[1] In den letzten 20 Jahren gab (und gibt) es in Europa 7 Krisen, die teils mehr europäisch, teils mehr global waren bzw. sind: (1) 2001 und Folgejahre bis heute: 9/11 – das heißt Terrorismus; (2) 2005: Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrags; (3) 2008 und Folgejahre bis heute 2020: Finanz- und Schuldenkrise; (4) 2014/2015 und Folgejahre bis heute 2020: Migrations- und Flüchtlingskrise; (5) Entdemokratisierung: jederzeit; (6) Klimakrise: jederzeit; (7) 2020/2021: Corona-Virus.
[2] Keine der Krisen ist beendet worden. In allen Fällen zeigt sich viel europäische Desintegration. Die Unfähigkeit, die Auswirkungen globaler Probleme auf Europa in Europa zu beherrschen, ist auffällig. Natürlich lassen sich Krisen nicht einfach abstellen, aber eine mindestens europäische Abstimmung würde die Bekämpfung effektiver machen. Statt dessen wird so gehandelt, dass das Problem zum Nachbarn verlagert und Solidarität verweigert wird. Die Einzelstaaten reagieren reflexartig nationalistisch, aber dies ist irrational. Die Veränderung der Welt im Zuge der Globalisierung wird ignoriert, zum Schaden der Bürger*innen.
[3] Nach dem Terror vom 11. September 2001 gab es viel Solidarität, und so auch nach den vielen weiteren Attentaten bis in die unmittelbare Gegenwart. Die einzelstaatlichen Reaktionen ähnelten sich – vor allem darin, dass in Grund- und Freiheitsrechte der Bürger*innen eingegriffen wurde. Die Verbesserung der Kommunikation zwischen den Aufklärungsdiensten lässt hingegen bis heute zu wünschen übrig. Man misstraut sich weiterhin innerhalb Europas (und international) und bespitzelt sich weiterhin gegenseitig. Immer wieder werden Fehleinschätzungen von Informationen bekannt, was an der Professionalität der Aufklärungsdienste insgesamt, aber auch vieler Mitarbeiter*innen Zweifel aufkommen lässt. Das erforderliche Expert*innenwissen wäre da, aber der Praxisimpact ist nicht gesichert. Es handelt sich offenbar um ein Know-how-Problem, das nicht einzelstaatlich gelöst werden kann, weil es zu komplex ist.
[4] Der Verfassungsvertrag hätte 2005 die in über 50 Jahren erreichte Integration, die durch die große EU-Erweiterung 2004 gewissermaßen eine Krone aufgesetzt bekam, als Fundament für eine neue Integrationsphase festhalten sollen. Obwohl die Mehrheit der EU-Staaten dem Verfassungsvertrag schon zugestimmt hatte, beendete das Nein der französischen und der niederländischen Volksabstimmungen den Zustimmungsprozess. Der statt dessen ausgehandelte Vertrag von Lissabon zog die Konsequenz und stärkte die Mitgliedstaaten gegenüber der Union als Nationalstaaten. Etwas anderes, nämlich mehr europäische Integration, wollten die Mitgliedstaaten nicht mehr.
[5] Seitdem kämpft die EU mit wachsendem Nationalismus und Eigenwilligkeit der Mitgliedstaaten.
[6] In der Finanz- und Schuldenkrise wurden neue Instrumente wie der ESM geschaffen, sodass alles in allem der Kollaps ausblieb. Die EZB tat, was die Mitgliedstaaten nicht taten, nämlich den Euro zu retten. Die Grundprobleme wurden aber nicht gelöst. Wirtschafts- und finanzwissenschaftlich darf man sich keine Entscheidung erhoffen, da es unterschiedliche Ansätze und Rezepte gibt, von denen man nur hinterher weiß, welches das bessere Rezept war. Es geht vielmehr um eine integrationspolitische Entscheidung – kurz gesagt Eurobonds (oder aktuell, sprachlich angepasst, um Corona-Bonds).
[7] Diese brauchen ein Bekenntnis zur Solidarität von Seiten der wirtschaftlich und finanziell starken Staaten. Das kommt aber nicht, schon gar nicht, seit sich in der Flüchtlings- und Migrationskrise erst recht keine Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten durchsetzen konnte. Dazu kommt das Misstrauen der wirtschaftlich und finanziell stärkeren Staaten, dass die hochverschuldeten wie Italien bei Eurobonds (Corona-Bonds) erst recht keine Haushaltsdisziplin walten lassen würden. Niemand in Europa glaubt mehr an jene Form von Solidarität, die darin besteht, nichts zu tun, was die anderen Mitglieder der Union stark belasten würde, und ohne dass diese dann noch Entscheidungsfreiheit hätten.
