[1] Am 27. Dezember 2023 starb Jacques Delors im Alter von 98 Jahren. Delors war Präsident der EU-Kommission von 1985 bis 1995, in seine Wirkungszeit fielen die Einheitliche Europäische Akte 1986, der Vertrag von Maastricht 1992 und damit insgesamt die „Europäische Union“ als Nachfolgerin der „Europäischen Gemeinschaft“, die Wirtschafts- und Währungsunion sowie intensive Bemühungen um eine Sozialunion, die besonders am Vereinigten Königreich, das nach dem Brexit kein EU-Mitglied mehr ist, scheiterte.
[2] Delors steht für eine sehr dynamische Phase in der europäischen Integration, in die auch der Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs gehört. Sein Verständnis für Deutschland und die Wiedervereinigung auf der einen Seite und seine Kenntnis der französischen Politik und deren „Seelenzustände“ auf der anderen Seite trugen wesentlich dazu bei, dass aus dieser heißen Phase der europäischen Nachkriegsgeschichte viel Konstruktives für Europa gewonnen wurde. Dank Delors zog die deutsch-französische Lokomotive den europäischen Zug, zum letzten Mal für lange Zeit.
[3] Der Tod Jacques Delors zeitigte viele Würdigungen, Nachrufe und Rückblicke. Manch nostalgischer Ton mischte sich darunter, weil die „gefühlte EU“ des Jahres 2023 für Enttäuschung sorgt. In der internationalen Politik spielt die EU keine große Rolle. Man würde sich wünschen, sie könnte Substanzielles zur Lösung des Nahost-Konflikts beitragen; sie kann es nicht. Allerdings können das andere Länder auch nicht – und viele darunter wollen das auch gar nicht, während die EU es gerne tun möchte, wenn sie denn einen Hebel fände.
[4] Gegenüber 2022 hat sich die internationale Lage nochmals verschlechtert. Dies ist ein guter Grund, darüber nachzudenken, was alle in Europa (und außerhalb Europas) an der EU haben. Trotz aller politischen Polemik über „den Westen“ (vornehmlich die USA und die EU, inkl. Kanada, Australien, Neuseeland und Japan), der angeblich die Konflikte mit zweierlei Maß misst, dekadent und ohnehin im Niedergang sei, ist die Attraktivität dieses „Westens“ für Millionen von Menschen aus Ländern außerhalb Europas hoch. Trotz aller Beeinträchtigungen sind wirtschaftliche, soziale und rechtliche Stabilität sehr hoch, ein Leben vergleichsweise in Sicherheit ist nach wie vor garantiert, das EU-Europa führt keine Kriege, finanziert keine Terrororganisationen. Die militärische Unterstützung für die Ukraine, um sich gegen den Angriffskrieg und die Kriegsverbrechen der Russischen Föderation zu behaupten, geschieht öffentlich, nicht geheim. Wer das kritisieren will, bekommt alle Fakten öffentlich, muss nicht spekulieren, kommt schon gar nicht wegen Kritik ins Gefängnis. Die Unterstützung für Israel ist öffentlich, nicht geheim, auch die Kritik am Vorgehen der Regierung Netanjahu ist öffentlich. Wer das kritisieren will, hat alle Fakten öffentlich zur Hand. Der EU war und ist das Schicksal der Palästinenser*innen nicht egal. Es handelt sich nur um eine Minderheit von Staaten, von denen man das ebenso behaupten kann.
[5] Man lege die in Europa geltenden Maßstäbe auf den Iran, auf Syrien, auf die Türkei, auf Saudi-Arabien, China usw. an. Was bei dem Vergleich herauskäme? Das ist eine rein rhetorische Frage.
[6] EU-Europa baut keine Allianz mit Diktaturen, die über Atomwaffen verfügen; es sucht keine auf militärische Macht gestützte Hegemonie, es unterhält keine Söldnertruppen in Afrika oder woanders. Die EU ist durchaus anders als andere.
[7] Auf lange Sicht wird in der östlichen und südlichen Nachbarschaft der EU kein Frieden eintreten. Umso schärfer lässt sich konturieren, was all die Menschen, die in der EU leben, an der EU haben. Das muss erhalten werden und darf nicht aufs Spiel gesetzt werden.
[8] Viele Unwägbarkeiten stehen im Raum: Die Wahlen zum EU-Parlament Mitte 2024 könnten die nationalpopulistischen und rechtsextremen Parteien deutlich stärken; die Präsidentschaftswahlen in den USA könnten in eine zweite Amtszeit von Donald Trump münden – ein Supergau für Europa und die Weltpolitik – und für die USA. Die EU-Erweiterung muss vorangetrieben werden, und zwar energisch; dazu bedarf es einer Reform der EU-Verträge. Im Moment klingt das noch nach der Quadratur des Kreises und es mangelt an mutigen Initiativen. Die EU-Mitglieder werden die Klimaziele nicht erreichen; weder wird das eingestanden noch wird eingestanden, dass sehr viel mehr Maßnahmen zur Eindämmung der Folgen des Klimawandels nötig wären. Die meisten Nachrufe über Jacques Delors sind sich darin einig, dass er ein ungewöhnlich ehrlicher Politiker gewesen ist: Er sagte, was er vorhatte, er machte, was er gesagt hatte, dass er es tun wolle. Diesbezüglich kann man tatsächlich nostalgisch werden.
[9] Die EU muss zudem einen neuen Anlauf in Richtung Human(itar)ismus nehmen. Zur Zeit geben die radikalen politischen Parteien den Ton an, die das Othering schüren. Hass auf Menschen, die aus Ländern außerhalb Europas kommen, nimmt zu. Seit Jahren steigt die Zahl antisemitischer Straftaten. Islamophobie breitet sich weiter aus. Das alles geschieht seit Jahren; man kann nicht sagen, dass es ungehindert geschehe, aber die Bekämpfung des Anti-Human(itar)ismus ist zu schwach. Im Human(itar)ismus sind alle Menschen gleich. Wenn dieser Grundsatz in der Praxis nicht aufrechterhalten wird, untergräbt EU-Europa seine Fundamente selbst.
Dokumentation:
Wolfgang Schmale: Europa 2023 – Eine Bilanz. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europa-2023-bilanz, Eintrag 30.12.2023 [Abs. Nr.].