I Einleitung
[1] Das Motto der Europäischen Union lautet „In Vielfalt geeint“. Dieses Motto passt natürlich nicht nur auf die EU, sondern auf ganz Europa. „Europäische Identität“, die hinter dem Motto steht, bezieht sich deshalb auch nicht allein auf die EU, sondern ebenfalls auf ganz Europa. Identitäten machen außerdem nicht an Landesgrenzen halt, denn sie sind zum großen Teil kulturell bedingt. Kulturräume aber reichen über politische Grenzen hinaus. Letztlich kommt es auf den einzelnen Menschen an. Es geht um seine Identität.
[2] „Vielfalt“ finden wir natürlich überall auf der Welt, aber in Europa ist die Vielfalt, so könnte man es formulieren, besonders vielfältig. Das war schon in der Antike so, und heute ist es immer noch so. „Denke ich an Europa, so denke ich an Vielfalt“ – dieser Spruch drückt eine für Europa wesentliche Eigenschaft gut aus.
[3] Im Grunde sind, bezogen auf den europäischen Subkontinent, „Europa“ und „Vielfalt“ Synonyme.
[4] Nun befürchten die einen, dass das Ziel der europäischen Einheit, vertreten und verkörpert durch die Europäische Union, die Vielfalt auflöst, und die anderen befürchten, dass die Vielfalt Konflikte anheizt und Verständigung untereinander erschwert oder sogar verhindert. Die einen wollen daher Kompetenzen von den europäischen auf die nationalen Institutionen zurückverlagern, die anderen wollen „mehr Europa“, um ein Wiedererstarken vor allem des konfliktträchtigen Nationalismus abzuwenden.
[5] Um zu gedeihen, braucht Vielfalt den Frieden, der Friede aber braucht ein gewisses Maß an Einheit und Verständigung, um bewahrt werden zu können. Dass diese Balance bewahrt wird, ist entscheidend für die Zukunft Europas. Hier liegt sehr viel Verantwortung – für die Politik, und für uns alle als Europäerinnen und Europäer, denn die Vielfalt wird von uns allen als Individuen gelebt, gepflegt, gestaltet. Ohne unser persönliches Engagement trocknet die Vielfalt aus.
[6] Wenn ich eine Definition von „europäischer Identität“ geben soll, würde sie folgendermaßen lauten: „Europäische Identität ist das individuelle und gemeinsame Leben, Pflegen und Gestalten der Vielfalt in Europa, auf der Grundlage von Verständigung und gegenseitigem Respekt, über Grenzen hinweg.“ Europäische Identität entspricht folglich vor allem einer Praxis, einem praktischen Tun.
[7] Ich werde im Folgenden zunächst klären, was genau „Vielfalt“ ist, im Anschluss daran ist zu fragen, was „leben, pflegen und gestalten der Vielfalt in Europa über Grenzen hinweg“ im Alltag bedeutet und schließlich sind die Schlüsselwörter „Verständigung“ sowie „gegenseitiger Respekt“ praktisch auszufüllen.
II Was ist „Vielfalt“ in Europa?
[8] Worauf immer wir in Europa schauen, es ist vielfältig. Europa ist seit der Urgeschichte ein Raum der Zirkulation. Das heißt, Menschen, Menschengruppen mit ihren Kulturen, Objekte wie Waren, Nahrungsmittel oder Kunstgegenstände, immaterielles Kulturgut wie Rezepte für Speisen, Ideen, technische und philosophische Kompetenzen, Mythen und Erzählungen und vieles mehr, zirkulieren seit eh und je in Europa. Vieles, was ursprünglich endemisch, sprich: lokal, auftrat, hat sich durch die Zirkulation europäisiert.
