I Einleitung – Die Bilanz ist negativ
[1] EU-Europa erhielt seinen Rhythmus im Jahr 2019 durch die Wahlen zum Europäischen Parlament, durch die Konstituierung der neuen Kommission und die Neubesetzung weiterer Spitzenämter (EU-Außenbeauftragter, Präsident des Europäischen Rats, EZB-Präsidentin, erstmals eine Europäische Generalstaatsanwältin).
[2] Das ganze Jahr über bestimmte auch der Brexit das Geschehen.
[3] Mehrere Regierungen zerbrachen vor dem Ende der Legislaturperiode (Spanien, Österreich, Italien, Rumänien; Vereinigtes Königreich). Die Regierung Maltas steht vor dem Aus. In Österreich, Rumänien und Malta gab und gibt es Zusammenhänge mit verschiedenen Spielarten von Korruption (Rumänien), Förderung von Korruption (Ibiza-Affäre in Österreich) bis hin zu Verstrickungen in einen Auftragsmord – Malta, an der Journalistin Daphne Caruana Galizia. In Spanien scheiterte eine reguläre Regierungsbildung zunächst am Ego zweier Politiker (Sanchez, Iglesias), sodass nach April 2019 bereits im November 2019 wieder gewählt werden musste. Die italienische Regierung scheiterte am Ego Salvinis, zugleich war sie, wie in Rumänien, inhaltlich am Ende, wurde aber ohne Neuwahlen durch eine Koalition zwischen Cinque Stelle und Partito Democratico ersetzt. Diese Koalition hätte von Anfang an nach den Wahlen vom März 2018 vereinbart werden können, da sie über knapp mehr als 50% verfügt hätte, doch auch in dem Fall stand das Ego der Parteiführer (Renzi, Grillo bzw. Di Maio) dagegen.
[4] 2019 nahm die Aushöhlung der Demokratie in Europa also ihren Fortgang. Überall in Europa, nicht nur in den zunehmend autoritär regierten Staaten, werden die Bürger*innen immer mehr zu Untertanen abgewertet.
[5] Der Antisemitismus erreichte ein neues Ausmaß. Seit dem Bericht der Europäischen Grundrechteagentur zum Tag der Menschenrechte 2018 (10.12.2018) hat sich die Situation weiter verschlimmert.
[6] Rechtsextreme haben bei Wahlen teils hinzugewonnen, teils verloren, in Ländern wie Spanien sind sie binnen Jahresfrist zu einer politischen Kraft geworden. Besonders in Deutschland ist das Gewaltpotenzial und die tatsächliche Ausübung von Gewalt durch Rechtsextreme besorgniserregend groß geworden. Ebenso besorgniserregend groß ist deren Unterstützung durch die verbalen Förderer. Rassismus und Hassrede gehören erneut zum Alltag in Europa. Die Würde des Menschen wird allenthalben angetastet.
[7] Zukunftsdebatten, die dringend nötig wären, werden von hektischer Politik und Alleingängen wie jenen des französischen Präsidenten Macron ausgebremst. Kein einziger Konfliktherd in der geografisch-historischen Nachbarschaft Europas konnte einer Befriedung näher gebracht werden. Nicht einmal für den Westbalkan wurde eine realistische und hoffnungsvolle Beitrittsperspektive entwickelt – im Gegenteil.
[8] Es gibt zahlreiche Anzeichen, dass auf die europäische Integrationsgeschichte der Nachkriegszeit nun eine längere Phase der europäischen Desintegration folgt.
[9] Auf der Habenseite können die „Fridays for Future“ und zum Beispiel die Bewegung der Sardinen in Italien genannt werden. Gesellschaftlicher Druck bewegt etwas. Macht dies die Europäische Union, die Europäische Einheit damit wieder zu einer Sache der Bürger*innen? Dass in den meisten EU-Ländern dennoch Rechtsstaatlichkeit weitgehend funktioniert, ist oft den Obersten und Verfassungsgerichtshöfen zu verdanken, außerdem dem Europäischen Gerichtshof und einigen Staatspräsident*innen. Das Europäische Parlament ist bei der rechtlichen Umsetzung des in Art. 2 EU-Vertrag enthaltenen Gesellschaftsmodells die treibende Kraft.