[8] Was die Migrations- und Flüchtlingskrise seit 2014/2015 angeht, ist es müßig, die Abschottungsmaßnahmen der Einzelstaaten nochmals aufzuführen. Dasselbe gilt für die ausbleibende Solidarität bei der Verteilung geringer Zahlen an Flüchtlingen aus der Seenotrettung oder für die Aufnahme von Flüchtlingen aus den Lagern auf den griechischen Inseln.
[9] Es ist viel davon die Rede, dass sich ein Kontrollverlust wie 2015 nicht wiederholen dürfe. Hier wird ein starkes Wort undefiniert in den öffentlichen Raum geworfen und eine europäische leyenda negra geschaffen. Würde man der Rede vom Kontrollverlust zustimmen, müsste man einräumen, dass die europäischen Regierungen so sehr versagt haben, dass einem Angst und Bange werden müsste.
[10] Der Grund des vermeintlichen Kontrollverlustes wäre aber nicht darin zu suchen, dass das Problem schlicht zu groß gewesen wäre, sondern im Unwillen und in der Unfähigkeit der Regierungen, vorausschauend zu handeln – und das vorauschauende Handeln kann nur gemeinschaftlich funktionieren.
[11] Aber eine „Union“ von 27 Staaten, die geizig, knauserig und egoistisch sind, kann weder vorausschauend noch gemeinschaftlich handeln. Der viel beschworene europäische Humanismus/Humanitarismus scheint nicht Eingang in Europas kulturelles Erbe gefunden zu haben. Dieses Erbe, das in vielen EU-Dokumenten beschworen wird, wurde irgendwann – ja, wann? – ausgeschlagen. Humanismus/Humanitarismus kostet Geld, da mitfühlende Worte allein kein humanitäres Problem lösen.
[12] Eine Krise, die sich querschnittartig durch alle anderen hindurch zieht, ist die Entdemokratisierung des Kontinents. Abbau des Rechtsstaats, Illiberalismus, Nationalismus und Populismus, Extremismus, insbesondere Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, bewusste Missinterpretationen des demokratischen Mehrheitsprinzips. Mit Letzterem ist gemeint, dass zwar die Mehrheit entscheidet, aber in der Demokratie die Minderheiten Rechte haben, die nicht von einer Mehrheit abgeschafft werden dürfen, und die Mehrheit nicht der absolute Monarch ist, sondern immer im Interesse des Gemeinwohls entscheiden muss. Das Gemeinwohl ist nicht nur das der Mehrheit, sondern auch das der Menschen, die andere politische Meinungen, andere Bedürfnisse, andere Orientierungen haben.
[13] Ähnlich zeigt sich die Klimakrise in allen anderen Krisen. Gemeinschaftliches vorausschauendes Handeln in der Union war, obwohl das Problem seit Jahrzehnten bekannt ist und umfassendes Expert*innenwissen zur Verfügung steht, bisher kaum angestrebt worden. Das bleibt auch nach dem Green Deal der EU so: Die einen sehen Kernkraft als umweltfreundliche Energieerzeugung, obwohl die Endlagerung des Atommülls nicht geklärt ist, und man tut so, als sei der Umstand, dass atomarer Müll über Jahrhunderttausende verseucht ist, kein Problem. Die anderen geben vor, aus wirtschaftlichen Gründen nicht auf Kohle verzichten zu können, das sollen dann halt die anderen Staaten irgendwie ausgleichen. Die nächsten wollen nicht einsehen, dass Tempolimits auf Autobahnen sinnvoll sind, es sei eine Einschränkung der Freiheit – während am nächsten Tag munter eine weitere gesetzliche Lockerung des Privatheitschutzes verabschiedet wird.
[14] Auch gegen das Corona-Virus wird einzelstaatlich gekämpft. Das Expert*innenwissen war und ist da, es ist überall und für alle dasselbe. Es mag sein, dass es Europa war, wo das Phänomen der Vernunft bis in den letzten Winkel philosophisch ausgeleuchtet wurde, aber die Vernunft scheint aus diesem Kontinent emigriert zu sein. Noch ein ausgeschlagenes Erbe.