[9] Vielfalt gibt es in jeder Hinsicht, ich greife nur einige wenige Aspekte heraus:
[10] Die Sprachen: In der EU gibt es 24 Amtssprachen, in die übersetzt und gedolmetscht wird, aber Europa kennt noch sehr viel mehr Sprachen – die Sprachen der Länder, die noch nicht Mitglied der EU sind, und vor allem viele regional oder lokal verbreitete Sprachen und Dialekte. Der Erhalt auch der „kleinen“ Sprachen und Dialekte wird gefördert, schließlich ist Sprache bei jedem einzelnen Menschen ein ganz wichtiger Beitrag zur Identität.
[11] Die Menschen: Die Bevölkerung, die in Europa lebt, kommt aus der ganzen Welt. Das war schon immer so, seit der Urgeschichte ist Europa ein Kontinent der Migration. Rund 400 verschiedene Ethnien sind bekannt, historisch wie gegenwärtig. Eine genaue Ausdifferenzierung der nach dem Zweiten Weltkrieg zugewanderten Menschen aus Asien und Afrika würde diese Zahl noch erhöhen. Daraus resultiert natürlich eine genetische Vielfalt Europas, vor allem aber eine historisch-kulturelle Vielfalt.
[12] Vielfalt in Bezug auf Menschen bezieht sich jedoch nicht nur auf die ethnische Vielfalt, sondern auch auf die Diversität des Menschseins und die Anerkennung dieser Diversität unter Ausschluss jeglicher Diskriminierung. Das bezieht sich in unserem Jahrhundert auf die Diversität der sexuellen Orientierung von Menschen, auf die Vielfalt der Religionen, auf die Vielfalt der besonderen Bedürfnisse von Menschen – und genauso auf die Vielfalt des individuellen Stils, wie er sich in der Kleidung, der Gestaltung des eigenen Körpers usw. äußert. Vielfalt bezieht sich auf das Alter, jedes Alter wird als Wert für sich erkannt.
[13] Vielfalt stellt folglich auch einen Werte-Begriff dar, der auf dem Prinzip der Nicht-Diskriminierung aufbaut. Nicht-Diskriminierung wird in erster Linie mit Menschen in Zusammenhang gebracht, aber es handelt sich auch um eine Werte-Haltung in Bezug auf Kultur.
[14] Die Kulturräume: Bei „europäischer Vielfalt“ denkt man ohnehin meistens zuerst an die kulturelle Vielfalt, die eng mit lokalen und regionalen Räumen verbunden ist. Tatsächlich ist die europäische Vielfalt in dieser Beziehung wohl einzigartig. Sprachenvielfalt und ethnische Vielfalt existiert in vielen Gegenden der Welt, wenn auch nicht überall; dies ist keine Besonderheit Europas, selbst wenn auch diese Vielfalt in Europa besonders vielfältig ist. Die kulturelle Vielfalt, vor allem die hohe Dichte der Vielfalt, scheint jedoch ein herausgehobenes Merkmal Europas zu sein.
[15] Die kulturelle Vielfalt steht im Mittelpunkt des Europäischen Kulturerbejahres 2018. Die vielen Aktivitäten rund um das immaterielle und materielle kulturelle Erbe zeigen, dass der Wert dieser Vielfalt für Europa erkannt wurde und gefördert wird. Sowohl der Europarat wie die Europäische Union fördern kulturelle Aktivitäten rund um das kulturelle Erbe – seine Pflege, seinen Erhalt und seine zukunftsträchtige Entwicklung.
[16] Europa hat geschichtlich das Privileg genossen, nicht Objekt einer umfassenden kulturellen Kolonisierung von außen gewesen zu sein – anders als Amerika, Afrika und große Teile Asiens, die von Europäern kolonisiert und kulturell beherrscht und umgebaut wurden. Es gab in Europa Migration von Menschen und Kulturgütern, manchmal auch militärische Bedrohungen wie durch die Hunnen oder später das Osmanische Reich, aber nichts davon unterbrach die kulturelle Selbstorganisation Europas auf der Grundlage von Vielfalt.