II Die EU und ihre Organe
[10] Institutionell gestaltete sich das EU-Jahr holprig. Nachdem sich 2014 das recht informelle „Spitzenkandidat*innensystem“ bewährt und der Europäische Rat dieses, wenn auch leicht zähneknirschend, akzeptiert hatte, wurde verabsäumt, für die EU-Wahlen 2019 zwischen den beiden Akteuren ein Einvernehmen herzustellen. Sowohl der Europäische Rat wie die europäischen Parteien im Europaparlament gingen hölzern und mit der geringst möglichen Intelligenz vor. Da das Spitzenkandidat*innensystem zwar nicht vorgesehen, aber auch nicht ausgeschlossen ist, dürfte klar gewesen sein, dass nur eine geschmeidige Vorgehensweise zum Erfolg geführt hätte. Die Spitzenkandidat*innen waren außerdem recht offenkundig für die EU-Wähler*innen nicht so interessant, dass sie diesen einen plebiszitartigen Rückhalt gegeben hätten.
[11] Die Konfrontation zwischen den beiden EU-Institutionen zeitigte nur ein Ergebnis – die Beschädigung vorab der neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Das Vorgehen des Europäischen Rats war politisch unklug und bestätigte nur die Kritik am Demokratiedefizit der EU. Die europäischen Parteien waren ihrerseits keineswegs politisch klüger, sie hätten die Sache mit geeigneten Spitzenkandidat*innen für die Wahlen retten können. Im Grunde haben sie bei deren Aufstellung nicht weniger Hinterzimmerpolitik betrieben als der Europäische Rat.
[12] Vielleicht hatte das Ganze dennoch ein Gutes; um im EU-Parlament eine Mehrheit zu bekommen, musste die designierte Kommissionspräsidentin in ihrem Programm ein breites Spektrum an Zielen angehen, das auf diese Weise ausgesprochen ‚grün‘ wurde. Die Grünen haben sich dennoch nicht dazu entschließen können, der Präsidentin ausdrücklichen Rückhalt zu geben. Der ‚Gegner‘ des Parlaments ist aber erfahrungsgemäß weniger die Kommission denn der Europäische Rat, wo inzwischen regelmäßig Hohe Messen des nationalen Alleingangs zelebriert werden.
[13] Als dennoch positives Fazit bleibt, dass die Kommission ebenso wie die EZB erstmals eine Präsidentin haben und die Kommission mehr Kommissar*innen als bisher. Ebenso wurde für die neue Europäische Generalstaatsanwaltschaft die Rumänin Laura Codruţa Kövesi als Generalstaatsanwältin ernannt.
III Brexit
[14] Der Brexit war wiederholt Thema dieses Blogs: Brexit 21.2.2016, Brexit 12.6.2016, Brexit 24.6.2016, Brexit 2.7.2016, Brexit 17.1.2017, Brexit 23.9.2017.
[15] Nun scheint es entschieden; Boris Johnson hat mit seinem simplen Wahlprogramm „Get Brexit done“ im Dezember haushoch gewonnen und das nochmals einseitig geänderte Brexitabkommen mit der EU im Unterhaus durchgebracht. Die einseitige Änderung betrifft den Umstand, dass eine Verlängerung der Übergangsphase bis zu einem gültigen Abkommen, das die zukünftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU regelt, nicht erlaubt ist. Ein No-Deal-Brexit bleibt daher eine Option, von der Johnson ggf. Gebrauch machen wird, weil sie mangels substanzieller Argumente sein einziges politisches Mittel mit ‚Überzeugungskraft‘ darstellt.
[16] Würde eine Win-Win-Situation für UK und EU ehrlich angestrebt, müsste eingestanden werden, dass sie sich nicht allzu sehr von der Situation der Mitgliedschaft in der EU unterscheiden kann.
[17] So oder so, wird uns der Brexit auch noch in zehn und zwanzig Jahren beschäftigen. Ein „Brexit done!“ wird es nicht geben, weil der Austritt aus der EU eine lange Reihe von ungelösten Problemen nach sich zieht. Die Risiken für das Vereinigte Königreich sind hoch, da der Nordirlandkonflikt neu aufbrechen könnte und Schottland ernsthafter als 2014 die Unabhängigkeit betreiben könnte. Das „Vereinigte“ Königreich kam ja nicht freiwillig zustande, sondern war die Folge englischen Kolonialismus in der allernächsten Nachbarschaft (das ist die sehr kritische Lesart der Geschichte der Inseln, die die Tories freilich nicht teilen) – angesichts des hohen Wertes, den alle britischen und irischen Regionen der Geschichte zumessen, scheint die gewaltsame Vereinigung – sprich: das „Legitimationsdefizit“ der „Vereinigung“ – immer mehr in den Vordergrund zu rücken.