[15] Die Krisenliste ist unvollständig, aber es soll dabei belassen werden. Schon länger gibt es die Forderung nach einer „Europäischen Integration 2.0“. Es findet sich auch die Forderung nach „Europa 2.0“. Eine intensive Auseinandersetzung steckt jedoch nicht dahinter. Diese täte aber Not.
[16] Eine Durchleuchtung der zitierten Krisen lässt es ermessen, wie sehr sich inzwischen das heutige Europa von jenem unterscheidet, das nach dem Zweiten Weltkrieg den Akteur*innen der europäischen Integration vor Augen stand. Das historische Konzept der Integration muss angepasst werden.
[17] Mehr Integration ist im Bereich der Grundlagen politischen Handelns erforderlich. Ein Schlüsselaspekt ist dabei Solidarität. Diese funktioniert immer weniger, weil immer weniger dieselben Werte hochgehalten werden bzw. zentrale Werte wie Rechtsstaat und Demokratie von zu vielen ausgehöhlt werden. Einheitlichkeit zeigt sich immer öfter dort, wo sie destruktiv ist, eben im Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Wie schon bisher spielt der ungarische Regierungschef Viktor Orbán den Vorreiter und versucht, sich geradezu diktatorische Vollmachten zu sichern (März 2020).
[18] Destruktive Einheitlichkeit zeigt sich im kollektiven Ausschlagen des kulturellen Erbes. Das meint nicht Kunst, Architektur u.ä., sondern das philosophisch-politische und sozialphilosophische Erbe. Die Symptome sind überdeutlich. Nehmen wir die Pervertierung der Staatsauffassung. Die Tendenz, dass bestimmte politische Parteien glauben, sie seien „das Volk“ und sie seien der Staat, nimmt überall in Europa zu. Das ist Verrat am kulturellen Erbe der europäischen Staatsphilosophie, jedenfalls jener, die in der Aufklärung grundgelegt wurde.
[19] Die Tendenz zu einem neuen Führer(*innen)kult ist Verrat am kulturellen Erbe der europäischen Staatsphilosophie. Die Tendenz, den Staat als bloßes Unternehmen zu betrachten und entsprechend zu instrumentalisieren, ist Verrat am kulturellen Erbe der europäischen Staatsphilosophie.
[20] Als solche stellt die EU freilich eine Form von Solidarität dar, indem schwächere Länder mehr Unterstützung aus dem EU-Haushalt erhalten als die stärkeren Länder. So wichtig das ist, es handelt sich um eine formale Solidarität, die von den Nutznießern nicht einmal mehr als Solidarität interpretiert wird. Solidarität als Wert ist ausgetrocknet. Die geldwerte formale, in die EU eingebaute, Solidarität wird nicht durch eine ethisch begründete Solidarität vergolten, obwohl auch die formale Solidarität ethisch begründet ist: allen in der EU soll es im Rahmen der Möglichkeiten (die begrenzt sind) ähnlich gut gehen. Permanent gegen den Geist der EU zu verstoßen, wird nicht gut gehen.
[21] Gemeinschaftliches Handeln muss für die ‚neuen‘ Problemfelder neu entworfen werden. Andernfalls wird sich der Takt, in dem sich Mitglieder der EU wegen akuter Geschehnisse wie in der Flüchtlings- und jetzt in der Coronakrise abschotten, nur weiter erhöhen, weil man sich gegenseitig nicht mehr über den Weg traut. Daher stellt sich die Frage, ob neue Handlungskompetenzen an die EU-Institutionen überantwortet werden sollen, damit diese zügig reagieren können. Dazu bedarf es einer Vertragsänderung.
[22] Wenn die gemeinsamen Institutionen nicht mit der Kompetenz ausgestattet werden, in jenen Feldern verbindlich aktiv zu werden, die sich im Licht der Krisen der letzten beiden Jahrzehnte gezeigt haben und die dokumentieren, wo heute der Bedarf an mehr europäischer Integration liegt, schwächen die Staaten die Union, die sie gegründet hatten, um gemeinsam stärker zu sein.
[23] Es kann nicht oft genug daran erinnert werden, dass die Einzelstaaten, die sich so gerne als Nationalstaaten verstehen, ohne die EU noch schwächer werden, als sie es ohnehin schon sind. Sie können durch die Solidaritätsverweigerung und durch die Verweigerung gemeinschaftlichen Handelns nichts gewinnen, aber viel verlieren.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europäische Integration 2.0 – Diese muss nach der Corona-Krise kommen. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europaeische-integration-2-0, Eintrag 21.03.2020 [Absatz Nr.].