[17] Politische Vielfalt: Die Geschichte Europas kennt eine Vielfalt an Formen der politischen Organisation von Gemeinwesen, von wehrhaften Familienverbänden oder Clans über die griechische Polis zum Reich oder Imperium, vom Reich zum Nationalstaat und hin zu Staatenbündnissen bzw. Staatenverbünden wie der EU. Formen lokaler Autonomie haben dabei immer und bis heute eine wichtige Rolle gespielt, egal, ob das politische Dach darüber ein Imperium oder ein kleineres Territorium oder ein demokratischer Nationalstaat war bzw. ist. Lokale politische und oft lokale ökonomische Autonomie haben die kulturelle Vielfalt maßgeblich gefördert.
[18] Auf dem Hintergrund dieser historischen Entwicklung ist klar, dass sich Europa keineswegs zum Superstaat entwickeln muss, um zu funktionieren, vielmehr ist die politische Vielfalt in jeder Hinsicht die „Norm“. Und es war nicht diese Vielfalt, die zu den Gewaltexzessen des 20. Jahrhunderts geführt hat, vielmehr gehörte die mangelnde Achtung vor der Vielfalt und dem Prinzip der Nicht-Diskriminierung zu dem Bündel an Ursachen der Gewalt.
[19] Oft vergessen wird in der Betrachtung von Vielfalt in Europa die Biodiversität. Diese ist heute stark bedroht, sodass immerhin mehr als früher darauf geachtet wird. Es ist nachdrücklich zu unterstreichen, dass in Europa kulturelle und biologische Vielfalt sowie naturräumliche Vielfalt eng miteinander zusammenhängen. Biologische und naturräumliche Vielfalt ist nicht schlicht ‚natürlich‘, sondern ist gerade in Europa oftmals aufgrund der frühzeitig schon dichten Besiedlung und extensiven Nutzung der Natur das Ergebnis der kulturellen Einflussnahme des Menschen, auf die sich die ökologischen Systeme eingestellt haben.
[20] Ändert sich die Kultur wie im Zuge der zwei industriellen Revolutionen – die erste setzte um 1800 vorwiegend in West- und Mitteleuropa ein, die zweite in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bzw. nach 1945 unter der Führung der Sowjetunion besonders in Osteuropa –, dann folgen dem unausweichlich Veränderungen der ökologischen Systeme.
[21] Bisher hat noch jede monokulturelle Vorgehensweise – ein Beispiel wäre die Landwirtschaft – zusammen mit der kulturellen Vielfalt auch die Biodiversität teilweise, und mancherorts sogar gänzlich, zerstört.
[22] Der Erhalt der Vielfalt trägt entscheidend zu unserem Überleben bei – ich denke dies erklärt sehr gut, warum ich „Vielfalt“ zum Herzstück der Definition von „europäischer Identität“ gemacht habe.
III Leben, Pflegen und Gestalten der Vielfalt in Europa
über Grenzen hinweg
[23] Europäische Identität stellt in erster Linie eine Praxis dar. Sie bedeutet nichts Exklusives, wo das eine ausgeschlossen werden müsste, um das andere zu haben. Das bedeutet: Es gibt kein Entweder-Oder zwischen regionaler, nationaler und europäischer Identität. Bezugspunkt ist der einzelne Mensch, es ist der einzelne Mensch, der eine Identität hat. Daraus können kollektive Identitäten entstehen, nämlich durch die Kooperation und Kommunikation zwischen den Einzelnen. Dennoch sind die individuellen Identitäten das Primäre, kollektive Identitäten sind eine Folge. Andernfalls sind kollektive Identitäten politische Konstrukte, die propagandistisch und mit Zwang Gesellschaften übergestülpt werden.
[24] Wie sich die Anteile des rein Individuellen, des Familiären, der Zugehörigkeiten zu verschiedenen sozialen Gruppen und Vereinen, des Lokalen, des Regionalen, des Nationalen, des Europäischen und vielleicht des Globalen bei jemandem verteilen, ist jeweils sehr verschieden. Nicht zuletzt darin besteht die Vielfalt individueller Identitäten.
[25] Kollektive Identitäten entsprechen am ehesten Mustern, die sich aus den Millionen individueller Identitäten herausbilden, aber auch sie, die kollektiven Identitäten, sind weder exklusiv noch diskriminierend. Dazu werden sie höchstens aus politisch-propagandistischen Gründen gemacht.
[26] Vielfalt zu leben, zu pflegen und zu gestalten, habe ich als Kern europäischer Identität bezeichnet. Diese drei Praktiken werden vom Einzelnen in Gemeinschaft mit Anderen ausgeführt. Wir selber sind die Subjekte oder Autoren und Autorinnen der Identität, wir sind nicht ihre Objekte. Letzteres ist immer dann der Fall, wenn einer Gemeinschaft wie der Nation eine kollektive Identität verordnet wird, zu der der Einzelne letztlich immer gezwungen werden muss.
[27] Das Entscheidende an Identität ist, dass sie in jedem Einzelnen von uns entsteht, aber nicht kollektiv verordnet wird. Es geht also auch um eine Frage der Einstellung. Jeder muss es für sich selber zulassen, dass über Leben, Pflegen und Gestalten der Vielfalt Identität entsteht, die dann teils europäisch ist, teils regional, teils lokal – usw.
[28] In Bezug auf Europa ist der Zusatz „über Grenzen hinweg“, also „Vielfalt über Grenzen hinweg leben, pflegen und gestalten“ entscheidend. Die immaterielle und materielle kulturelle Vielfalt ist überall in Europa zu Hause. Wir alle sind hier, um die Erfahrungen im Umgang mit dem kulturellen Erbe auszutauschen, um Ideen und Ansichten auszutauschen. Wir sind hier um zu erfahren, welche Kulturerbeaktivitäten die jeweils anderen ausgeführt haben und wie wir die Botschaften weitertragen können.
[29] Vielfalt leben bedeutet freilich auch, sich selber Vielfalt zu gestatten, ja, sich zuzumuten – und die Vielfalt anderen ebenso zu gestatten und anderen ebenso zuzumuten.
[30] Die Bezeichnung „Donauraum“ macht dieses „über die Grenzen hinweg“ anschaulich. Der Donauraum entstand historisch durch den Fluss, der schiffbar war bzw. schiffbar gemacht wurde, sodass Menschen und Objekte relativ leicht flussabwärts oder flussaufwärts von den Donauquellen bei Donaueschingen bis zum Donaudelta am Schwarzen Meer (oder in umgekehrter Richtung) zirkulieren konnten und können.
[31] Politisch war dieser Raum immer auf verschiedene Herrschaftsgebiete bzw. Staaten aufgeteilt, aber das hat zu keiner Zeit die Zirkulation, den Austausch und den Transfer von immaterieller und materieller Kultur verhindert. Das gilt sogar, wenn auch mit Einschränkungen, für die Zeit des Kalten Krieges.
[32] Es macht daher Sinn, gerade auf dem Hintergrund der langen Geschichte, dieses kulturelle Erbe miteinander zu leben und zu gestalten.
[33] So wie das kulturelle Erbe durch Teilhabe entstanden ist, soll es mittels Teilhabe gepflegt und gestaltet werden. Da Vielfalt eine wesentliche Eigenschaft des kulturellen Erbes in Europa ausmacht, ist es ein Ziel der Pflege und Gestaltung, diese Vielfalt sichtbar zu machen. Das gilt nicht zuletzt auch für Denkmäler und historische Gebäude, deren Bestimmung sich mit einem Herrschaftswechsel, der unter Umständen von einem Religionswechsel begleitet wurde, teilweise mehrfach änderte. Diese Art der Vielfalt nicht zu verschweigen, sondern offen zu legen und den Besuchern zu zeigen, ist ein wesentlicher Aspekt der Pflege und Gestaltung von Vielfalt im Kulturerbe.