[18] Dieses implizite „Wir sind nicht ihr!“ bzw. „Ihr seid nicht wir!“ wird in verschiedenen Ländern Europas lauter oder war schon lauter geworden, wie die vielen Neologismen mit dem Wortbestandteil „exit“ belegen. Plötzlich ist die „historische Legitimität“ von Staaten wieder auf der Tagesordung. Den Zerfall Jugoslawiens zu studieren, ist sehr lehrreich – und man sage nicht, das sei ja der Westbalkan gewesen, der ganz anders sei als die westliche Hälfte Europas. Erspart man sich politisch die gründliche Abwägung, ob die Gemeinsamkeiten in einer Union oder im selben Staat nicht doch die vermeintlichen Nachteile überwiegen, erscheint es unmöglich, dies später nachzuholen.
[19] Jede unterdrückte öffentliche Debatte um solche Fragen rächt sich später. Leider geht Europa die Kunst des öffentlichen Debattierens, wo die Bürger*innen die Hauptredner*innen sind, verloren. Die einen („Populisten“) dampfen die Bürger*innen zum „Volk“ ein, dessen Stimme sie dann vorgeben zu sein, sodass das „Volk“ selber gar nicht mehr reden muss [s. Volk – Geschichte seiner Zurichtungen]. Die anderen interessiert nur, was aufregt und Quote bringt, die nächsten ersticken alles, was nicht zum Kalkül passt. Von einer Debattenkultur kann keine Rede mehr sein.
[20] In allen europäischen Ländern verbreitern sich Gräben, entweder zwischen historischen Regionen, in denen die Lust auf einen eigenen Staat wächst, oder zwischen politischen bzw. ideologischen Grundhaltungen, oder zwischen Stadt und Land, oder zwischen sozialen und ökonomischen Großgruppen. Wie sähe es in vielen Ländern ohne die EU, ohne deren kittende Wirkung aus?
IV Schwache „starke Männer“ an der Regierung
[21] Zurück zu den in der Einleitung bereits erwähnten Egomanen: Die europäische Politik leidet an einem ganz traditionellen Übel: Zuviele männliche Regierungschefs halten sich für stark und verkennen ihre tatsächliche Schwäche, die aus der falschen Selbsteinschätzung resultiert.
[22] Auch außerhalb Frankreichs wurde der 2017 gewählte Emmanuel Macron als europäischer Hoffnungsträger angesehen. Endlich wieder einmal ein Politiker, der Visionen für Europa hat. So dachte auch ich.
[23] Lassen wir es dahingestellt sein, ob Visionen der Politik wirklich gut tun. Das Kennzeichen der Entwicklung Europas nach Gründung gemeinsamer Institutionen war nun gerade nicht, dass man Visionären ob der Strahl- und Überzeugungskraft ihrer Ideen folgte, sondern indem man sich zusammensetzte und nach gemeinsam gangbaren Wegen und Problemlösungen suchte.
[24] Das war und ist mühsam, und den Nimbus von Held*innen gewinnt dabei niemand. Nun hat sich der französische Präsident, womöglich wegen der sich häufenden innenpolitischen Misserfolge in Frankreich, zunehmend zum Einzelgänger entwickelt. Die Nato für hirntot zu erklären, rüttelt niemanden auf, es zeitigt nur ein kollekitves Kopfschütteln. Es gibt in Europa wohl auch kein Land, das die US-amerikanische Führung in der Nato durch eine französische in einem EU-Verteidigungssystem ersetzen möchte.
[25] Macron konterkariert alle Bemühungen, zu einer durch mehr Gemeinsamkeit geprägten europäischen Außenpolitik zu kommen. Natürlich betreiben alle EU-Mitgliedstaaten ihre eigene Außenpolitik, weil sich darin ihre Souveränität zeigt, aber Macron will mehr, nämlich die außenpolitischen Koordinaten verschieben. Sollte das sinnvoll sein, kann das nur akkordiert geschehen, und dazu muss man die Mühen umfassender Beratungen auf sich nehmen.
