Die vertraglichen Grundlagen für die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich (=VK) sind gelegt, heute, am 31.12.2020, fehlt nur noch die Zustimmung des Europäischen Parlaments. Die Verträge werden daher mit dem 1. Januar 2021 zuerst vorläufig in Kraft treten.
Wie immer, ist die Sache komplex, das heißt, es gibt genau genommen nicht einen Vertrag, sondern mehrere: Das „Trade and Cooperation Agreement“; das „Agreement … Concerning Security Procedures for Exchanging and Protecting Classified Information“; das „Agreement between the Government of the United Kingdom of Great Britain and Norhtern Ireland and the European Atomic Energy Community for the Safe and Peaceful Uses of Nuclear Energy“. Zusätzlich gibt es 15 „Declarations“, von denen die Mehrzahl „Joint Political Declarations“ zu bestimmten Sonderproblemen heißen.
Das Hauptwerk (Trade and Cooperation) umfasst knapp 1250 Seiten, wobei ‚nur‘ rund 400 Seiten auf das eigentliche Agreement entfallen, die restlichen zwei Drittel enthalten Anhänge, die Details regeln.
Das VK wollte keine Abkommen bezüglich Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ebensowenig bezüglich der Finanzwirtschaft. Definitiv endet die Personenfreizügigkeit, das VK ist außerdem aus etlichen gemeinsamen Programmen ausgestiegen, wie etwa Erasmus+.
Der Weg vom Brexit-Votum am 23. Juni 2016 zum Austrittsvertrag, der am 1. Februar 2020 in Kraft trat, und schließlich zu den Verträgen, die die künftigen Beziehungen regeln, war auf seiten des VK chaotisch und hat der EU viel Energie und Geld abgezogen, speziell im Covid-19 Jahr 2020 – beides hätte sinnvoll anders eingesetzt werden können.
Ein No-Deal-Brexit wurde vermieden, aber ob sich die Verhandlungsmühe gelohnt hat, wird man erst nach und nach wissen. Schon jetzt ist klar, dass ein gewaltiger bürokratischer Aufwand auf beide Seiten zukommt. Das ist alles andere als zukunftsträchtig.
Für EU-Bürger*innen, die schon jetzt im VK leben, gibt es zwar Pfade für den Verbleib, aber die sind überbürokratisiert, mitunter kompliziert, die britische Verwaltung ist notorisch überfordert, und man weiß – schon jetzt – dass mehrere Zehntausend Europäer*innen aus verschiedenen Detailgründen im Regelwerk „illegal“ werden.
Immerhin bereits heute absehbare Zehntausende von persönlichen Dramen kümmern die britische Regierung nicht.
Der gesamte Brexit-Vorgang hat vor allem bewiesen, dass eine reaktionäre Auffassung von nationaler Souveränität, wie sie die britischen Konservativen vertreten, gewaltige Kosten für andere Länder mit sich bringt und diesen ihre nationale Souveränität beschneidet. Kümmert das die britische Regierung? Nein.
Der wirkliche Brexit passiert allmählich in den nächsten Jahren. Derweil geht die EU weiter – wenige Tage nach den Verträgen mit dem VK nun noch ein Vertragswerk mit China, das weder über- noch zu unterschätzen ist.
Die portugiesische Ratspräsidentschaft (1.1.2021-30.6.2021) hat angekündigt, ein stärkeres Augenmerk auf die Beziehungen der EU zu Indien legen zu wollen. In einem halben Jahr wird noch nichts Weltbewegendes geschehen, aber Indien ist der ‚logische‘ Kandidat für das nächste große Abkommen. Anders ausgedrückt: Wenn im Augenblick die wirtschaftlichen Beziehungen der EU zum VK so umfangreich sind, dass es sinnvoll war, stark in die Vermeidung eines No-Deal-Szenarios zu investieren, so wird es in wenigen Jahren anders aussehen.
Womöglich bessern sich auch wieder die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu den USA; nicht zu vergessen, dass mindestens einige EU-Länder das große Potenzial Afrikas realisiert haben. Also: Was wird die Bedeutung des VK in fünf oder zehn Jahren für die EU sein?
Es müsste alles ab dem 1. Jänner 2021 sehr rund laufen, vor allem auf der Seite des VK, um die augenblickliche Bedeutung annähernd erhalten zu können. Das wird aber nicht mit Regierungschefs à la Boris Johnson gehen, die nicht regieren können, sondern permanenten Wahlkampf betreiben, wie Trump, Orbán, Erdogan, Bolsonaro und weitere.
Schon länger zeichnen sich am Horizont Gefahren für die Einheit des VK ab: Die schottische Unabhängigkeit – wird sie sich verhindern lassen, wenn sich, anders als beim letzten Mal, nun eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung dahinter klemmt? Sollte es doch wieder Grenzeinrichtungen zwischen Irland und Nordirland geben, weil die vorgesehene Praxis unhandbar ist, könnte es wieder zu gewaltsamen Konflikten kommen.
Nachdem die britischen Konservativen gehofft hatten, dass die EU-Mitglieder unter dem Zeitdruck nicht die Reihen geschlossen halten würden, muss nun bilanziert werden, dass die EU an Einheit dazu gewonnen hat, während das VK riskiert, seine Einheit zu verspielen.
Nichts davon wird höchstwahrscheinlich 2021 oder 2022 passieren, aber 2023 weiß man, ob es mit dem realen Brexit rund läuft oder nicht. Spätestens 2023 sollte besser jemand anderes als Johnson die Regierung führen.
Zurück zu den Verträgen: Diese sind so umfangreich, weil der Brexit bedeutet, dass das VK aus ALLEM zunächst einmal ausgeschieden ist und jedes noch so kleine gemeinsame Betätigungsfeld neu zu verhandeln war. Die britische Parole von der wiedergewonnenen Souveränität ist nur ein schlechter Witz, jeder Vertrag schränkt diese ein – je umfangreicher dieser ausfällt, umso weniger bleibt von der beschworenen Souveränität übrig.
Natürlich handelt es sich um ein reaktionäres Konzept von nationaler Souveränität, das im 21. Jahrhundert nicht nur wie aus der Zeit gefallen wirkt, sondern kontraproduktiv ist. Das VK hat nicht die Macht der USA, wo Trump vier Jahre lang den Souveränisten spielen konnte, ohne dass die betroffenen Länder allzuviel dagegen setzen konnten.
Was wird in ein paar Jahren sein, wenn selbst die Brexiters aufgrund der tatsächlichen Entwicklung klüger geworden sind? Ein Beitrittsantrag an die EU?
Dokumentation:
Die EU-Kommission hat zahlreiche Dateien zur Verfügung gestellt. Datei-Liste
Allen Leser*innen meines Blogs ein gutes Jahr 2021!
Frühere Beiträge zum Brexit: