Die Desintegration aufhalten, den Polexit abwenden, die Grundlagen einer Migrationspolitik legen
zu Teil 1; Teil 3; Teil 4; Teil 5
[21] Der französischen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 wird die Aufgabe zufallen, die schleichende europäische Desintegration aufzuhalten. Ein vergleichender Blick auf „Polexit“ und Brexit ist lehrreich.
[22] Viele Medien berichteten am 24. bzw. 25. November 2021 über ein neuerliches Urteil des polnischen Verfassungsgerichts. Dieses Mal ging es um die Verbindlichkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention und von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
[23] Der österreichische Standard fasste den Fall wie folgt zusammen: „Am Mittwoch [=24.11.2021] urteilte das von der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) kontrollierte polnische Verfassungsgericht, dass Polens Verfassungsgericht kein „Gericht“ im Sinne der Menschenrechtskonvention sei. Somit muss Polen ein bestimmtes Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes (EGMR) mit Sitz in Straßburg nicht umsetzen.“
[24] Das polnische Verfassungsgericht wendete sich gegen die umfassende Gültigkeit von Art. 6 der EMRK. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung [25.11.2021, S. 6] kommentierte: „Das hat eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung: Verfassungsklagen polnischer Bürger unterliegen damit nicht mehr der Prüfung durch den EGMR.“
[25] Wie die Mitgliedsländer des Europarats ihr Verhältnis zu diesem gestalten, ist nicht unmittelbar EU-Angelegenheit, es wirkt sich aber auch auf das rechtsstaatliche Funktionieren der EU aus, weil die Verbindungen zwischen ER und EU sehr eng sind und die EU sich auf darauf verlassen können muss, dass ihre Mitglieder, die allesamt Mitglieder des ER sind, dessen Recht, zu dem sie sich durch den Beitritt bekannt und verpflichtet haben, respektieren.
[26] Polen beschwört, nach dem Brexit, einen „Polexit“ herauf, der sich aber seiner Natur nach von allen bisherigen Exit-Ansätzen in verschiedenen EU-Mitgliedsländern deutlich unterscheidet. Die derzeitige polnische Regierung versucht, die EU umzudefinieren und durchs Tatsachenschaffen umzugestalten. Diese Regierung negiert den Grundsatz aus dem Vertrag über die Europäische Union einer „immer engeren Union“, sie kehrt ihn ins Gegenteil um. Sie befindet sich seit Jahren auf dem Weg des Nationalismus und folgt einer kontraproduktiven Interpretation von „nationaler Souveränität“.
[27] Derselben „Logik“ (die irrational ausgestaltet ist) folgt der Umstand, dass die polnische Regierung den Konflikt wegen der Flüchtlinge mit Belarus an der Grenze im Alleingang regeln will. Da das Problem – die EU mit absichtlich an ihre Außengrenzen geschleusten Menschen zu erpressen versuchen – größer ist als der konkrete Konflikt, ist es kontraproduktiv, die EU hier abzudrängen, selbst wenn man gerne hätte, dass sie Zäune und Mauern bezahlt.
[28] Die EU muss, jenseits des konkreten Konflikts, Strategien entwickeln. Die französische Ratspräsidentschaft ist diesbezüglich gefordert. Wie eine solche Strategie aussehen kann, zeichnet sich ab. An humanitären Lösungen geht kein Weg vorbei, es muss also mit Lukaschenko geredet werden ebenso wie mit Erdogan oder Putin oder anderen, um in Verbindung mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk, dem Roten Kreuz und anderen erfahrenen Hilfsorganisationen das Sterben von Flüchtlingen zu stoppen.
[29] Zugleich kann die EU Druck aufbauen, sie muss es nur tun. Sie kann Personen und Unternehmen, die sich am Schleusen und Schleppen beteiligen, sanktionieren. Sie muss es nur tun. Sie kann erfolgreich mit anderen Regierungen wie der des Irak reden. Insgesamt wäre die EU gut beraten, aktiver im Nahen Osten und Nordafrika aufzutreten – mit ihren Mitteln. Die EU arbeitet weder mit Erpressung, noch mit Gewalt, noch mit hybrider Kriegsführung.
[30] Frankreich ist durch seine immer noch engen, wenn auch nicht konfliktfreien, Beziehungen in diese beiden Nachbarregion der EU geeignet, hier etwas voranzubringen.
[31] Zurück zum „Polexit“. Im Grunde ist der Polexit schon im vollen Gange. Nicht in dem Sinne, dass ein Austritt aus der EU wie im Fall des Brexit unmittelbar angestrebt würde. Vielmehr wird Tag für Tag ausgetestet, wie weit dabei gegangen werden kann, sich den vertraglichen Verpflichtungen in der EU zu entziehen und Fakten zu schaffen. Das geht, weil es im EU-Vertrag zwar eine Austrittsklausel, aber keine Rauswurfklausel gibt. Frankreich kann dieses Thema in der Ratspräsidentschaft nicht ignorieren, weil der Typus des schleichenden „-exit“ sehr viel eher für manche EU-Mitglieder anziehend sein könnte als der Brexit, dessen Scheitern ziemlich eindeutig ist.
[32] Nun ist der Brexit immer noch nicht beendet. Der britische Premier und seine Regierung halten an der Hoffnung fest, die 27 EU-Mitglieder doch noch spalten zu können. Daher werden alle möglichen Konfliktfelder aufgemacht. Wenn man es genau betrachtet, wären die Ziele Johnsons und seiner Brexiters „besser“ mit einem schleichenden Brexit à la „schleichender Polexit“ erreichbar gewesen. Das bringt die EU-Mitglieder sehr viel mehr in ein Dilemma als der Blick auf das Versagen der britischen Regierung und deren Unvermögen, die Versprechen der Brexit-Kampagne und der Brexiters wahr zu machen. Die täglichen Verdauungsrülpser der britischen Regierung erregen eher Mitleid, während etliche Parteien und Regierung in der EU mit gespannter Erwartung den „polnischen Weg“ beobachten.
[33] Die französische Ratspräsidentschaft muss sich dieser Gefahr bewusst sein und Initiative zeigen. Der Europäer Macron ist dringend gefragt!
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: In Erwartung der französischen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 (Teil 2). In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/franzoesische-ratspraesidentschaft-2022-teil-2, Eintrag 26.11.2021 [Absatz Nr.]