[26] Es ist sehr in Mode gekommen, die Kunst der Diplomatie durch starke Sprüche zu ersetzen. Positive Resultate erreicht damit niemand, weder Trump noch Bolsonaro noch Macron noch sonst einer. Innenpolitisch sind brutale Ausdrucksweisen teilweise „erfolgreicher“, siehe Salvini, Kickl, Orban, Kaczyński, Marine Le Pen, Gauland, Höcke etc. – der Effekt ist aber innen- wie außenpolitisch derselbe: Spaltung, Aufhetzung.
V Orientierungslose EU?
[27] Das Arbeitsprogramm der neuen EU-Kommission enthält ebenso wichtige wie gute Punkte. Aber wird das ausreichen, um den Glauben an Europa, vorallem in Gestalt der EU zu erhalten? Ursula von der Leyen sprach in ihrer Rede vor dem EU-Parlament am 27.11.2019 den Satz: „Weil wir in Europa vom Menschen her denken“. Gemeint waren damit die vermeintlichen und durchaus objektiven Bedürfnisse der Menschen in der Zeit von Klimawandel, Digitalisierung etc.
[28] Aber was heißt es genau? Was fehlt, ist eine breite gesellschaftliche Debatte, die die zunehmenden Proteste in verschiedenen Betreffen des Lebens genauer unter die Lupe nimmt. Im Moment handelt es sich auf der EU-Ebene wie bei den nationalen Politiken um Flickwerk. So richtig die geplanten Maßnahmen zum Klimaschutz, zum Erhalt der Artenvielfalt, zur Digitalisierung usw. sind, so sehr wird über Menschen und ihre Lebensverhältnisse entschieden, so wenig wird mit den Betroffenen debattiert.
[29] Die „Gelbwesten“ mögen ein weitgehend auf Frankreich beschränktes Phänomen sein und damit zu tun haben, dass die französische Regierung über die Leute drüberfährt, das Grundproblem, dass Klimaschutz zu teuer ist als dass er von den Bürger*innen mit kleinen Einkommen mitbezahlt werden könnte, ist überall dasselbe. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit stellt sich neu – nicht mehr nur in Gestalt des Generationvertrags bei den Pensionen oder Renten, in Gestalt des Mindestlohns, in Gestalt des angemessenen Arbeitslosengeldes. Vielmehr geht es darum, dass sich der Großteil der Berufe nachhaltig verändern wird, Wissenschaft, Schule und allgemein Bildungswesen eingeschlossen.
[30] Es geht darum, wie wir insgesamt und wie bestimmte gesellschaftliche Großgruppen morgen werden leben können. Überall zeigt sich beispielsweise, dass sich Bauern und Fischer zunehmend kulpabilisiert fühlen und ihre unentbehrliche Arbeit nicht mehr wertgeschätzt wird. Sie stehen in der öffentlichen Meinung für – bringen wir es auf die Slogans der letzten Zeit – Glyphosat, Bienensterben, Massentierhaltung, Massentötung von männlichen Küken, brutale Kastration von Ferkeln, Überfischung usw. Doch wer ist an dem System schuld?
[31] Die zeitgenössische Gesellschaft ist immer mehr auf menschliche Dienste wie Pflege, Erste Hilfe, Katastrophenhilfe und vieles mehr angewiesen, zugleich werden die Helfer*innen immer öfter Opfer von Aggression, Beschimpfung, Behinderung bei der Ausübung ihrer Arbeit. Das, was Gesellschaften unausgesprochen zusammenhält, reißt an immer mehr Stellen ein. Es handelt sich um Symptome, deren Ursachen zu wenig öffentlich verhandelt werden. Welche Gesellschaft wollen wir?
[32] Das ist ein ebenso europäisches Thema, wie die Demokratie ein europäisches Thema ist.
[33] Was also im EU-Programm fehlt, sind Maßnahmen für eine große EU-weite gesellschaftliche Debatte über realistische zukünftige Lebensweisen und wie wir unser ökonomisches Auskommen finden. Wie die europäische Demokratie geschützt und weiter entwickelt werden kann.
[34] Die Digitalisierung, die vielfach eine Robotisierung bedeutet, ist unausweichlich. Braucht es ein Grundeinkommen oder anderes, um die ökonomischen Folgen aufzufangen? Könnte unser Leben wieder menschlicher werden, weil wir wieder mehr Zeit für uns haben, Stress und permanente Beschleunigung aus dem Alltag herausnehmen können?