[34] In vielen Koch- und Backrezepten, die Teil des immateriellen Kulturerbes sind, stecken Zutaten aus verschiedenen Regionen, teilweise von außerhalb Europas. Sie enthalten die Spuren einer Kulturgeschichte, die man sich zwar nicht bewusstmachen muss, wenn man ein bestimmtes Gericht kocht oder etwas bäckt, aber diese Vielfalt des Herkommens ist trotzdem da und vereint eine gewisse historische Vielfalt im konkreten Rezept. Man denke an das sogenannte Ungarische Gulasch, das sich heute niemand ohne die Zutat Paprika vorstellen kann; diese musste aber erst einmal aus Übersee in Europa heimisch gemacht werden, bevor sie das viel ältere und historische Gulaschrezept bereichern konnte.
[35] Wir wissen nur zu genau, dass das weltberühmte Wiener Schnitzel in Wirklichkeit ein Mailänder Schnitzel ist – es gäbe hunderte von solchen Beispielen, die gerade anhand des immateriellen Kulturerbes, das uns zu Speisen und Getränken und damit zum Wohlleben verhilft, die darin enthaltene kulturelle Vielfalt aufzeigen.
[36] Das Goethe-Institut geht in einem Projekt zum Europäischen Kulturerbejahr 2018 dem Thema der „Erbstücke“ nach. Da findet man z.B. eine kleine Geschichte zum Zuckerwürfel, der in Böhmen erfunden wurde und dann Europa und sogar die ganze Welt eroberte. Oder die „Genossenschaft“, eine soziale Organisationsform, die wir dem immateriellen Kulturerbe zurechnen können; sie wurde im Frankreich der industriellen Revolution erfunden, dann bewährte sie sich in England, in Deutschland, allmählich in allen europäischen Ländern bis heute.
[37] Wenn man sich veranschaulichen möchte, was das Motto „In Vielfalt geeint“ in der Praxis bedeutet, dann sollte man sich einfach Gulasch, Pizza, Knödel, Brot, Bier, Wein, Saft, Eis, Schokolade usw. vorstellen: In allen diesen Gerichten und Getränken steckt eine vielfältige Kulturgeschichte, steckt lokales oder regionales, teilweise außereuropäisches, dann jedoch europäisiertes Fachwissen, aber die Kerneigenschaften sind immer eindeutig und unverwechselbar identifizierbar, obwohl jedes der Gerichte und Getränke in dutzenderlei Gestalt bereitet werden kann.
[38] Das ist „in Vielfalt geeint“, und das kulinarische Bild lässt sich sehr gut auf andere Bereiche übertragen. Nehmen wir die Demokratie: In jedem europäischen Land ist sie etwas anders gestaltet, aber sie besitzt einen unverwechselbaren Kern. Das heißt zugleich in der Praxis, dass, wenn dieser unverwechselbare Kern angegriffen wird, es nicht mehr um die Vielfalt demokratischer Formen geht, sondern aus der Demokratie eine Autokratie oder schlimmer noch eine Diktatur wird.
[39] Eine Autokratie oder Diktatur eint durch Zwang, aber gerade nicht durch Vielfalt. Daran zeigt sich, dass Vielfalt auch eine Stütze von Demokratie ist. Vielfalt zu leben, zu pflegen und zu gestalten bedeutet unter anderem, die europäische Demokratie zu unterstützen. Deshalb kann europäische Identität nur eine demokratische Identität sein.
IV Verständigung und gegenseitiger Respekt
[40] „Verständigung“ und „gegenseitigen Respekt“ habe ich vorhin als Bestandteil der Definition von „europäischer Identität“ genannt. Dies sind Grundhaltungen, die im Übrigen sehr viel individuelle und kollektive Selbstdisziplin erfordern. Wenn man sich derzeit in Europa umblickt, fehlt es an dieser Selbstdisziplin.
[41] Vielfalt kann nicht ohne Verständigungswillen und gegenseitigen Respekt funktionieren. Während Vielfalt oft einfach ein Produkt kultureller und humaner Entwicklung und Selbstorganisation ist, ohne dass ein Plan oder ein Mastermind dahinterstecken müsste, bedürfen Verständigung und Respekt eines ausdrücklichen Willens. Wenn wir in die lange Geschichte zurückblicken, spiegeln beide Haltungen offenbar keineswegs natürliche Eigenschaften des Menschen wider, sondern sie sind Resultat der Zivilisierung des Menschen.
[42] Vielfalt entsteht, einfach so, und ist so gesehen etwas Natürliches. Der Umgang des Menschen mit Vielfalt bedarf hingegen der Zivilisierung des Menschen, um die Vielfalt vor ständiger Infragestellung und Zerstörung durch den Menschen zu bewahren.
[43] Ganz sicher betrachten wir alle uns als zivilisiert, aber das ändert nichts daran, dass Verständigung und gegenseitiger Respekt mit dem Ziel, die Vielfalt zu erhalten und zu fördern, immer wieder erneut gewollt werden müssen, und zwar von jedem Einzelnen von uns.
[44] Entgegen einer landläufigen Meinung ist nämlich keine Identität ohne Vielfalt denkbar. Wo die Vielfalt fehlt, wird es eindimensional und manipulativ, wie es Herbert Marcuse schon 1964 erklärt hat.[1] Vielfalt begrenzt also die Manipulierbarkeit des Menschen.
V Schlussbemerkung
[45] Nachdem ich nun die einzelnen Bestandteil der Definition von „europäischer Identität“ erläutert habe, wiederhole ich noch einmal diese Definition: „Europäische Identität ist das individuelle und gemeinsame Leben, Pflegen und Gestalten der Vielfalt in Europa, auf der Grundlage von Verständigung und gegenseitigem Respekt, über Grenzen hinweg.“
[46] Diese „europäische Identität“ verträgt sich sehr gut mit dem Nationalstaat als politischer Grundeinheit Europas, sie verträgt sich sehr gut mit den Regionen, egal, ob sie nun als Bundesland Teil eines Bundesstaates sind, oder ein bestimmtes Ausmaß an Autonomie wie in Spanien besitzen, sie verträgt sich sehr gut mit den Kulturräumen, die heutzutage jede größere Stadt ausbildet. Sie verträgt sich sehr gut mit positiven Beiträgen und Zutaten aus anderen Weltregionen.
[47] „Europäische Identität“ äußert sich im praktischen Tun, so wie ich sie definiert habe, in einem friedlichen Tun, das die Vielfalt bewahrt und fördert. Und die Vielfalt ist, das sei wiederholt, unsere Überlebensgarantie. Natürlich müssen wir genau hinschauen: nicht alles, was in kulturellen Prozessen entsteht und neutral betrachtet zur Vielfalt dazugehört, ist positiv. Deswegen ist der anleitende Werte-Begriff der Nicht-Diskriminierung so wichtig.
[48] Deshalb schließe ich mit einer Ergänzung der Definition: „Europäische Identität ist das individuelle und gemeinsame Leben, Pflegen und Gestalten der Vielfalt in Europa, angeleitet durch das Prinzip der Nicht-Diskriminierung, auf der Grundlage von Verständigung und gegenseitigem Respekt, über Grenzen hinweg.“
Dokumentation:
[1] Herbert Marcuse: One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society, Beacon Press: Boston 1964 (auf Deutsch 1967).
Der Blogeintrag dokumentiert meinen Eröffnungs-Vortrag auf der Internationalen Konferenz „Immaterielles Kulturerbe im Donauraum – ein nationales Gut oder ein Beitrag zur europäischen Identitätsfindung?“ (Institut für virtuelles und reales Lernen in der Erwachsenenbildung an der Universität Ulm – ILEU), 13.7.2018.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert): Wolfgang Schmale: In Vielfalt geeint – Über Europäische Identität. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/in-vielfalt-geeint-ueber-europaeische-identitaet, Eintrag 13.07.2018 [Absatz Nr.]. (Stand: 19.01.2021)