italia) noch die vielen anderen Rechtsparteien mit Hang zu extremen Positionen, die es in allen europäischen Ländern gibt und die bei Wahlen dazu gewinnen, tragen zur Demokratie bei. Zum Teil sind es nur die Milliarden aus EU-Töpfen, die das Schlimmste verhindern, weil sie nicht bedingungslos zu bekommen sind.
Immer mehr und höhere Zäune werden an den EU-Außengrenzen errichtet, das schon lange gebräuchliche Wort von der „Festung Europa“ bezeichnet immer treffender die Realität. Auch in diesem Zusammenhang muss festgestellt werden, dass Menschenleben immer weniger gelten. Wo ist der Humanitarismus geblieben? Es wird so getan, als sei humanes Verhalten gegenüber Flüchtlingen das eigentliche Hindernis, ohne das es kaum Flüchtlinge gäbe.
Das Thema Flüchtlinge bringt die ideologischen Gräben, die in der EU bestehen, besonders deutlich ans Tageslicht. Dazu kommt dann oft die gegenseitige Häme. Der Vorwurf, Deutschland habe sich zu sehr von billigem russischen Gas abhängig gemacht und nun sei das deutsche Wirtschaftsmodell gescheitert, war schnell bei der Hand. Inzwischen hat sich gezeigt, dass praktisch alle Mitgliedstaaten im Energie- und anderen Sektoren ebenso einseitig agiert haben. Frankreichs Atomstrom? Eher eine Chimäre, denn real vorhanden. Die Trockenheit (unter anderem) aufgrund des Klimawandels war schlicht nicht einkalkuliert worden, so als würde Kühlwasser aus den Flüssen unbegrenzt zur Verfügung stehen bzw. könne eine Überhitzung der Flüsse durch Einleitung des Kühlwassers, das nach getaner Arbeit nicht mehr kühl ist, gar nicht eintreten. Länder wie Schweden, die stark auf Energie aus Wasserkraft gesetzt haben, haben lernen müssen, dass sie zu sehr davon abhängig sind und der Klimawandel vor Skandinavien nicht Halt macht.
Es ist unnötig, dies im Detail zu beschreiben; es ist klar, dass es in vielen Bereichen mehr Europa braucht, damit sich alle untereinander, wenn nötig, aushelfen können. Das betrifft die Raison d’être der EU. Die immer noch hochgehaltene Pflege des Nationalen und einer vermeintlichen nationalen Souveränität, die gar keine ist, hat den Effekt, dass die Zahl der Totengräber der EU nur anschwillt – die wollen alle beschäftigt sein; also schaufeln und schaufeln sie.
Maßnahmen gegen den Klimawandel waren 2022 ein großes Thema, in der Praxis kam es kriegsbedingt zu einer Renaissance von Gas, Öl, Kohle und Atomstrom. Dennoch zeichnet sich ab, dass 2022 einmal in der Rückschau als Boosterjahr für die Umstellung auf erneuerbare Energien gelten könnte. Nie war der Druck höher, von den fossilen Energien wegzugehen.
Vielen sind die Veränderungen nicht radikal genug. Aber ohne stabile Staaten, Gesellschaften und Ökonomien rutscht das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad C. zu begrenzen, erst recht in weite Ferne.
Zuversichtlich stimmt, dass alle Krisen der vergangenen 15 Jahre seit der Finanz- und Schuldenkrise ab 2008 beherrscht werden konnten. In erster Linie, weil die Menschen in Europa besonnen geblieben sind. Selbst das „Durchwurschteln“ in der Covid-19 Pandemie erweist sich nun in der Rückschau als überwiegend richtig, wenn man es mit der Null-Covid-Politik in China bis November und nun den Konsequenzen der völligen Politikumkehr vergleicht.
Durchwurschteln, ja, das können wir in der EU; keine Eigenschaft, für die es einen Pokal gibt, aber pragmatisch angesichts des Umstands, dass alle Träume von perfekten Problemlösungen nichts anderes als Träume sind, die niemals Wirklichkeit werden.
Dokumentation:
Wolfgang Schmale: Europa 2022 – Eine Bilanz. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europa-2022-bilanz, Eintrag 30.12.2022.