[35] Die Chancen der Digitalisierung werden zu kurzsichtig diskutiert. Viele Menschen könnten z.B. von Autonomem Fahren profitieren: alte Menschen, die heute ihren Führerschein abgeben müssen; Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen könnten ein Stück unabhängiger werden; der ländliche Raum würde von autonomer Mobilität, die die Nahversorgung einschließt, enorm profitieren. Gefördert wird aber öffentlichkeitswirksam die Batterieherstellung – weil hier in Zukunft ein guter Teil der Wertschöpfung in der Autoherstellung passiert. Die Vorteile der Digitalisierung für die Lebensweise geraten ins Hintertreffen.
[36] Die Stunden, die das Pflegepersonal in Krankenhäusern heute vor dem PC mit Verwaltungsaufgaben verbringt, könnten durch geeignete Software und Spracheingabe der für die Dokumentation geforderten Fakten und Infos eingespart werden, weil sich diese Tätigkeit während des Gangs vom einen Zimmer zum nächsten erledigen lässt. Überhaupt wird das Potenzial der Umwandlung von Sprechen in digitale Dokumentation, was das Sitzen vor dem PC und das Eintippen überflüssig macht, viel zu wenig vorangetrieben, obwohl hier viel Zeit zu sparen ist, die den Patient*innen oder allgemein Klient*innen zugute kommen kann.
[37] Nicht, dass das nicht diskutiert würde, aber es ist keine öffentliche europäische Debatte. Die muss angeschoben werden. Das EU-Parlament versucht sich darin mit einiger Beständigkeit, aber es ist ihm bisher nicht gelungen, diese breite europäische öffentliche Debatte anzuschieben. Das in letzter Zeit gerne und oft zitierte Wort vom „European Way of Life“ kaschiert ja nur, worum es im Kern geht. Was der künftige European Way of Life sein soll oder sein kann, muss erst herausgefunden werden. Und zwar jetzt.
[38] Die Orientierungslosigkeit der EU bezieht sich auch auf die Frage, inwieweit „europäische Einheit“ überhaupt noch ein ernsthaftes Ziel ist? Zur Zeit gibt es trotz großer Mengen an offiziellen Erklärungen und Westbalkangipfeln keine Erweiterungsstrategie, die den Namen Strategie verdient. Den Westbalkanstaaten, teils Beitrittskandidaten, teils Aspiranten auf diesen Status, sagt man, sie mögen bitte zuerst ihre Probleme lösen – etwa die zwischen Serbien und Kosovo – und dann könne man voranschreiten.
[39] Für manche mag sich das ganz vernünftig anhören, warum sollte die EU freiwillig ungelöste Fundamentalprobleme ‚importieren‘? Reicht nicht der ungelöste Zypernkonflikt, zum Beispiel? Nun hatten die Länder, die sich zuerst zur EGKS, dann zur EWG und zur EG zusammenschlossen, keineswegs ihre Probleme gelöst, bevor sie sich zusammentaten. Die Einbindung Deutschlands diente eben dem Zweck der Einbindung und Konfliktvorbeugung. Die sechs Länder (BeNeLux, Deutschland, Frankreich, Italien) taten sich zusammen, um Probleme gemeinsam im selben Rahmen zu lösen und um Probleme, wie sie die jüngste Geschichte gezeitigt hatte, möglichst von vorneherein zu vermeiden. Heute traut sich die EU das nicht mehr zu. Früher gab es da mehr Selbstvertrauen.
Auch lesenswert: Strategiepapier zur Entwicklung der EU von der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert): Wolfgang Schmale: Europa 2019 – Eine Bilanz. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europa-2019-bilanz, Eintrag 28.12.2019 [Absatz Nr.].
Lieber Wolfgang, danke für diese Analyse. Ich stimme dem Meisten zu, vor allem im Abschnitt zur Orientierungslosigkeit der EU. Wir brauchen dringend Analysen und eine breite Stimme dazu, wie wir Zukunft gestalten wollen; überhaupt muss der Zukunftsdiskurs mit jenen Themen – Klima, Umwelt, Pflege, Digitalisierung (die alle hin zum Bürger und Menschen führen) – geführt werden. Ich bin mir jedoch ob des Punktes „Desintegration“ nicht so sicher, ob es sich nicht „nur“ um die tiefste kulturelle Krise der EU, lösbar nach mehr oder weniger erlernten Mustern, handelt. Wir werden sehen!
Weiterführend zu dieser Diskussion ein Artikel in der Presse, der hier anknüpfen möchte: „Das prdoduktive Paradox EUropa – die EU als Risikogemeinschaft“: https://www.diepresse.com/5655399/das-produktive-paradox-europa.